Jugendfreund von Küng: «Mit seiner Theologie hat er uns Priestern geholfen, zu den Leuten zu kommen»

Gerold Beck (84) ist Hans Küngs Jugendfreund. Im Interview mit kath.ch erzählt der Kaplan von Sursee LU mal nachdenklich, mal heiter-ironisch über seine Erlebnisse mit ihm. Mit Hans hat er Kirchengeschichte erlebt. Und: Nicht viele können behaupten, mal auf den Schultern eines Jahrhundert-Theologen gesessen zu haben.

Vera Rüttimann

Herr Beck, was ging Ihnen durch den Kopf, als im Gottesdienst in der Kirche in Sursee die Totenglocke für Hans Küng läutete?

Gerold Beck: Ich habe seinen Tod kommen sehen. Ich fühlte Dankbarkeit. Mich verbindet ja eine lange Geschichte mit ihm.

Wenn Sie zur Kirche gingen, schauten Sie immer auf das Schuhgeschäft Küng. Was ist das für ein Haus?

Beck: Es ist Hans Küngs Elternhaus. Hans’ Grossvater baute dieses Schuhgeschäft auf. Dieses Haus hat eine lange Geschichte.  Da war früher der «Gasthof zur Krone» drin. Deshalb sieht man noch heute dieses wunderbare Wirtshausschild an der Frontseite des Hauses. Sursee war ein Städtchen, wo die Reisenden einst Station machten auf dem Weg vom Elsass nach Italien. Deshalb gibt es hier so viele Gastwirtschaften.

Kannten Sie Hans Küngs Familie?

Beck: Ich habe die Eltern von Hans und alle Geschwister sehr gut gekannt. Bis noch vor wenigen Jahren führte seine Schwester Rita und ihr Mann Bruno Frei dieses Schuhgeschäft. Hier werden noch heute Schuhe verkauft.

Wie haben Sie Hans Küng kennen gelernt?

Beck: Ich bin sieben Jahre jünger als er. Sein Bruder Georges war mit meinem Bruder in der gleichen Klasse. In den 1940er Jahren war Hans in der Jungwacht Sursee, ich war bei der Pfadi. Wir hatten aber den gleichen Präses. Wir sind immer zusammen am Sonntag ins sogenannte Präses-Lokal gegangen, das sich im Haus des damaligen Pfarrhelfers und späteren Stadtpfarrers Franz-Xaver Kaufmann befand.

«Schon früh zeigte sich sein Führungstalent.»

Wie haben Sie Hans Küng als Jugendlicher erlebt?

Beck: Schon früh als junger Mann ist er als sehr gläubig aufgefallen. Ein Beispiel: Er ging zur Kommunion, wenn niemand hinging. Vor dem Konzil war der Empfang der Kommunion noch nicht so selbstverständlich, weil vorher gebeichtet werden musste. Ich habe ihn als jemanden wahrgenommen, der schon als sehr jung seinen eigenen Weg verfolgt hat.

Dann zeigte sich schon früh sein Führungstalent. Vor allem, als er Scharführer der Jungwacht Sursee war. Da gab es diese Szene: Wenn sich die Jungwächtler nach dem Gottesdienst auf der Treppe vor der Kirche versammelten, sagte Küng, im militärischen Tonfall von damals: «Jungwacht Sursee, Achtung! Still! Treu Jungwacht!» Dann riefen alle im Chor zurück: «Jungwacht treu! Abtreten!» So lief das damals. 

1951 ging ich dann in die Stiftsschule nach Einsiedeln. Hans ging in die Kantonsschule nach Luzern. Wir blieben aber auch dann stets im Kontakt.

War für Sie klar, dass er Priester werden wollte?

Beck: Ihm war das länger schon klar. Klarer jedenfalls als mir (lacht). Er wurde in ein religiöses Elternhaus hineingeboren. Vor allem seine Mutter hat ihn hierin stark geprägt. In seiner Verwandtschaft gab es lauter gescheite Leute: Da tummelten sich Anwälte, Politiker und sogar Immensee-Missionare. Bei ihm war also ziemlich schnell entschieden, welches Studium er einschlagen wollte. Obwohl: Er hatte auch mal ein Auge auf eine Frau geworfen. Ich kannte diese Story. Aber er sagte glasklar: Ich werde katholischer Priester!

