Recht und Ethik sind nicht immer deckungsgleich

Zürich, 10.5.18 (kath.ch) Der 104-jährige Australier David Goodall will diese Woche in der Schweiz mittels Sterbehilfe aus dem Leben scheiden. Der katholische Genfer Theologe und Ethiker Alberto Bondolfi sagt in seinem Gastkommentar, warum Helvetia schläft.

Alberto Bondolfi*

Der «Fall Goodall» provoziert erneut Diskussionen nicht nur in der Schweiz, sondern auch in der Weltpresse. Dies hat vor allem mit der medialen Inszenierung, welche der 104-jährige Australier organisiert hat, zu tun. Die Suizidbeihilfe, die er sich in der Schweiz wünscht, um hier zu sterben, ist legal – vorausgesetzt, eine solche Hilfe wird einer Person gegeben, welche urteilsfähig ist. Und es dürfen keine finanziellen Gewinnabsichten dahinterstecken.

Die Gesetzesbestimmung, die in Art. 115 unseres Strafgesetzes verankert ist, gibt Anlass zu Diskussionen und zu Revisionsbemühungen. Letztere sind seit etwa zwanzig Jahre im Gange und wurden durch eine Entscheidung des Bundesrates 2011 «abgeschlossen». Die Schweizer Regierung entschied, auf eine ausdrückliche Regelung der organisierten Suizidhilfe im Strafrecht zu verzichten. Er will zugleich aber die Suizidprävention und Palliative Care weiterhin fördern, um die Anzahl der Suizide zu verringern. Soweit zur gesetzlichen Regulierung dieser Praxis.

«Ein säkularer Staat schützt das menschliche Leben.»

Recht und Ethik sind aber nicht immer und unbedingt deckungsgleich. Man kann sich weiterhin eine Reihe von Fragen moralischer Art stellen und diese werden kontrovers in unserer Gesellschaft gestellt und beantwortet.

Auch wenn man prinzipiell den Suizid nicht als moralisch akzeptabel findet, wie etwa das die katholische Kirche tut, impliziert ein solches Urteil noch nicht unbedingt, dass Suizidenten und ihre Helfer mit Zwang daran gehindert werden sollten.

Ein säkularer Staat schützt das menschliche Leben, lässt aber den einzelnen Mensch die Möglichkeit, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Diese liberale Grundeinstellung ist in der Schweiz mehrheitlich geteilt. Es bleibt trotzdem ein gewisses Unbehagen bestehen.

«Solche präzisierende Gebote fallen in den Bereich der Staatsaufgaben.»

Warum? Man kann beobachten, dass verschiedene Organisationen, angefangen von der Akademie der medizinischen Wissenschaften bis zu verschiedenen Sterbehilfeorganisationen, zusätzliche Kriterien und Normen für die Durchführung einer Suizidbeihilfe formuliert haben.

Diese Zusätze sind grossteils nachvollziehbar, weisen aber eine grundsätzliche Schwäche auf: Sie sind Ausdruck von Privatorganisationen. Solche präzisierende Gebote und Verbote fallen in den Bereich der Staatsaufgaben und sollten in gesetzlichen Bestimmungen verankert werden. Aber Helvetia schläft. (gs)

*Alberto Bondolfi ist emeritierter Professor für Ethik an der Universität Genf. Er war Mitglied der schweizerischen Nationalethikkommission für die Probleme der Humanmedizin.

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