22/2003 | |
INHALT |
Spitalseelsorge |
Seit dreissig Jahren arbeite ich als praktische Ärztin in einem
grossen Universitätsspital, seit über zehn Jahren als Personalärztin.
Von Anfang an bemühte ich mich, meine Arbeitsweise und meinen Zugang
zum leidenden Menschen kritisch zu hinterfragen. Sehr früh realisierte
ich, dass unser Medizinstudium zwar mit intellektuell-naturwissenschaftlichem
Lehrstoff überreichlich voll gepackt war, dass aber Kurse für
mein Verhalten am Krankenbett völlig fehlten. Stillschweigend wurde
ein «gutartiger» Umgang mit dem kranken Menschen und die Fähigkeit,
mit ihm zu kommunizieren, angenommen. Als junge Assistentin auf einer chirurgischen
Abteilung mit ganztägigem Operationsprogramm, Arztvisite und Untersuchungen
in den späten Abendstunden, spürte ich einen unbestimmten Mangel
in meiner Tätigkeit. Intuitiv «übergab» ich schon
damals meine Patienten den Seelsorgern des Spitals, mit der Bitte, «zu
den Patienten zu schauen und mit ihnen zu reden». Später begleitete
ich über Jahre als Nierenspezialistin chronisch kranke Menschen. Ein
grosser Teil der Dialyse-Patienten waren damals noch Suchtkranke, Menschen,
die sich ihre Krankheit durch Missbrauch von Schmerzmitteln zugezogen hatten.
Die seelischen Veränderungen überwogen bei diesen Schwerkranken
oft die somatischen Probleme. In der Begleitung dieser Patientinnen und
Patienten wurde ich vom Spitalseelsorger unterstützt, den ich zur eigenen
Beratung meines Verhaltens gegenüber dem Patienten beizog. Ich bat
ihn auch, speziell gewisse Patienten aufzusuchen, «ein wenig am Bett
zu sitzen», sich Zeit zu nehmen, zuzuhören, zu trösten,
und, wo es möglich war, mit den Schwerkranken auch über ihr Sterben
zu sprechen. Trotzdem fühlte ich weiter eine gewisse Unzufriedenheit,
den Menschen nur mit diagnostischen und therapeutischen Verordnungen und
Massnahmen dienen zu können. Wohl gelang es mir bei vielen Patienten,
gute Beziehungen aufzubauen, doch allermeist fehlte der Raum zum ruhigen
Hinhören. Zudem erschien mir meine Sprache unzulänglich, um Patientinnen
und Patienten in Richtung auf eine ganzheitliche Heilung zu begleiten. Um
diesen Mangel zu beheben, bildete ich mich weiter in einer psychiatrischen
Abteilung für ambulante Patienten. Doch den eigentlich seelsorgerlichen
Zugang zu den kranken Menschen, wie ich ihn mir vorstellte, fand ich auch
dort nicht. Ich begegnete dort auch nie einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin;
über Glaube und Religion wurde mit den Patienten nicht gesprochen.
Nach all diesen Lernjahren in somatischen und psychischen Erkrankungen fühlte
ich mich befähigt, die Aufgabe der Personalärztin in einem grossen
Spital zu übernehmen. Gleich zu Beginn trat ich wieder mit den Seelsorgern
des Spitals in Kontakt. So begleiteten wir gemeinsam Patienten in speziellen
psychosozialen Situationen, oder ich überwies ihnen Menschen mit religiösen
Fragen.
Für die heute vorherrschende Medizin mit ihrem rein naturwissenschaftlichen
Denken ist es zunehmend schwieriger, dem Menschen in seiner Ganzheit gerecht
zu werden. Mit dieser Aussage will ich die Errungenschaften dieser Medizin
nicht abwerten; ich wende sie täglich mit Erfolg an und erlebe ihre
guten Auswirkungen. Doch werden auf Grund labormedizinischer und statistischer
Einsichten Soma und Psyche schematisch betrachtet. Die so gewonnenen Fakten
können den Menschen in seiner Individualität, insbesondere im
spirituellen Bereich, nicht erfassen, schon gar nicht in seiner Beziehung
zu Gott. Die Medizinmänner und Medizinfrauen der alten Kulturen hatten
zugleich einen heilenden und einen priesterlichen Auftrag. Für sie
war es selbstverständlich, dass der somatopsychische und der spirituelle
Bereich eine Einheit bildeten. Der heutige medizinische Alltag mit seiner
Überfülle an wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten
für Diagnose und Therapie macht es mir als Ärztin unmöglich,
mich dem spirituellen Bereich des Kranken zuzuwenden. Darum spüre ich
zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen, dass unsere Medizin dringend
eine Ergänzung braucht, um wirklich heilen zu können. In der einschlägigen
wissenschaftlich-medizinischen Literatur erscheinen darum heute Berichte
über spirituelle Heilkräfte, zum Beispiel über Forschungen
zur heilenden Kraft des Gebetes.<1>
Bei Tenzin Choedrak, dem Leibarzt des Dalai Lama, stiess ich auf die sechs
Eigenschaften des guten Arztes in der tibetischen Tradition. Eine davon
besagt, dass sich ein Arzt durch religiöses Denken auszeichnen soll.<2> Durch die Teilnahme an Kursen und Tagungen
mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern und durch das Konzept «Mehr als
Begleiten» von Erhard Weiher<3>
beginne ich, die Heilungsweise der Seelsorge zu verstehen. Ich versuche
sogar, diese Art des Heilens in meine Praxis einfliessen zu lassen.