«In seiner Verwandtschaft gab es lauter gescheite Leute.»

Wie war Ihre erste Begegnung mit Hans Küng in Rom?

Beck: 1950 fand die schweizerische Jugendwallfahrt in Rom statt. Es war ein Heiliges Jahr. Ich wollte da unbedingt hin. Hans studierte schon seit zwei Jahren an der Gregoriana in Rom Theologie. Um 21 Uhr stieg eine Gruppe Jungs aus Sursee in Luzern in den Zug nach Rom. Als wir in Roma-Termini ankamen, stand Hans schon am Perron. Mit dabei war auch der spätere Bischof Otto Wüst, ebenfalls ein Surseer. Wir besuchten Hans dann in seinem Zimmer in der Gregoriana. Dort zeigte er uns sein Wunderding: Seinen ersten Stimmrecorder. Wir staunten. Hans sagte uns: «Wir sind hier bei den Jesuiten. Die lehren uns predigen. Also müssen wir mit diesem Gerät üben!»

Wie war das mit den Schultern von Hans Küng?

Beck: Wir gingen am Sonntag alle zusammen zur Audienz mit Papst Pius XII. Das war damals eine grosse Figur. Ich sehe noch heute vor mir, wie sie ihn in seinem Thron in die Peterskirche hineingetragen haben. Aber erst mal sah ich gar nichts! Ich war mit 15 der Kleinste und der Jüngste. Stand da mit meinen Knickerbocker-Hosen. Hans stand neben mir in seiner roten Soutane und erbarmte sich. Er hat mich dann kurz entschlossen, wie er war, auf seine Schultern gehoben. Und dann konnte ich alles sehen! Das war für mich ein unvergessliches Erlebnis.

Sie trafen Hans Küng dann auch während des Konzils in Rom. Wie war das für Sie?

Beck: Zunächst: Ich wollte nach Rom, weil sich dort ein Weltereignis anbahnte. Als ich dort mit dem Theologiestudium begann, rief Papst Johannes der XXIII. dann tatsächlich das Zweite Vatikanischen Konzil ein. Alle gescheiten Theologen, von Joseph Ratzinger bis Karl Rahner, versammelten sich dort. Mit denen konnten wir jeweils in den Kaffeepausen diskutieren. Das war toll! Und dann habe ich miterlebt, wie Hans zum theologischen Berater beim Konzil wurde.

Mit ihm zusammen erlebte ich dort eine Aufbruchsstimmung sondergleichen. Wir haben erlebt, wie Papst Johannes XXIII. rief: «Macht das Fenster auf in der Kirche, wir brauchen frische Luft!» Und immer wieder war da sein «Aggiornamento!» (Beck holt mit der Hand aus, klopft mit seinem Stock energisch auf den Tisch). Die Kirche à jour setzen, darum ging es. Darum geht es noch heute.

Und dann schrieb Küng eines seiner bekanntesten Bücher …

Beck: Das Buch «Konzil und Wiedervereinigung». Für mich eines seiner besten. In diesem Buch hat er Ideen entwickelt, wie man unter Christen das Gemeinsame finden kann. Das hatte eine unerhörte Wirkung. Durch Bücher wie dieses wurde er weltweit bekannt. Damals ging ich nach London, um Englisch zu lernen. Auch im Hyde-Park hörte ich die jungen Leute über den «swiss young theologian Hans Küng» sprechen.

«Ein Haudegen wie er war, scheute er keine Auseinandersetzung.»

Die Ideen des Konzils blieben dann stecken. Wie war das für Hans Küng?

Beck: Kurz und knapp gesagt: Er hat ja schon während des Konzils gemerkt, dass es durch konservative Kräfte Opposition gab.

Hans Küng erlebte «68» an der Uni Tübingen hautnah mit. Und er holte Joseph Ratzinger.

Beck: Als er in Tübingen schon Dekan war, holte er Joseph Ratzinger nach Tübingen. Er sah in ihm einen hochbegabten und intelligenten Menschen. Die 68er-Revolte hielt dieser empfindsame Mensch jedoch nicht lange aus. Er ging nach Regensburg, wo es ruhiger zuging. Ganz anders Hans. Ein Haudegen wie er war, scheute er keine Auseinandersetzung. Dabei half ihm auch sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. So ging Ratzinger den Weg der Hierarchie, und Hans nahm einen anderen Weg.

