38/2003 | |
INHALT |
Leitartikel |
Am 4. Dezember 1963 verabschiedeten die Bischöfe auf dem Zweiten
Vatikanischen Konzil mit der überwältigenden Mehrheit von 2147
Ja- bei 4 Nein-Stimmen als ersten Beschluss die Liturgiekonstitution «Sacrosanctum
Concilium» (SC). Sie war Auftakt der umfassenden Erneuerung von Kirche
und Liturgie. Schon im Januar 1964 wurde die Liturgiereform konkret in die
Wege geleitet; 25 Jahre später sollte Papst Johannes Paul II. sie «die
sichtbarste Frucht des Konzils» nennen. Sie wurde zur Konzilszeit
brennend erwartet, ja teils euphorisch begrüsst, wenngleich wie
zu vermuten ein solches Unterfangen nicht ohne Widerspruch blieb und
in der Durchführung gelegentlich Schwierigkeiten auftraten.<1> Aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte darf diese
Erneuerung des Gottesdienstes, auch im Vergleich zu ähnlichen Initiativen
in der Geschichte, als die grösste und bedeutendste Liturgiereform
der katholischen Kirche bezeichnet werden. Sie ist von klaren theologischen
Grundlagen und Prinzipien geleitet. Sie führte zu einer Neubesinnung
auf das Wesen des Gottesdienstes und brachte eine erneuerte Gestalt der
Liturgie mit sich. Auch wenn sich seit 1963 tief greifende Wandlungen in
Kirche und Theologie, Kultur und Gesellschaft vollzogen haben, bleiben die
Vorgaben der Liturgiekonstitution massgeblicher Bezugspunkt für das
liturgische Leben heute.
Auf Initiative der Liturgischen Kommission der Schweiz (LKS) ist dieses
40-jährige Jubiläum Anlass zu einer Artikelserie, in der zentrale
Anliegen der Konstitution wiedergelesen werden. Zugleich soll dabei
je nach Thema unterschiedlich die gegenwärtige liturgische Situation
in den Blick kommen; soweit möglich werden Perspektiven für das
gottesdienstliche Handeln in der Zukunft skizziert.<2>
Als die Bischöfe auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Schema über
die Liturgie berieten, konnten sie auf reiche Vorarbeiten zurückgreifen,
die im Zuge der Liturgischen Bewegung seit Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht
worden waren. Ein vorrangiges Anliegen war es, zu einer neuen theologischen
Begründung der Liturgie zu finden. Zu sehr war das gottesdienstliche
Handeln in der nachtridentinischen Epoche unter rubrizistischen Gesichtspunkten
betrachtet worden und hatte die regelkonforme Ausführung im Mittelpunkt
des Interesses gestanden; zu wenig war in Theorie und Praxis nach einer
Theologie der Liturgie gefragt worden.
Zu einem der Schlüsselbegriffe für das Verständnis des
gottesdienstlichen Handelns wurde in der Liturgiekonstitution das «Pascha-Mysterium».
Besonders die so genannte «Mysterientheologie» des Benediktiners
Odo Casel (18861948) aus der Abtei Maria Laach und daran anknüpfende
Studien hatten die Basis gelegt. Darauf aufbauend hat das Konzil das «mysterium
paschale» in die Mitte des liturgischen Feierns und des liturgietheologischen
Denkens gestellt. Mag dieser Begriff auf den ersten Blick auch recht abstrakt
erscheinen, so geht es dabei nicht nur um eine theologische Idee, sondern
um konkret gelebte christliche Existenz, die die Liturgie mitten in das
Leben hineinstellt.
Sowohl die theologische Grundlegung der Liturgie als auch das geistliche
Leben aller Getauften sollen vom Pascha-Mysterium ausgehen. Sie sollen sich
stets neu darauf besinnen und geistlich davon befruchten lassen. In SC 2
formuliert das Konzil gleichsam als Zielvorgabe christlicher Existenz: «In
der Liturgie, besonders im heiligen Opfer der Eucharistie, Ðvollzieht
sichð Ðdas Werk unserer Erlösungð, und so trägt sie
in höchstem Masse dazu bei, dass das Leben der Gläubigen Ausdruck
und Offenbarung des Mysteriums Christi und des eigentlichen Wesens der wahren
Kirche wird...».
