«Richtiges Schweigen muss gelernt sein»

Marcel Geisser (68) meditiert, seit er 16 Jahre alt ist. «Meditation ist für mich zu einer inneren Haltung geworden», sagt der Zen-Meister und Leiter des Haus Tao in Wolfhalden (AR).

Alice Küng

Er trägt ein schwarzes Gewand. Seine Gestik ist ruhig, seine Sprache bedacht. «Einmal hat mich eine Frau am Flughafen angesprochen, als ich ganz ‹normale Kleider› getragen habe. Sie hat gefragt, ob ich Zen-Meister sei.» Marcel Geisser lächelt. Er wolle den Menschen nicht sagen müssen, was er ist. Er wolle «es» ausstrahlen.

Als Zen-Meister leitet Geisser das Haus Tao in Wolfhalden seit 35 Jahren. «Wir bieten hauptsächlich buddhistische Schweigemeditationen an. Diese dauern von einem Wochenende zu einem Monat.»

Wer die Stille sucht, ist im Haus Tao richtig. Um diese Stille aber aushalten zu können, brauche es eine gewisse Übung. Das sei anfangs nicht immer einfach. Aus eigener Erfahrung weiss Geisser: «Meditieren muss man lernen.»

Unbeantwortete Fragen

Geisser ist katholisch aufgewachsen. Religiös geprägt hat ihn vor allem seine Grossmutter. Sie nahm in regelmässig in die Kirche mit und zeigte ihm eine lebensnahe Art des Glaubens. «Schon früh war ich an spirituellen Fragen interessiert.»

Die Gespräche mit katholischen Theologen hätten ihn aber bald nicht mehr befriedigt. «Ich habe Dinge gefragt, die sie nicht beantworten konnten.» Seinen Frust darüber und seine Zerrissenheit liessen ihn auf die Suche nach Spiritualität gehen.

Getrieben auf der Suche

Mit 16 Jahren begegnete er der buddhistischen Meditation. Er war begeistert. «Anders als im christlichen Glauben geht es im Buddhismus um das Überschreiten der Dualität. Es geht um die direkte Erfahrung.» Kirchliche Institutionen seien oft reformbedürftig.

Die Entdeckung der Meditation habe sich für ihn wie Verliebtheit angefühlt. Dem ging er nach. «Ich war von einer inneren Sehnsucht getrieben.» Der Ostschweizer reiste durch Indien, Korea und Japan und fand in den Klöstern, wonach er suchte: Seinen inneren Frieden.

Zen-Meister ohne Zölibat

«Meditation ist für mich zu einer inneren Haltung geworden.» Jede Tätigkeit könne «meditativ» sein: Kochen, Gartenarbeit oder auch ein Gespräch. «So werden alltägliche Verrichtungen nicht minderwertig.»

Später begegnete er dem Zen-Meister Thich Nhat Hanh, der ihn zum Lehrer weihte. Zölibatär lebte er aber nie. Enthaltsamkeit sei ein Lebensstil für Mönche und Nonnen, aber nicht «notwendig» für Lehrer. «Mir war früh klar, dass das nichts für mich ist.»

Volksreligion versus Lehre Buddhas

Zurück in der Schweiz machte der gelernte Polymechaniker eine Ausbildung zum Psychotherapeuten. Daneben widmete sich Geisser der Aufgabe, den buddhistischen Weg mit der westlichen Kultur in Einklang zu bringen.

Dabei habe er zwischen der Lehre Buddhas und der buddhistischen Volksreligion unterschieden. «In den asiatischen Kulturen gibt es viel Aberglauben.» Als «kritischer Geist» löste er sich davon und machte Buddhas Lehre zeitgemäss. Eine Gemeinschaft bildete sich, in der beispielsweise die Gleichberechtigung wichtig ist.

Klosterähnlicher Alltag

1986 erwarb Geisser einen 300-jährige Riegelbau im Appenzellerland. «Das Haus ist oder wurde nach 35 Jahren intensiver Meditationspraxis ein Kraftort.» Einmal seien ähnlich viele Boviseinheiten gemessenen worden, wie bei der Kathedrale von Chartres in Frankreich.

Boviseinheiten sind eine Masseinheit, um energetischen Schwingungen eines Ortes zu messen. Bewohner hat das Haus keine. «Dafür ist es zu klein.» Während den Kursen ähnle das Leben im Haus aber einem Klosteralltag. «Wir kochen, essen und meditieren gemeinsam.»

Meditieren ist nicht gleich meditieren

«Meditation» und «Achtsamkeit» sind heute stark im Trend, auch in der Psychotherapie. Mit spiritueller Praxis habe das aber nichts zu tun. «Für Buddha ist Achtsamkeit die Voraussetzung, um in der Gegenwart sein zu können.» Es sei kein Selbstzweck, sondern die Grundlage für die Erforschung des eigenen Lebens und des eigenen Geistes.

Und darum gehe es Geisser in seinem Meditationszentrum. Mit anhaltendem Erfolg. Expandieren wolle er aber nicht. Im Gegenteil: «Ich versuche mich mit dem Alter mehr und mehr zurückzuziehen.» Für die Nachfolge ist gesorgt.


Selbstbeherrscht, enthaltsam und fastend: Ein Leben im buddhistischen Kloster

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