Kirche in der Verantwortung: Sexueller Missbrauch führt zu schweren Traumata

Bern, 11.11.17 (kath.ch) Nach dem sexuellen Missbrauch durch eine kirchliche Person sieht es im Inneren des Opfers absolut dunkel aus. Diesem Zustand widmete sich ein Panel an der internationalen Konferenz «Abuse & Neglect» am Freitag in Bern. Die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) war mit einem eigenen Stand zum sexuellen Missbrauch vor Ort.

Georges Scherrer

Organisiert wurde der Kongress von der «European Society for Trauma and Dissociation (ESTD)» (Europäische Gesellschaft für Trauma und Pesönlichkeitsabspaltung). Im Rahmen eines Panels sprachen der Basler Bischof Felix Gmür und alt Abt Martin Werlen im Berner Kursaal zum Thema «Paradigmenwechsel: Von der kirchlichen Ehrlichkeit zu einer ehrlichen Kirche». Im Anschluss an die Referate fand eine Diskussion statt, in der sich beide Referenten den Fragen der anwesenden Traumatherapeutinnen und -therapeuten stellten.

Der Gedanke, dem Schicksal der Opfer nachzugehen, war mir gar nicht gekommen.

Zu Beginn der Konferenz führte der ehemalige Abt von Einsiedeln vor, wie er mit dem Thema konfrontiert worden war. Bis in die 1980er Jahre war das Thema sexueller Missbrauch durch Geistliche ein absolutes Tabu. Aufgrund der Berichterstattung durch die Medien in Deutschland und Österreich und aufgrund dessen, was in den Klostergängen geflüstert wurde, hellhörig geworden, befasste sich Werlen als Abt stärker mit dem Thema.

Opfer rückt langsam in die Wahrnehmung

Auch als Abt habe er vorerst den Standpunkt vertreten, zum Schutz des Klosters dürfe das Thema nicht an die Öffentlichkeit gelangen und auch nicht unter den Mitbrüdern verbreitet werden, so Werlen. Aufgrund von Vorkommnissen im Kloster Einsiedeln erliess dieses jedoch Richtlinien zum sexuellen Missbrauch, die 2002 von der Schweizer Bischofskonferenz übernommen wurden.

Je länger er sich aber mit dem Thema befasst habe, desto stärker sei ihm bewusst worden, wie grausam die Taten für die Opfer waren. «Der Gedanke, dem Schicksal der Opfer nachzugehen, war mir gar nicht gekommen», sagte Werlen rückblickend in Bern. Im März 2010 gelangte der Abt, der damals auch Mitglied der SBK war, über einen Beitrag für die «Neue Zürcher Zeitung» an die Öffentlichkeit und brachte die Angelegenheit auch für die katholische Kirche ins Rollen.

Innere Widerstände

Der Schweizer Bischöfe revidierten in der Folge ihre Richtlinien zum sexuellen Missbrauch Später wurden diese zudem auf die Ordensgemeinschaften und weitere katholische Organisationen, einschliesslich der staatskirchenrechtlichen Gremien ausgeweitet. Werlen berichtete in Bern, dass sein Vorgehen bei Mitbrüdern zum Teil auf grosse Ablehnung gestossen sei und er gegen innere Kräfte der Kirche anrennen musste.

Man handelte bildungsfern in diesem Bereich.

Der Basler Bischof Felix, der Mitglied des bischöflichen Fachgremiums für sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld ist, schilderte den Paradigmenwechsel der Kirche Schweiz. Bis zum Ende des vergangenen Jahrtausends bemühte sich die Kirche bei sexuellem Missbrauch um Vertuschung, Fälle wurden bagatellisiert, die Täter geschützt und abgeschirmt, die Opfer ignoriert. Anzeigen wurden keine erstattet.

Ignoranz und Bildungsferne

Gmür führte diese Haltung auf Ignoranz zurück. Die Ergebnisse der Humanwissenschaften seien nicht zur Kenntnis genommen worden. Zudem sollte der Ruf der Kirche geschützt werden. In ihren Reihen war die Sexualität weitgehend ein Tabu. Gmür sprach auch von Naivität. Mitbrüder, die Hilfe suchten, liess man stehen. «Man handelte bildungsfern in diesem Bereich», ergänzte der Bischof.

Heute habe die Kirche Verantwortung übernommen. Der Blick habe sich vom Täter auch zum Opfer gewendet. Die Kirche zeige sich kooperativ und sei in diesem Bereich durch entsprechende Fachgremien in den Bistümern nun auch an der Front operativ tätig.

Das Leiden hört nicht auf.