Was aber ist mit «Mysterium Christi» bzw. «Pascha-Mysterium»
gemeint? Die Konstitution fasst den Begriff «Mysterium Christi»
weit: er reicht von der Inkarnation bis hin zur eschatologischen Vollendung;
ja, gemäss neutestamentlicher und patristischer Theologie wird auch
das Handeln Gottes im Ersten Bund vom Christusmysterium her gelesen und
werden Schöpfung und Geschichte des Volkes Israel unter anderem christologisch
interpretiert. Seine Aufgipfelung findet das Mysterium Christi aber im Pascha-Mysterium
mit seinen Momenten von Leiden, Sterben, Auferstehung und Verherrlichung
Christi. Der Christus-Hymnus des Philipperbriefes (2,611) bringt diese
Dimensionen in ihrer Einheit gut zum Ausdruck, wenn er die Entäusserung
Christi, seine Erniedrigung am Kreuz und die Erhöhung durch die Auferweckung
besingt.
In dieser Sicht wird die Liturgie in ihrer Gesamtheit als fortdauernde Vergegenwärtigung
und Realisierung des Heilswirkens Gottes an Mensch und Welt unter den Bedingungen
von Raum und Zeit verstanden. Alles Leben und alle Geschichte sind Raum
des Wirkens Gottes, «Heilsgeschichte». In der Liturgie werden
alle ihre Dimensionen präsent; der einzelne Mensch und die Gemeinschaft
der Christusgläubigen, die Kirche, werden je neu zu Zeitgenossen des
ursprünglichen Heilshandelns Gottes. Dabei wird die Geschichte von
Christus her gelesen und gefeiert und die Zukunft letztlich auf Christus
hin entworfen.
Die Liturgie bringt dies vielfältig zur Sprache. Erinnert sei etwa
an das Exsultet der Osternacht, einen der grossen liturgischen Texte, in
dem in hymnischer Form das göttliche Heilshandeln besungen wird. Dieses
reicht von der ersten Schuld Adams über die Errettung Israels aus der
Fremde bis hin zu Christus, der die «Fesseln des Todes zerbrach»,
dem «wahre[n] Morgenstern, der in Ewigkeit nicht untergeht».
An ihm haben alle Menschen teil, die in dieser Nacht durch Taufe, Firmung
und Eucharistie der Gemeinschaft der Kirche zugehörig werden, genauso
wie jene, die als Getaufte leben, glauben und sich zu ihm bekennen. Auf
andere Weise formulieren zum Beispiel die Präfationen, besonders jene
für den Sonntag und die Osterzeit, diese theologischen Überzeugungen
in lobpreisend-hymnischer Sprache. So drückt die Liturgie aus, was
gewachsener Glaube ist und vom Konzil in verschiedenen Zusammenhängen
entfaltet wird: Das Handeln Gottes in Schöpfung und Geschichte gipfelt
im Christus-Geschehen auf, und dieses selbst wiederum ist nicht mit der
irdischen Existenz Christi und seiner Erhöhung zum Vater abgeschlossen,
sondern ist offen auf die Vollendung hin.
Vor diesem Hintergrund bietet SC 5 eine Umschreibung dessen, was das
Pascha-Mysterium meint: «Dieses Werk der Erlösung der Menschen
und der vollendeten Verherrlichung Gottes, dessen Vorspiel die göttlichen
Machterweise am Volk des Alten Bundes waren, hat Christus, der Herr, erfüllt,
besonders durch das Pascha-Mysterium: sein seliges Leiden, seine Auferstehung
von den Toten und seine glorreiche Himmelfahrt. In diesem Mysterium Ðhat
er durch sein Sterben unseren Tod vernichtet und durch sein Auferstehen
das Leben neugeschaffenð [Osterpräfation im Missale Romanum (ed.
1570/1962)]. Denn aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus ist
das wunderbare Geheimnis der ganzen Kirche hervorgegangen.»
