22/2003

INHALT

Spitalseelsorge

Seelsorge im Spital aus der Sicht der praktisch tätigen Ärztin

von Kathrin Franz

 

Seit dreissig Jahren arbeite ich als praktische Ärztin in einem grossen Universitätsspital, seit über zehn Jahren als Personalärztin. Von Anfang an bemühte ich mich, meine Arbeitsweise und meinen Zugang zum leidenden Menschen kritisch zu hinterfragen. Sehr früh realisierte ich, dass unser Medizinstudium zwar mit intellektuell-naturwissenschaftlichem Lehrstoff überreichlich voll gepackt war, dass aber Kurse für mein Verhalten am Krankenbett völlig fehlten. Stillschweigend wurde ein «gutartiger» Umgang mit dem kranken Menschen und die Fähigkeit, mit ihm zu kommunizieren, angenommen. Als junge Assistentin auf einer chirurgischen Abteilung mit ganztägigem Operationsprogramm, Arztvisite und Untersuchungen in den späten Abendstunden, spürte ich einen unbestimmten Mangel in meiner Tätigkeit. Intuitiv «übergab» ich schon damals meine Patienten den Seelsorgern des Spitals, mit der Bitte, «zu den Patienten zu schauen und mit ihnen zu reden». Später begleitete ich über Jahre als Nierenspezialistin chronisch kranke Menschen. Ein grosser Teil der Dialyse-Patienten waren damals noch Suchtkranke, Menschen, die sich ihre Krankheit durch Missbrauch von Schmerzmitteln zugezogen hatten. Die seelischen Veränderungen überwogen bei diesen Schwerkranken oft die somatischen Probleme. In der Begleitung dieser Patientinnen und Patienten wurde ich vom Spitalseelsorger unterstützt, den ich zur eigenen Beratung meines Verhaltens gegenüber dem Patienten beizog. Ich bat ihn auch, speziell gewisse Patienten aufzusuchen, «ein wenig am Bett zu sitzen», sich Zeit zu nehmen, zuzuhören, zu trösten, und, wo es möglich war, mit den Schwerkranken auch über ihr Sterben zu sprechen. Trotzdem fühlte ich weiter eine gewisse Unzufriedenheit, den Menschen nur mit diagnostischen und therapeutischen Verordnungen und Massnahmen dienen zu können. Wohl gelang es mir bei vielen Patienten, gute Beziehungen aufzubauen, doch allermeist fehlte der Raum zum ruhigen Hinhören. Zudem erschien mir meine Sprache unzulänglich, um Patientinnen und Patienten in Richtung auf eine ganzheitliche Heilung zu begleiten. Um diesen Mangel zu beheben, bildete ich mich weiter in einer psychiatrischen Abteilung für ambulante Patienten. Doch den eigentlich seelsorgerlichen Zugang zu den kranken Menschen, wie ich ihn mir vorstellte, fand ich auch dort nicht. Ich begegnete dort auch nie einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin; über Glaube und Religion wurde mit den Patienten nicht gesprochen.
Nach all diesen Lernjahren in somatischen und psychischen Erkrankungen fühlte ich mich befähigt, die Aufgabe der Personalärztin in einem grossen Spital zu übernehmen. Gleich zu Beginn trat ich wieder mit den Seelsorgern des Spitals in Kontakt. So begleiteten wir gemeinsam Patienten in speziellen psychosozialen Situationen, oder ich überwies ihnen Menschen mit religiösen Fragen.

