Asylpolitik zwischen Traum und Wirklichkeit

Zürich, 7.2.16 (kath.ch) Ein Blick in die Geschichte tut in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion gut. Denn eigentlich gibt es keine Menschen ohne Migrationshintergrund. Eine Glosse von Bischof Paul Hinder*.

In den vergangenen Monaten habe ich mich bei Kommentaren zum Thema «Flüchtlinge» oft gefragt, wie es den alten Helvetiern zumute gewesen sein muss, als sie vom siegreichen Cäsar in ihre von ihnen selbst verbrannte Heimat zurückgeschickt wurden (falls die Geschichte stimmt). Manchmal ging mir auch durch den Kopf, warum denn unsere Vorfahren, die Alemannen, irgendwo aus dem Osten westwärts gezogen sind und die damaligen Einwohner der jetzigen Deutschschweiz die Eindringlinge nicht aufhalten konnten. Vermutlich hatten sie schlicht nicht mehr die Kraft und Macht dazu. Das Gedankenexperiment tut gut, weil es uns daran erinnert, dass ausnahmslos wir alle im Stammbaum einen Migrationshintergrund haben (inklusive Kriminelles, das sich unsere Vorfahren auf dem Weg in ein neues Territorium geleistet haben).

Die meisten von uns überkommt ein ungutes Gefühl beim Anblick der Bilder von Flüchtlingen, die sich risikobereit auf den Weg machen, um einer Welt zu entfliehen, in der es kein Leben und Auskommen zu geben scheint. Sie haben oft das letzte Vermögen an Schlepper bezahlt und den Versprechungen geglaubt, die ihnen ein neues Paradies in Aussicht stellten. Mitleid kommt hoch, aber auch Angst: vor der Kriminalität die mitwandert, vor der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, vor dem Verlust der Identität, vor Platzverlust und vor manchem mehr.

Was tun? Angst ist wohl auch hier ein schlechter Ratgeber. Wir werden uns ganz realistisch damit abfinden müssen, dass die Migration von Menschen, die das angestammte Zuhause verlassen, so schnell nicht aufhören wird. Das ist in verschiedener Hinsicht unangenehm. Erstens erinnert es uns an die Sünden der Vergangenheit (der Kolonialismus lässt grüssen und holt uns mit seinem Erbe wieder ein). Zweitens werden wir uns bewusst, dass viele Menschen das tun, was wir alle täten, wären wir in der gleichen Situation (nämlich der Not und Unsicherheit zu entfliehen an einen sicheren Ort). Drittens merken wir nun plötzlich, dass andere Lust auf das bekommen, wofür wir jahrelang Propaganda gemacht haben (nämlich den westlichen Konsum nicht nur im Fernsehen sondern in der Realität zu geniessen). Schliesslich erwachen wir aus der Bewusstseinsstörung, in der wir glaubten, wir könnten in einer Welt der Ungerechtigkeiten und Kriege den eigenen Garten völlig vom Ascheregen eines ausgebrochenen Vulkans freihalten.

Vermutlich geht es abgesehen von oft etwas hilflosen Steuerungsmassnahmen nicht anders als die Menschen einmal anzunehmen als das, was sie sind, unsere Artgenossen und Verwandten; ihnen einen Unterstand zu geben wie man das bei einem Unwetter anständigerweise jedem gewährt; und schliesslich eine neue Heimat zu vermitteln, wenn Rückkehr oder Weiterreise ausgeschlossen sind.

Wir Alemannen bekamen dies und sind deshalb immer noch in der Schweiz. Vielleicht müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass andere unsere Vorfahren nachahmen. (ph)

*Paul Hinder ist 1942 in Bussnang TG geboren. Er trat 1962 den Kapuzinern bei. Papst Johannes Paul II. ernannte Hinder 2003 zum Weihbischof und 2005 zum Apostolischen Vikar von Arabien.

Bischof Hinder weihte erstmals Priester in den Vereinigten Arabischen Emiraten

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