«Konkretisiert wird der allgemeine Verweis auf die Kirche, auf die
eine ganze Kirche, im folgenden Abschnitt (SC 6): Es ist die Taufe, welche
Menschen Ðin das Pascha-Mysterium einfügtð und wodurch je und
je aus Menschen Kirche entsteht. Das Pascha-Mysterium selbst ist sofern
eine zeithafte Reihung überhaupt sachgerecht sein mag vor der
Kirche und den Gliedern, weil [es] ein je und je aktuelles Handeln Christi
[ist]. Die Kirche aber bleibt in der Zeit bis zur Parusie des Herrn, indem
sie sich kraft des Heiligen Geistes zur Feier des ihr vorausgehenden
Pascha-Mysteriums je und je versammelt. Das Pascha-Mysterium entsteht
nicht in der liturgischen Feier, auch nicht mit der Feier, sondern die zur
Liturgie versammelte Kirche feiert gedenkend das Heilshandeln des ewigen
Gottes, der immer grösser ist, grösser auch als selbst seine Sakramente
in der Zeit der Kirche.»<3> Mit dem
Begriff «Pascha-Mysterium» ist also nicht etwa ein rein historisches
Geschehen gemeint, vielmehr wird es in der Zeit der Kirche kraft der Liturgie
je neu vergegenwärtigt; so erhalten die Menschen aller Generationen
daran Anteil.
Über die Liturgiekonstitution hinaus gehen spätere Konzilstexte
in ähnliche Richtung. Die Pastoralkonstitution «Gaudium et spes»
spricht in Art. 22 von Christus als dem Urbild des von Gott erneuerten Menschen.
Der Christ wird dem Pascha-Mysterium Christi eingegliedert; er wird «dem
Tod Christi gleichgestaltet», tritt also mit in die Schicksalsgemeinschaft
des sterbenden Christus ein, geht aber gleichzeitig, «durch Hoffnung
gestärkt, der Auferstehung entgegen». Damit wird das Pascha-Mysterium
Jesu Christi, je neu vergegenwärtigt und gefeiert in der Liturgie,
zum spirituellen Lebensraum aller Christen (vgl. auch das Missionsdekret
«Ad gentes» 14). Dies ist nicht eine gleichrangige unter vielen
anderen Wahrheiten des christlichen Glaubens, sondern sie steht im Zentrum.
Nicht nur die Liturgie, sondern genauso pastorales Handeln und theologisches
Fragen und Forschen haben darin ihre einende Mitte. In dieser radikal neuen
Wirklichkeit zu leben, verlangt von den Getauften auch die Zeugnisgabe gegenüber
ihren Mitmenschen.
Höchst bemerkenswert ist schliesslich, dass diese Aussage über
das Pascha-Mysterium nicht nur «für die Christgläubigen,
sondern für alle Menschen guten Willens» gilt, weil so
das Konzil «der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet,
diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden
zu sein» (GS 22). Damit darf das Pascha-Mysterium als «die Ðsakramentaleð
Konkretion des je ganzen und universalen Heilshandelns Gottes» bezeichnet
werden.<4>
So versteht sich Liturgie in ihren vielfältigen Formen und Gestalten
und unter den sich wandelnden Bedingungen, die Mensch und Gesellschaft,
Zeit, Raum und Kultur mit sich bringen, in erster Linie als Feier dieses
Heilsgeschehens Gottes in Jesus Christus. Ohne theologisch einseitig zu
werden, ist deshalb heutige Theologie der Liturgie primär christologisch
ausgerichtet. Sie hat vor allem den österlichen Christus im Blick;
von ihm her findet die Geschichte vom ersten schöpferischen Wort Gottes
bis zum letzten Wort des Weltenrichters ihren Sinn. Der Begriff «Pascha-Mysterium»
wird gewissermassen zu einer Kurzformel der Selbstmitteilung Gottes in der
Geschichte des Heils.
Wir können hier nicht den Ausformungen des liturgischen Gedächtnisses
des Pascha-Mysteriums im Einzelnen nachgehen. Doch sei wenigstens kurz angemerkt,
dass das Konzil schon in der Liturgiekonstitution sowohl Taufe und Eucharistie
als auch die übrigen sakramentlichen Feiern als Vollzug des Pascha-Mysteriums
betrachtet, was kraft des Wirkens des Geistes ermöglicht wird (vgl.