Gmür warnte aber davor, die Arme sinken zu lassen. «Das Thema ist und bleibt aktuell.» Mit Blick auf die Zukunft sagte er weiter, die Kirche müsse bei der Prävention von sexuellem Missbrauch professioneller werden. Es stelle sich die Frage nach dem Umgang mit verurteilten Tätern. Die Seelsorge, die von Mensch zu Mensch geleistet werde, müsse sich der Frage von Nähe und Distanz stellen. Wie soll die Kirche auf Situationen reagieren, in welchen es in der Seelsorge auch nur zu «geringfügigen Annäherungen» kommen könne?

Das seelische «Leiden am Nicht-verzeihen-können»

Nach den beiden Voten lag der Ball bei den Fachleuten im Publikum. Von dieser Seite hiess es, die Kirche müsse alles daran setzen, damit die Opfer «nicht eine Odyssee» antreten müssen, wenn sie mit konkreten Personen in der Kirche in Kontakt kommen möchten. Eine andere Therapeutin erklärte, schlechtes Verhalten von Kirchenpersonal treffe auch sehr gläubige Menschen, die aber aus ihrer inneren Not nicht verzeihen könnten.

Trauma und sexueller Missbrauch sind fast wie siamesische Zwillinge

Dieses «Leiden am Nicht-verzeihen-können» treibe diese Menschen in die Enge bis zum Austritt aus der Kirche, durch welche sie sich verraten fühlten. Auf den Nenner gebracht, so die Therapeutin: «Das Leiden hört nicht auf.» Eine andere Therapeutin warnte davor, auf das Verzeihen zu setzen. Mit der «Beichte» sei es nicht getan. Opfer ernst nehmen heisse, das Opfer in seinem Leiden ernst zu nehmen. Eine Therapeutin meinte, Verbesserungen im Zusammengehen von Kirche und Therapie könne «nur in kleinen Schritten erfolgen».

Ausgezeichnete Gelegenheit für neue Kontakte

Die internationale Konferenz «Abuse & Neglect» in Bern dauerte von 9. bis 11. November und versammelt Experten aus ganz Europa. Fachkräfte aus Medizin und Psychologie nahmen teil wie auch Vertreter der Polizei, von Justizbehörden und Staatsanwaltschaften. Die katholische Kirche Schweiz war ebenfalls eingeladen worden. Mit einem Stand war sie alle drei Tage am Kongress präsent.

Der Stand wurde durch Mitglieder des bischöflichen Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» betreut, unter ihnen der Basler Bischof Felix Gmür, Präsident Giorgio Prestele und der Sekretär des Fachgremiums, der Churer Bischofsvikar Joseph Bonnemain.

Die säkularen Medien hätten ein offenes Ohr für «sexuellen Missbrauch» durch Kirchenleute, wenn ein solcher Fall publik werde, sagte Giorgio Prestele gegenüber kath.ch. Was die Kirche aus dem Geschehen der Vergangenheit gelernt habe und wie sie sich heute im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch engagiere, interessiere hingegen die Medienleute nicht mehr.

Die Kirche ist am Kongress präsent, weil die Opfer es verdienen.

«Der Auftritt an dieser Konferenz ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, um mit Psychologen, Juristen und Vertretern der Polizei in Kontakt zu treten», so Prestele.

Den Opfern Tribut zollen

Der Präsident des Fachgremiums erhofft sich, dass in den entsprechenden Fachkreisen wahrgenommen werde, dass die Kirche sich der Diskussion stellt und nicht mehr «Decken und Verstecken» will. «Trauma und sexueller Missbrauch sind fast wie siamesische Zwillinge,» sagte Prestele. Der Kongress ermögliche es der Fachkommission, in den persönliche Begegnungen mit Fachleuten Anregungen zu erhalten, wie sie ihre Arbeit weiter verbessern könne.

«Die Kirche ist am Kongress präsent, weil die Opfer es verdienen», erklärte gegenüber kath.ch der Churer Bischofsvikar Joseph Maria Bonnemain. Die Kirche zeige in Bern Präsenz, um klar zu machen, dass sie nichts mehr verheimlichen wolle. Sie wolle vielmehr die Arbeit all jener, die sich für die Opfer einsetzten, mittragen. Der Kongress ermögliche es den Mitgliedern der Fachkommission, neue Kontakte zu den Opferhilfeorganisationen und den Fachleuten in diesem Bereich zu knüpfen. Diese neuen Möglichkeiten der Koordination kämen den Opfern zugute.

 


Die Seelsorge braucht neue Worte für das Gespräch mit Missbrauchsopfern

 

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/kirche-in-der-verantwortung-sexueller-missbrauch-fuehrt-zu-schweren-traumata/