22/2003

INHALT

Lesejahr B

Von der Kraft zum guten Leben

Regula Grünenfelder zu Gal 5,16-25

 

Auf den Text zu

Im UNO-Jahr der Behinderten sagte Stevie Wonder: «Ich bin nicht blind, ich kann bloss nicht sehen.» «Blind», nach dem Künstler Stevie Wonder, der nicht sehen konnte, ist eine Zuschreibung, die schon zu viel weiss. Menschen mit Erfahrungen, die die Mehrheit nicht teilt, sollen ihre Lebenswünsche und Lebenswege selber wahrnehmen und finden dürfen.
Pfingsten ­ die Menschen verstehen die Frohbotschaft in ihrer eigenen Sprache und ihrem Dialekt. Paulus zeigt eine Möglichkeit auf, wie Pfingsten im Alltag der Kirche gelebt werden kann.

Mit dem Text unterwegs

Wer darf zur Kirche gehören ­ und unter welchen Bedingungen? Der Galaterbrief spiegelt folgende Herausforderung: Jesus war Jude, die ersten Jüngerinnen und Jünger waren Juden und Jüdinnen. Nun kommen nichtjüdische Menschen hinzu, die sich schon vor Jesus in grosser Zahl zum Judentum hingezogen fühlten. Wenn sich eine Gemeinschaft für neue Leute öffnet, dann sind die Modalitäten zu klären: Müssen nichtjüdische Christusgläubige zum Judentum übertreten? Wie schwierig und zentral diese Frage im frühen Christentum war, lässt sich in der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen nachlesen. Der Brief an die Galater und Galaterinnen zeugt von einem besonderen Problem in diesem Zusammenhang: Während die (jüdische) Mehrheit sich durch die Neuzugänge in ihrem Selbstverständnis herausgefordert sieht, muss die (nichtjüdische) Minderheit ihr Selbstverständnis überhaupt erst finden. Sie muss mit der Einladung umgehen, dass sie sich von der Mehrheit unterscheiden darf.
Die nichtjüdischen Christen und Christinnen sollen gleichgestellt, aber nicht in den Traditionen der Mehrheit leben. Wie soll dies nun konkret aussehen? Wie kann eine eigene Kenntlichkeit entstehen, die nicht doch wieder nach bewährten Traditionen schielt?
In der Pfingstlesung hören wir, was Paulus ihnen als Orientierungsmöglichkeit anbietet. Sein Stichwort für die neue Gemeinschaft, die nicht auf Traditionen zurückgreifen kann, ist «Geist». Die Schlüsselsätze sind:

Wenn sich die nichtjüdische Minderheit vom Geist führen lässt, dann muss sie sich nicht der Tradition der Mehrheit anschliessen und zum Judentum konvertieren.
Paulus verweist sie statt auf das Gesetz, die Tora, auf die «deutlich erkennbaren» gesellschaftlichen Konventionen.
Zuerst bringt er eine sichtlich ungeordnete Liste von zerstörerischen Verhaltensweisen. Hier ­ wie in den anderen neutestamentlichen Lasterkatalogen, zeigt sich überhaupt kein Bemühen, etwas spezifisch Christliches einzubringen. Ein neutestamentlicher Lasterkatalog will weder kreativ noch vollständig sein. Er will einfach mit dem gesunden Menschenverstand der Zeit Einigkeit zeigen. Wer nicht unter dem Gesetz steht, muss sich die konventionelle Moral als Massstab nehmen.
In auffälligem Kontrast zur Ansammlung des Bösen im Lasterkatalog steht die Ordnung im folgenden Tugendkatalog. Dort herrscht Chaos ­ hier ist der Geist die Kraft zum guten Leben: Liebe, Freude, Friede ... Wer aus dem Geist lebt, was an entsprechenden Früchten überprüfbar ist, widerspricht dem Gesetz, dem jüdischen Weg der Tora, nicht. Diese Mehrheit fordert in beeindruckender Grosszügigkeit nicht, dass die Neuen ihre Kultsprache übernehmen, sondern verlangt nur den «Nichtwiderspruch» mit der eigenen Tradition.
Das Gesetz war der dominantere, geformtere und damit «einfachere» Weg. Die anderen Wege mussten von den Neuen erst erfunden werden. In unseren Zeilen finden wir die Erlaubnis, sie zu suchen und zu gehen.

Über den Text hinaus

Pfingsten: Das Gemeinsame wird in verschiedenen Sprachen und Dialekten lebendig. Und umgekehrt nähren sich die Einzelnen aus den Früchten des Gemeinsamen.
«Die Hoffnung lebt aus der Erinnerung. Wir erzählen die Geschichten der Alten und der Geschwister nicht vorrangig mit Verwertungsinteressen, so als könnten wir ihre Modelle der Arbeit und des Kampfes als unsere übernehmen. Wir erzählen sie, weil wahrgenommene Radikalität unsere Radikalität stärkt; weil erinnerte Träume die eigenen Träume schärfen. Unsere Wünsche belangen die Geschichte dafür, dass Wünsche möglich und erfüllbar sind; wir belangen sie als Zeugen für unsere eigenen Wünsche ... Das ist der Inhalt des Gedankens der Solidarität der Generationen: Allein bist du klein, und allein verkümmert deine Lebenskraft... Man braucht viele Geschwister, lebendige und tote...» (Steffensky, 39).

 

Die Autorin: Dr. Regula Grünenfelder ist Fachmitarbeiterin der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks.

Literatur: Hans Dieter Betz, Der Galater-Brief, München 1988; Walter Radl, Galaterbrief, (Stuttgarter Kleiner Kommentar NT 9), Stuttgart 1985; Fulbert Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 1989.


Er-lesen

Ein Moment der Sammlung ­ die Teilnehmenden werden eingeladen, in einer Geste den Geist einzuladen, gemeinsam, aber mit Aufmerksamkeit nur auf die eigene Form ­ den Text lesen ­ die Teilnehmenden drücken in einer Geste aus, was der Text bei ihnen auslöst ­ Austausch.

Er-hellen

Gespräch über die Herausforderungen von Pfingsten in der frühen Kirche und den revolutionären, aber deutlich konventionellen Vorschlag des Paulus.

Er-leben

Vielstimmigkeit heute: Wie bin ich mir und anderen kenntlich als Christin, als Christ? Wie nähre ich mich von den drei ersten Früchten ­ Liebe, Freude, Friede?


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2003