SC 6 und 61). Besonders entwickelt wird dies bei den Feiern in der Zeit:
dem Kirchenjahr mit seinen Christusfesten, aber auch den Heiligenfesten,
die durch die Einbindung in das Pascha-Mysterium ihre Berechtigung erhalten
(SC 102111). Die theologische Grundlegung der Tagzeitenliturgie argumentiert
in der Liturgiekonstitution noch ohne Bezug auf das Pascha-Mysterium (SC
8386), doch wird dieses Defizit später in der «Allgemeinen
Einführung in das Stundengebet» aufgearbeitet.
In der liturgischen Arbeit in Pfarreien, Kommunitäten und Diözesen
stehen zwangsläufig meist andere Anliegen als liturgietheologische
Fragen im Vordergrund, wie zum Beispiel eine adäquate Liturgiegestaltung,
das wertvolle Engagement von Gottesdienstvorbereitungskreisen, die Sorge
um die Feier mit den Menschen von heute in ihrer Lebenswelt und mit ihrem
oft verunsicherten Glauben. Solcher Einsatz ist unbedingt erforderlich.
Gleichwohl ist bei den vielfältigen Aktivitäten im Umfeld der
Liturgie immer die Begründung des Gottesdienstes im Blick zu behalten:
Warum eigentlich feiern wir Liturgie? Worauf stützen wir uns, wenn
wir Gottesdienst, ganz gleich in welcher Form, halten? Nur wenn diese theologischen
Hintergründe klar sind, kann es gelingen, dass gemäss Konzilswunsch
Liturgie auf längere Sicht wirklich «Quelle und Höhepunkt»
(SC 10) des Lebens wird. Nur dann kann der Gottesdienst das Leben der Menschen
im Alltag und im Glauben prägen, vertiefen und immer wieder neu orientieren.
Nur dann bleibt deutlich, dass Liturgie mehr ist als einfach ein «Ritual»,
wie es deren viele gibt, sondern geistgewirkte Begegnung von Gott und Mensch
in der Feier des Christus-Mysteriums.
Liturgisches Engagement, das aus vermeintlich pastoralen Motiven und im
Blick auf den Menschen in seiner Zeit auf die Rückfrage nach dem theologischen
Kern verzichtet, gerät leicht in Gefahr, sich seiner Sinnmitte zu berauben.
Damit verbraucht es sich rasch in pastoraler Geschäftigkeit und bei
der Suche nach oft konsumorientierter Bedürfnisbefriedigung in der
marktwirtschaftlichen Spannung von Angebot und Nachfrage. Liturgie als Feier
des Pascha-Mysteriums, als Teilhabe am Christusgeschehen und damit Partizipation
an den Machterweisen Gottes zwischen Schöpfung und Vollendung: das
haben die Konzilsväter von neuem hervorgehoben. Das ist nicht nur am
Katheder gelehrte Theologie, sondern recht verstanden existentiell
betreffende Wirklichkeit. Die Konzilsväter haben in der Liturgiekonstitution
eine Herausforderung aufgegeben, die es 40 Jahre später immer noch
einzuholen gilt.
Martin Klöckener ist seit 1994 ordentlicher Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Freiburg. Er ist Mitglied der Liturgischen Kommission der Schweiz (LKS).
1 Zur Durchführung und Aufnahme der Liturgiereform in der Schweiz vgl. besonders Walter von Arx, Nachkonziliare Liturgiereform in der deutschsprachigen Schweiz, in: Martin Klöckener/Benedikt Kranemann (Hrsg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes, Bd. 2, (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 88), Münster 2002, 847860; Martin Klöckener, Erwartungsvoller Aufbruch. Die Anfänge der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils im Spiegel der «Schweizerischen Kirchenzeitung», in: Martin Klöckener/Arnaud Join-Lambert Hrsg.), Liturgia et Unitas. Liturgiewissenschaftliche und ökumenische Studien zur Eucharistie und zum gottesdienstlichen Leben in der Schweiz, Freiburg Schweiz/Genf 2001, 319354.
2 Die Autoren sind Mitglieder der LKS oder haben anderweitig eine besondere Qualifikation im Bereich der pastoralliturgischen Arbeit oder der Liturgiewissenschaft.
3 Angelus A. Häussling, «Pascha-Mysterium». Kritisches zu einem Beitrag in der dritten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 41 (1999) 157165, hier 162f.
4 Vgl. ebd. 163.