Aber je mehr es mir gelingt, in diesen nach Erhard Weiher «Zwischenbereich»
eines ganzheitlichen Heilens vorzudringen, wird es mir entschieden klar:
Wir Ärztinnen und Ärzte können die Seelsorge nicht mit den
heutigen Anforderungen des medizinischen Alltages verbinden. Der Grund ist
nicht nur, dass uns die dafür nötige Zeit fehlt, sondern:
Der schulmedizinisch orientierte Arzt hat einen andern Ansatz: Seine Aufgabe
ist es, krankhafte Veränderungen im Körper und in der Seele zu
studieren, die Symptome genau wahrzunehmen und zu analysieren mit dem Ziel,
die Ursachen zu erkennen und die entsprechende Therapie durchzuführen.
Die Unterscheidung des erkrankten vom gesunden Teil erlaubt dem Arzt, gezielt
zu handeln auf Grund statistisch gewonnener Erkenntnisse. Mit der Heilung
des erkrankten Teiles wird die Wiederherstellung des Individuums zu seinem
früheren Zustand erstrebt. Der Patient erwartet heute vom Arzt diese
Handlungsweise; die ärztlichen Instrumente sind Fakten und Tatsachen,
objektiv fassbare technische Daten und physikalisch-chemische Massnahmen.
Die zwischenmenschliche Beziehung tritt zusehends in den Hintergrund
allerdings auch bei den Mitarbeitenden in allen Pflegeberufen.
Ganz anders, meine ich, definiert sich die «Tätigkeit»
der Seelsorge: Es besteht kein juristisch fest gefügter Vertrag SeelsorgerPatient,
sondern ein Bündnis Seelsorger/Patient mit Dem Dritten, mit Gott. Die
Beziehung ist gegeben, auch wenn sie nicht verbalisiert wird; denn die Seelsorgerin
und der Seelsorger handelt an sich «im Namen Gottes». Die Worte
Tätigkeit und Handeln, die für den medizinischen Bereich adäquat
sind, scheinen mir für die seelsorgerliche Aufgabe nicht zu passen.
Den Seelsorgenden ist es gegeben, im Namen von Christus, dem grossen Heiler,
durch ihre Anwesenheit, ihr Dasein, dem leidenden Menschen den Weg in seine
Ganzheit aufzuzeigen. Nicht ein umschriebenes Leiden auf möglichst
direktem Wege zu heilen, ist Aufgabe der Seelsorge, sondern dem Leiden so
Raum zu geben, dass ganzheitliche Heilung geschehen kann. Die Sprache der
Seelsorge besteht nicht aus Fakten und reproduzierbaren Dokumenten, sondern
aus Symbolen, die auf eine umfassendere Wirklichkeit hinweisen. Seelsorgerinnen
und Seelsorger stützen sich nicht auf mikroskopisches Wissen, sondern
auf Glauben. Sie verschreiben nicht rezeptierbare Medikamente, sondern sprechen
ein Gebet oder einen Segen, wenn es angezeigt ist. Den kranken Menschen,
der durch die analytisch-technische Methode der Medizin «zerstückelt»
ist, fügt die Seelsorge wieder zu einem Ganzen zusammen. Dies ist unerlässlich,
denn nur ein ganzer Mensch kann sich Gedanken machen über den Sinn
seines Lebens, seines Leidens und seinen Tod. Darin sehe ich die Aufgabe
der Seelsorge: Den durch die Krankheit existentiell getroffenen Menschen
auf jene Wirklichkeit hinzuweisen, die allen seinen Erfahrungen Sinn gibt,
letztlich auf Gott.
Arzt und Seelsorger haben vieles gemeinsam: eine Berufung als Studiengrund, die Liebe zum leidenden Mitmenschen, das Dienen. Viele zeichnen sich aus durch die Hingabe an den Beruf, das Mitgefühl, die Sorgfaltspflicht und Verantwortung gegenüber dem Kranken. Darum gehören Seelsorger und Seelsorgerinnen genauso ins Spital wie Ärztinnen und Ärzte. Sie ergänzen sich in idealer Weise. Ihre Zusammenarbeit, die gegenseitige Information und Kommunikation müssen verbessert werden. Zur ganzheitlichen Heilung eines Kranken gehört das seelsorgerliche Wirken wie das ärztliche und pflegerische Handeln. Darum müssen Seelsorger und Seelsorgerinnen Zugang haben zu allen Daten, die sie für ein professionelles Wirken benötigen.<4>
Dr. med. Kathrin Franz ist Personalärztin am Universitätsspital Bern.
1 Wirksamkeit von Fernheilung bzw. Gebet bei AIDS und bei Patienten mit akutem Herzinfarkt, in: Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde 2000, 7, 160164.
Jakob Bösch, Wissenschaftliche Grundlagen des geistig-energetischen Heilens, in: Praxis. Schweizerisches Medizinisches Forum 2002, 21, 511516 (Teil 1) und 2002,22, 533538 (Teil 2); vgl. Jakob Bösch, Spirituelles Heilen und Schulmedizin. Eine Wissenschaft am Neuanfang, Bern (Lokwort) 2002 (www.jakobboesch.ch).2 Choedrak Tenzin, Der Palast des Regenbogens. Der Leibarzt des Dalai Lama erinnert sich, Frankfurt und Leipzig (Insel) 1999, 128134.
3 Erhard Weiher, Mehr als Begleiten. Ein neues Konzept für die Seelsorge im Raum von Medizin und Pflege, Mainz (Grünewald) 1999.
4 Eine letzte Anmerkung sei mir gestattet: Seelsorger benötigen ab und zu ärztliche Hilfe. Ebenso steht Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit offen, Seelsorge sich selber angedeihen lassen zu dürfen.