Was war der «andere» Weg?

Beck: Er hätte Bischof und Kardinal werden können. Die Kurie, das alles hat ihn nicht interessiert. Er wollte Theologie mit Leidenschaft betreiben. Er wollte reisen und Bücher schreiben. Darin zeigte er Rom Alternativen auf, wie sich die Kirchen erneuern kann. Erst recht, nachdem Rom ihm 1979 die Lehrerlaubnis entzogen hat.

Wo haben Sie sich getroffen, wenn er sich jeweils in Sursee aufhielt?

Beck: Wenn man Richtung See geht, kommt man zu einem Moränenhügel aus der Eiszeit. Dort oben steht die Kapelle Mariazell. Daneben befindet sich die Kaplanei, die ich bewohne. Beides hat Hans immer wieder aufgesucht. Von dort oben sieht man zu seinem Haus am Sempachersee, das Hans jeweils im Sommer aufsuchte. Dort hatte er seinen Frieden und konnte jeden Tag schwimmen. Und Gäste empfangen. Ich war auch oft dort.

Zu welchem Theologen-Typ zählen Sie Küng?

Beck: Hans war kein abgehobener Theologe, der sich in der Schreibstube verschloss. Er war ein Praktiker. Seine Theologie war auf die Seelsorge ausgerichtet. Man hatte sowieso immer den Eindruck, er sei ein Seelsorger. Mit seiner Theologie hat er uns Priestern geholfen, zu den Leuten zu kommen.

Sein Stil und seine Herangehensweise waren ganz und gar unüblich für einen Fundamentaltheologen. Unter ihnen war er ein Exot. Darum stiessen seine Bücher auf ein solch grosses Interesse, weil man das Gefühl hatte, das es etwas zu tun hatte mit der Praxis der Kirche.

Haben Sie ihn in Tübingen in den letzten Jahren noch einmal besucht? Wenn ja: Wie ging er mit seiner Krankheit Parkinson um?

Beck: Als Felix Gmür Bischof wurde, reiste ich mit ihm vor zehn Jahren nach Tübingen zu Hans. Mir war es wichtig, dass sich die beiden kennen lernten. Hans war da schon von Parkinson gezeichnet. Diese Krankheit war für ihn nicht leicht.

Worüber haben Sie mit ihm bei diesem Besuch gesprochen?

Beck: Es war die Zeit, in der er sich stark mit dem Thema Exit befasste. Gemeinsam mit seinem Freund, dem Rhetorik-Professor Walter Jens, der in Tübingen in seiner Nähe wohnte, gab er das Buch «Menschenwürdig sterben» heraus. Hans war es wichtig, selbstbestimmt sterben zu können. Felix Gmür und ich sagten zu ihm: «Viele Leute schätzen dich, aber diesen Entscheid können nicht alle nachvollziehen.» Hans antwortete: «Andere haben Freude, dass auch ein gläubiger Christ diese Meinung haben kann.» Er hatte immer einen eigenen Kopf.

«Nein, resigniert und verhärtet war er überhaupt nicht.»

Der Herder Verlag gab dann seine gesammelten Werke heraus. Was hat ihm das bedeutet?

Beck: Hans fasste neuen Lebensmut. Zu jedem der 24 Bände verfasste er einen aktuellen Kommentar. Der letzte Band erschien im Herbst 2020 unter dem Titel «Begegnungen». Hans war motiviert, zu leben.

Hat sich Hans Küng am Ende seines Lebens mit Rom versöhnt?

Beck: Er war von Papst Franziskus sehr angetan. Schon bald nach seiner Wahl zum Papst hat Hans ihm Bücher von ihm geschickt. Franziskus schickte prompt ein Dankesschreiben. Dass er mit diesem Papst ein positiv-konstruktives Verhältnis aufbauen konnte, das hat ihm wahnsinnig gutgetan.

Nein, resigniert und verhärtet war er überhaupt nicht. Aber dass er von Rom bis zum Schluss seines Lebens nicht rehabilitiert wurde, das hat ihm schon nicht gepasst.


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