22/2003 | |
INHALT |
Lesejahr B |
Im UNO-Jahr der Behinderten sagte Stevie Wonder: «Ich bin nicht
blind, ich kann bloss nicht sehen.» «Blind», nach dem
Künstler Stevie Wonder, der nicht sehen konnte, ist eine Zuschreibung,
die schon zu viel weiss. Menschen mit Erfahrungen, die die Mehrheit nicht
teilt, sollen ihre Lebenswünsche und Lebenswege selber wahrnehmen und
finden dürfen.
Pfingsten die Menschen verstehen die Frohbotschaft in ihrer eigenen
Sprache und ihrem Dialekt. Paulus zeigt eine Möglichkeit auf, wie Pfingsten
im Alltag der Kirche gelebt werden kann.
Wer darf zur Kirche gehören und unter welchen Bedingungen?
Der Galaterbrief spiegelt folgende Herausforderung: Jesus war Jude, die
ersten Jüngerinnen und Jünger waren Juden und Jüdinnen. Nun
kommen nichtjüdische Menschen hinzu, die sich schon vor Jesus in grosser
Zahl zum Judentum hingezogen fühlten. Wenn sich eine Gemeinschaft für
neue Leute öffnet, dann sind die Modalitäten zu klären: Müssen
nichtjüdische Christusgläubige zum Judentum übertreten? Wie
schwierig und zentral diese Frage im frühen Christentum war, lässt
sich in der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen nachlesen. Der Brief
an die Galater und Galaterinnen zeugt von einem besonderen Problem in diesem
Zusammenhang: Während die (jüdische) Mehrheit sich durch die Neuzugänge
in ihrem Selbstverständnis herausgefordert sieht, muss die (nichtjüdische)
Minderheit ihr Selbstverständnis überhaupt erst finden. Sie muss
mit der Einladung umgehen, dass sie sich von der Mehrheit unterscheiden
darf.
Die nichtjüdischen Christen und Christinnen sollen gleichgestellt,
aber nicht in den Traditionen der Mehrheit leben. Wie soll dies nun konkret
aussehen? Wie kann eine eigene Kenntlichkeit entstehen, die nicht doch wieder
nach bewährten Traditionen schielt?
In der Pfingstlesung hören wir, was Paulus ihnen als Orientierungsmöglichkeit
anbietet. Sein Stichwort für die neue Gemeinschaft, die nicht auf Traditionen
zurückgreifen kann, ist «Geist». Die Schlüsselsätze
sind:
Wenn sich die nichtjüdische Minderheit vom Geist führen lässt,
dann muss sie sich nicht der Tradition der Mehrheit anschliessen und zum
Judentum konvertieren.
Paulus verweist sie statt auf das Gesetz, die Tora, auf die «deutlich
erkennbaren» gesellschaftlichen Konventionen.
Zuerst bringt er eine sichtlich ungeordnete Liste von zerstörerischen
Verhaltensweisen. Hier wie in den anderen neutestamentlichen Lasterkatalogen,
zeigt sich überhaupt kein Bemühen, etwas spezifisch Christliches
einzubringen. Ein neutestamentlicher Lasterkatalog will weder kreativ noch
vollständig sein. Er will einfach mit dem gesunden Menschenverstand
der Zeit Einigkeit zeigen. Wer nicht unter dem Gesetz steht, muss sich die
konventionelle Moral als Massstab nehmen.
In auffälligem Kontrast zur Ansammlung des Bösen im Lasterkatalog
steht die Ordnung im folgenden Tugendkatalog. Dort herrscht Chaos
hier ist der Geist die Kraft zum guten Leben: Liebe, Freude, Friede ...
Wer aus dem Geist lebt, was an entsprechenden Früchten überprüfbar
ist, widerspricht dem Gesetz, dem jüdischen Weg der Tora, nicht. Diese
Mehrheit fordert in beeindruckender Grosszügigkeit nicht, dass die
Neuen ihre Kultsprache übernehmen, sondern verlangt nur den «Nichtwiderspruch»
mit der eigenen Tradition.
Das Gesetz war der dominantere, geformtere und damit «einfachere»
Weg. Die anderen Wege mussten von den Neuen erst erfunden werden. In unseren
Zeilen finden wir die Erlaubnis, sie zu suchen und zu gehen.
Pfingsten: Das Gemeinsame wird in verschiedenen Sprachen und Dialekten
lebendig. Und umgekehrt nähren sich die Einzelnen aus den Früchten
des Gemeinsamen.
«Die Hoffnung lebt aus der Erinnerung. Wir erzählen die Geschichten
der Alten und der Geschwister nicht vorrangig mit Verwertungsinteressen,
so als könnten wir ihre Modelle der Arbeit und des Kampfes als unsere
übernehmen. Wir erzählen sie, weil wahrgenommene Radikalität
unsere Radikalität stärkt; weil erinnerte Träume die eigenen
Träume schärfen. Unsere Wünsche belangen die Geschichte dafür,
dass Wünsche möglich und erfüllbar sind; wir belangen sie
als Zeugen für unsere eigenen Wünsche ... Das ist der Inhalt des
Gedankens der Solidarität der Generationen: Allein bist du klein, und
allein verkümmert deine Lebenskraft... Man braucht viele Geschwister,
lebendige und tote...» (Steffensky, 39).
Die Autorin: Dr. Regula Grünenfelder ist Fachmitarbeiterin der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks.
Literatur: Hans Dieter Betz, Der Galater-Brief, München 1988; Walter Radl, Galaterbrief, (Stuttgarter Kleiner Kommentar NT 9), Stuttgart 1985; Fulbert Steffensky, Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 1989.
Ein Moment der Sammlung die Teilnehmenden werden eingeladen, in einer Geste den Geist einzuladen, gemeinsam, aber mit Aufmerksamkeit nur auf die eigene Form den Text lesen die Teilnehmenden drücken in einer Geste aus, was der Text bei ihnen auslöst Austausch.
Gespräch über die Herausforderungen von Pfingsten in der frühen Kirche und den revolutionären, aber deutlich konventionellen Vorschlag des Paulus.
Vielstimmigkeit heute: Wie bin ich mir und anderen kenntlich als Christin, als Christ? Wie nähre ich mich von den drei ersten Früchten Liebe, Freude, Friede?