«Viele haben den Zölibat in Kauf genommen, nicht angestrebt»

Aarau, 14.1.17 (kath.ch) In einem offenen Brief fordern elf 75-jährige Priester aus Köln Reformen für die katholische Kirche. Was meint ein gleichaltriger Schweizer Priester dazu?  Im Gespräch mit kath.ch hält Rudolf Rieder, 1966 zum Priester geweiht, fest, inwiefern er die Erfahrungen der deutschen Priester teilt und wie er das pfarreiliche Leben heute sieht.

Sylvia Stam

Die deutschen Priester, 1967 geweiht, blicken zurück auf ihre Aufbruchsstimmung in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und ihre Erfahrungen in der Praxis. Anlässlich ihres diesjährigen 50-jährigen Priesterjubiläums halten sie Reformvorschläge etwa zu den Bereichen Ökumene, Frauenordination oder Zölibat für die Kirche der Zukunft fest.

Zölibat in Kauf genommen

Rieder stimmt den deutschen Kollegen «in allen wesentlichen Punkten» zu, wie er gegenüber kath.ch sagt. «Wir waren 14 Priester, die zur gleichen Zeit geweiht wurden. Davon ist gut die Hälfte heute nicht mehr im Dienst», erzählt er mit Blick auf den letzten Punkt des Offenen Briefes, der von der Einsamkeit zölibatärer Priester spricht. «Priester zu werden, was damals der einzige Weg, um in der Kirche zu arbeiten. Viele haben den Zölibat nicht angestrebt, sondern in Kauf genommen», sagt er unumwunden. Heute gebe es ein viel breiteres Spektrum an kirchlichen Berufen als damals.

Rieder kennt das Problem der Einsamkeit von Priestern aus seiner Tätigkeit als Regionaldekan, wo er mit vielen Priestern zu tun hatte. «Das ist ein wichtiger Punkt!» Den einen gelinge es besser, den anderen schlechter, mit der Einsamkeit umzugehen. «Manche fliehen in die Arbeit oder verfallen dem Alkohol». Entsprechend kann er hinter der Kritik der deutschen Priester am Pflichtzölibat stehen.

Wie aber geht er selber mit der Einsamkeit um? «Ich hatte das Glück, immer in Teams zu leben und zu arbeiten», sagt er lachend. Seit seiner Pensionierung lebt er in einer fünfköpfigen Alters-WG.

Bis an die Grenzen der Ökumene

Rieder freut sich darüber, dass sich die Ökumene stark weiterentwickelt habe. Hier ortet er allerdings Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland. Während im Priesterbrief eine gewisse Enttäuschung spürbar wird, erzählt Rieder: «In der Schweiz hat man manchmal auch getan, was nicht den Segen der Kirche hatte: Wir sind bis an die Grenzen der Ökumene gegangen» – und meint damit, dass reformierte Kollegen die Kommunion empfangen und Katholiken am reformierten Abendmahl teilnehmen konnten. Auch beim Sakramentenempfang für wiederverheiratete Geschiedene sei man «pragmatisch» vorgegangen.  Es habe Verweise gegeben, aber keine wirklichen Sanktionen. Dennoch hält er selbstkritisch fest, seine Generation habe vielleicht zu wenig getan, um das System zu verändern.

Auch der Forderung nach der Zulassung von Frauen zu den Weiheämtern –  also zum Priester-, Diakon-und Bischofsamt –  stimmt Rieder ohne Federlesens zu. Er verweist in diesem Zusammenhang aber auf die ganz grundlegende Notwendigkeit, die «Geistesgaben» anderer neidlos anzuerkennen. «Nicht nur die Kirchenleitungen, wie es im Brief heisst, sondern alle kirchlichen Mitarbeiter, Männer und Frauen, müssten einander in ihren Begabungen wertschätzen und akzeptieren.» Rieder ortet hier Neid und Verdächtigungen, denn «wir Seelsorger sind Individualisten». Er wünscht sich, dass sie «lockerer werden im Anerkennen der gegenseitigen Kompetenzen.»

Umdenken in der Pastoralplanung nötig

Im Anerkennen gegenseitiger Kompetenzen sieht er auch eine Antwort auf die im Priesterbrief formulierte Sorge um die grösser werdenden Pastoralräume. «Wir gehen in Europa von der Vorstellung aus, dass jedes Dorf einen Pfarrer haben müsse.» In den Ländern der südlichen Hemisphäre sei eine Pfarrei bisweilen so gross wie ein Kanton. Da habe man auch nur einen Priester, «dafür viele Katecheten.» Auch angesichts des Priestermangels müsse man bei uns entkrampft nach Wegen suchen und die kirchlichen Mitarbeiter aller Stufen ins Gespräch einbeziehen. Hier brauche es tatsächlich ein «Umdenken in der Pastoralplanung», wie es im Brief heisst, «aber bei allen Mitarbeitenden, nicht nur in der Kirchenleitung».

Über den Glauben sprechen

Rieder bedauert, gemeinsam mit seinen deutschen Kollegen, dass der Glaube immer mehr Privatsache geworden sei. «Man spricht nicht darüber», so der langjährige Pfarrer von Aarau. Zwar seien auch früher Gespräche über den Glauben nicht «absolut persönlich» verlaufen, «aber er war Gesprächsthema!» Er kennt zwar auch heute junge Menschen, die dieses Thema nicht scheuen, aber das seien eher «Exoten».

Dabei wäre das Sprechen über den eigenen Glauben auch für den Dialog mit muslimischen Gläubigen wichtig. Dem im Priesterbrief geforderten «geistlichen Dialog» pflichtet er bei, aber die Schwierigkeit sei, «dass unsere Leute unseren Glauben zu wenig kennen. Und das dürfte auch für Muslime gelten». Entsprechend müsste man die Menschen zuerst dazu befähigen, über ihren Glauben sprechen zu können.

Kirche ist mehr als Gottesdienst

In Bezug auf junge Menschen und Familien in der Kirche teilt er zwar die Ansicht seiner deutschen Kollegen, dass viele nach der Erstkommunion nur noch punktuell am Pfarreileben teilnehmen, aber er ist dennoch zuversichtlich: «Man muss daran arbeiten, dass Familien und junge Menschen weiterhin kommen.» Dies sei heute herausfordernder als früher: Man müsse Angebote für Väter machen, auf die Kinder eingehen, sie ansprechen. Er verhehlt auch einen gewissen Frust nicht, dass es für die Kirche schwierig ist, mit zeitlichen Konkurrenzveranstaltungen wie etwa Sportanlässen mitzuhalten. Zudem sei Kirche ja nicht bloss Gottesdienst: «Viele junge Menschen investieren Zeit und Herzblut in die Jugendverbände. Diese Erfahrungen erleben sie als sinnvoll und möchten sie daher auch anderen weitergeben.»

Rudolf Rieder (*1941) kommt aus Solothurn, studierte in Luzern und Rom Theologie und wurde 1966 zum Priester geweiht. Er war als Religionslehrer an Kantonsschulen tätig und leitete 21 Jahre im Team die Pfarrei Aarau, anschliessend war er 10 Jahre Regionaldekan. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2004 arbeitet er noch regelmässig in zwei Pfarreien mit. Rieder wohnt heute in Aarau.


75-Jährige Priester fordern in einem offenen Brief Reformen

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