«Bei Freikirchen ist es in den Genen, dass sie das Evangelium verbreiten wollen»

Zürich, 20.6.18 Freikirchliche Gläubige sind sehr überzeugte und aktive Christen – und deshalb erfolgreich. Das sagt Stefan Schweyer. kath.ch hat den Assistenz-Professor an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel gefragt, was es mit dem Missionsdrang der Freikirchler auf sich hat.

Barbara Ludwig

Stimmt es, dass Freikirchen mehr Erfolg haben als Landeskirchen, deren Mitglieder entweder aussterben oder austreten?

Schweyer: Die gesamte Freikirchenlandschaft der Schweiz ist in den vergangenen 30 Jahren tendenziell gewachsen. Es gibt alles: Verbände, die schrumpfen, solche, die stagnieren, und Verbände, die stark wachsen. Unter dem Strich verzeichnen die Freikirchen insgesamt einen Zuwachs und sind vom Mitgliederschwund nicht so betroffen wie die Landeskirchen.

Ausserdem gelingt es den Freikirchen gut, viele Menschen für ihre Gottesdienste zu begeistern. Wie eine im Jahr 2011 publizierte Nationalfonds-Studie des Lausanner «Institut de sciences sociales des religions» zeigte, gehen an einem durchschnittlichen Sonntag doppelt so viele Gläubige in eine Freikirche als in einen reformierten Gottesdienst. Und das, obwohl von den Mitgliederzahlen her die Freikirchen verschwindend klein sind. Rund zwei Prozent der Schweizer Bevölkerung gehören einer Freikirche an.

«Das löst eine positive Dynamik aus.»

Das heisst, freikirchliche Gläubige sind in der Regel sehr überzeugt, sehr engagiert, besuchen regelmässig den Gottesdienst, lesen regelmässig die Bibel, beten regelmässig. Das löst eine positive Dynamik aus.

Sie glauben also, dass die Freikirchen wegen des überzeugten Auftretens ihrer Mitglieder Anhänger gewinnen und erfolgreicher sind als die Landeskirchen?

Schweyer:  Ja, aber natürlich im Vergleich mit einer Landeskirche, der 30 Prozent der Bevölkerung angehören, auf einem sehr viel tieferen Niveau. Auf einem Niveau von zwei Prozent ist es einfacher, erfolgreich zu sein. Hinzu kommt, dass die Landeskirchen von ihrem Konzept her eher darauf bedacht sind, ihren eigenen Nachwuchs zu behalten. Bei den Freikirchen ist es in den Genen drin, dass sie nicht nur Gemeinde für die eigenen Kinder sein wollen, sondern dass sie darüber hinaus aktiv das Evangelium verbreiten wollen.

Der Bekehrungsdrang scheint ja ein Merkmal von Mitgliedern von Freikirchen zu sein.

Schweyer:  Das stimmt. Im Hintergrund steht das Verständnis, dass der Glaube nicht etwas Selbstverständliches ist, sondern dass er mit persönlichen Erfahrungen, einer persönlichen Überzeugung verbunden sein soll. Der Glaube soll nicht nebensächlich sein. Vielmehr soll er aus Sicht der Freikirchen etwas sein, das in der eigenen Identität sehr weit vorne steht.

Aber wieso trifft man den Bekehrungseifer vor allem bei Freikirchlern an?

Schweyer: Weil die Freikirchen in einer Zeit entstanden sind, in der sie feststellten, dass viele Leute zur Kirche gehörten, aber keine überzeugten Christen waren. Sie waren – wenn man so sagen will – mit einer lauen Christenheit konfrontiert.

Wann war das?

Schweyer: Momente der Erweckung gab es immer wieder, auch zur Zeit der Reformation. Man denke etwa an die Täufer. Aber die grosse Erweckungsbewegung entwickelte sich im 19. Jahrhundert.

Und damals entstanden dann auch die Freikirchen?

Schweyer: Einige haben ihre Wurzeln in der Reformationszeit, andere in Erweckungsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Sie entstanden in einer Zeit, in der die gesamte Gesellschaft noch immer christlich und kirchlich geprägt war. Die Botschaft der Freikirchen lautete: Es reicht nicht, nur auf dem Papier Christ zu sein oder nur formal zur Kirche zu gehören. Man müsse mit Überzeugung Christ sein, forderten sie. Und dazu brauche es eine persönliche Entscheidung.

Heute gehören aber immer weniger Menschen formal zur Kirche. Der Kontext hat sich somit ziemlich verändert.

«Die Botschaft der Freikirchen aus dem 19. Jahrhundert auch nicht mehr gleich an wie damals.»

Schweyer: Aus diesem Grund kommt die Botschaft aus dem 19. Jahrhundert auch nicht mehr gleich an wie damals. Im vorletzten Jahrhundert konnten die Evangelisten und Erweckungsprediger sehr viel an christlichem Wissen voraussetzen bei ihren Zuhörern. Sie konnten sie dazu auffordern: «Nimm es ernst mit dem Christsein.» Heute ist der Kontext tatsächlich ein anderer. Wir haben es nicht mehr mit einem kirchlich geprägten Umfeld zu tun, sondern mit einer zugleich religiös pluralen und säkularen Gesellschaft.

Macht es das für die Freikirchen einfacher?

Schweyer: Wenn sie so bleiben, wie sie bislang waren, macht es das schwerer. Freikirchen müssen sich neu einstellen auf die Situation. Es gibt einige, die das bereits tun. Ich glaube, dass Freikirchen flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren können, weil sie häufig nicht so stark ausgebildete Strukturen haben.

Alle Kirchen, die evangelisieren wollen, sind mit dem gleichen Umfeld konfrontiert.

Schweyer: Das stimmt. Ich sage den Freikirchen auch gerne, dass die Abgrenzung gegenüber den Grosskirchen keinen Sinn mehr macht in der gegenwärtigen Situation. Denn wir haben eine gemeinsame Herausforderung.


«Viele Freikirchen kommen aus dem Nischendasein heraus»

 

 

 

 

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