Ein heilender und ein priesterlicher Auftrag

Für die heute vorherrschende Medizin mit ihrem rein naturwissenschaftlichen Denken ist es zunehmend schwieriger, dem Menschen in seiner Ganzheit gerecht zu werden. Mit dieser Aussage will ich die Errungenschaften dieser Medizin nicht abwerten; ich wende sie täglich mit Erfolg an und erlebe ihre guten Auswirkungen. Doch werden auf Grund labormedizinischer und statistischer Einsichten Soma und Psyche schematisch betrachtet. Die so gewonnenen Fakten können den Menschen in seiner Individualität, insbesondere im spirituellen Bereich, nicht erfassen, schon gar nicht in seiner Beziehung zu Gott. Die Medizinmänner und Medizinfrauen der alten Kulturen hatten zugleich einen heilenden und einen priesterlichen Auftrag. Für sie war es selbstverständlich, dass der somatopsychische und der spirituelle Bereich eine Einheit bildeten. Der heutige medizinische Alltag mit seiner Überfülle an wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten für Diagnose und Therapie macht es mir als Ärztin unmöglich, mich dem spirituellen Bereich des Kranken zuzuwenden. Darum spüre ich zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen, dass unsere Medizin dringend eine Ergänzung braucht, um wirklich heilen zu können. In der einschlägigen wissenschaftlich-medizinischen Literatur erscheinen darum heute Berichte über spirituelle Heilkräfte, zum Beispiel über Forschungen zur heilenden Kraft des Gebetes.<1>
Bei Tenzin Choedrak, dem Leibarzt des Dalai Lama, stiess ich auf die sechs Eigenschaften des guten Arztes in der tibetischen Tradition. Eine davon besagt, dass sich ein Arzt durch religiöses Denken auszeichnen soll.<2> Durch die Teilnahme an Kursen und Tagungen mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern und durch das Konzept «Mehr als Begleiten» von Erhard Weiher<3> beginne ich, die Heilungsweise der Seelsorge zu verstehen. Ich versuche sogar, diese Art des Heilens in meine Praxis einfliessen zu lassen.
Aber je mehr es mir gelingt, in diesen ­ nach Erhard Weiher ­ «Zwischenbereich» eines ganzheitlichen Heilens vorzudringen, wird es mir entschieden klar: Wir Ärztinnen und Ärzte können die Seelsorge nicht mit den heutigen Anforderungen des medizinischen Alltages verbinden. Der Grund ist nicht nur, dass uns die dafür nötige Zeit fehlt, sondern:
Der schulmedizinisch orientierte Arzt hat einen andern Ansatz: Seine Aufgabe ist es, krankhafte Veränderungen im Körper und in der Seele zu studieren, die Symptome genau wahrzunehmen und zu analysieren mit dem Ziel, die Ursachen zu erkennen und die entsprechende Therapie durchzuführen. Die Unterscheidung des erkrankten vom gesunden Teil erlaubt dem Arzt, gezielt zu handeln auf Grund statistisch gewonnener Erkenntnisse. Mit der Heilung des erkrankten Teiles wird die Wiederherstellung des Individuums zu seinem früheren Zustand erstrebt. Der Patient erwartet heute vom Arzt diese Handlungsweise; die ärztlichen Instrumente sind Fakten und Tatsachen, objektiv fassbare technische Daten und physikalisch-chemische Massnahmen. Die zwischenmenschliche Beziehung tritt zusehends in den Hintergrund ­ allerdings auch bei den Mitarbeitenden in allen Pflegeberufen.
Ganz anders, meine ich, definiert sich die «Tätigkeit» der Seelsorge: Es besteht kein juristisch fest gefügter Vertrag Seelsorger­Patient, sondern ein Bündnis Seelsorger/Patient mit Dem Dritten, mit Gott. Die Beziehung ist gegeben, auch wenn sie nicht verbalisiert wird; denn die Seelsorgerin und der Seelsorger handelt an sich «im Namen Gottes». Die Worte Tätigkeit und Handeln, die für den medizinischen Bereich adäquat sind, scheinen mir für die seelsorgerliche Aufgabe nicht zu passen. Den Seelsorgenden ist es gegeben, im Namen von Christus, dem grossen Heiler, durch ihre Anwesenheit, ihr Dasein, dem leidenden Menschen den Weg in seine Ganzheit aufzuzeigen. Nicht ein umschriebenes Leiden auf möglichst direktem Wege zu heilen, ist Aufgabe der Seelsorge, sondern dem Leiden so Raum zu geben, dass ganzheitliche Heilung geschehen kann. Die Sprache der Seelsorge besteht nicht aus Fakten und reproduzierbaren Dokumenten, sondern aus Symbolen, die auf eine umfassendere Wirklichkeit hinweisen. Seelsorgerinnen und Seelsorger stützen sich nicht auf mikroskopisches Wissen, sondern auf Glauben. Sie verschreiben nicht rezeptierbare Medikamente, sondern sprechen ein Gebet oder einen Segen, wenn es angezeigt ist. Den kranken Menschen, der durch die analytisch-technische Methode der Medizin «zerstückelt» ist, fügt die Seelsorge wieder zu einem Ganzen zusammen. Dies ist unerlässlich, denn nur ein ganzer Mensch kann sich Gedanken machen über den Sinn seines Lebens, seines Leidens und seinen Tod. Darin sehe ich die Aufgabe der Seelsorge: Den durch die Krankheit existentiell getroffenen Menschen auf jene Wirklichkeit hinzuweisen, die allen seinen Erfahrungen Sinn gibt, letztlich auf Gott.

Gemeinsamkeiten von Arzt und Seelsorger

Arzt und Seelsorger haben vieles gemeinsam: eine Berufung als Studiengrund, die Liebe zum leidenden Mitmenschen, das Dienen. Viele zeichnen sich aus durch die Hingabe an den Beruf, das Mitgefühl, die Sorgfaltspflicht und Verantwortung gegenüber dem Kranken. Darum gehören Seelsorger und Seelsorgerinnen genauso ins Spital wie Ärztinnen und Ärzte. Sie ergänzen sich in idealer Weise. Ihre Zusammenarbeit, die gegenseitige Information und Kommunikation müssen verbessert werden. Zur ganzheitlichen Heilung eines Kranken gehört das seelsorgerliche Wirken wie das ärztliche und pflegerische Handeln. Darum müssen Seelsorger und Seelsorgerinnen Zugang haben zu allen Daten, die sie für ein professionelles Wirken benötigen.<4>

 

Dr. med. Kathrin Franz ist Personalärztin am Universitätsspital Bern.


Anmerkungen

1 Wirksamkeit von Fernheilung bzw. Gebet bei AIDS und bei Patienten mit akutem Herzinfarkt, in: Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde 2000, 7, 160­164.
Jakob Bösch, Wissenschaftliche Grundlagen des geistig-energetischen Heilens, in: Praxis. Schweizerisches Medizinisches Forum 2002, 21, 511­516 (Teil 1) und 2002,22, 533­538 (Teil 2); vgl. Jakob Bösch, Spirituelles Heilen und Schulmedizin. Eine Wissenschaft am Neuanfang, Bern (Lokwort) 2002 (www.jakobboesch.ch).

2 Choedrak Tenzin, Der Palast des Regenbogens. Der Leibarzt des Dalai Lama erinnert sich, Frankfurt und Leipzig (Insel) 1999, 128­134.

3 Erhard Weiher, Mehr als Begleiten. Ein neues Konzept für die Seelsorge im Raum von Medizin und Pflege, Mainz (Grünewald) 1999.

4 Eine letzte Anmerkung sei mir gestattet: Seelsorger benötigen ab und zu ärztliche Hilfe. Ebenso steht Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit offen, Seelsorge sich selber angedeihen lassen zu dürfen.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2003