36/2002

INHALT

Kirche in der Schweiz

Mit Freude Kind Gottes sein im Leben und im Sterben

von Bischof Kurt Koch

 

Die Menschen aller Zeiten haben sich Vorbilder genommen, um ihrem Leben Orientierung zu geben. Auch heute brauchen wir Menschen Vorbilder. An den Vorbildern, die jemand sich gibt, kann man unzweifelhaft ablesen, wie er sich selbst versteht. Die Vorbilder, die heute im Mittelpunkt stehen, sind zumeist erfolgreiche Menschen: im Geschäftsleben, im Sport, in der Politik und oft sogar in der Kirche. Wer es ganz genau wissen will, wer in der heutigen Welt Vorbildfunktion übernommen hat, der braucht sich nur einen Abend lang den täglichen Telespot im Fernsehen anzuschauen. Im Vordergrund stehen hier die Erfolgreichen und die Arrivierten, die Glücklichen und die Gewinner auf der Sonnenseite des Lebens.

Grundhaltung glaubender Kindlichkeit

Wer käme in dieser gesellschaftlich ungesunden Atmosphäre auf die Idee, sich als Vorbild für das eigene Leben ein Kind zu nehmen, wie es Jesus im heutigen Evangelium tut: «Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich» (Mt 19,13­15)? Jesus weiss offensichtlich, welche Botschaft das Kind in sich trägt und uns Erwachsenen vermitteln will. Bereits in der menschlichen Erfahrung zeichnet sich das Kind dadurch aus, dass es auf andere Menschen ganz und gar angewiesen ist. Es lebt buchstäblich auf Kosten anderer. In dieser Armut und Ohnmacht des Kindes liegt aber ein grosser Reichtum verborgen. Das Kind zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es noch staunen und sich von Herzen freuen kann.
Der Reichtum, der in der Lebenshaltung einer elementaren Kindlichkeit verborgen liegt, ist nirgendwo so schön offenbar wie in der Beziehung des Menschen zu Gott. Vor Gott darf sich der Mensch erst recht als Kind erfahren, das auf ihn ganz angewiesen ist und ihm sein Leben bis in die letzten Fasern hinaus verdankt. So hat sich Jesus selbst erfahren, genauerhin als Sohn jenes Vaters, den er auf intime Weise «abba» genannt hat. In dieser zärtlichen Geborgenheit bei seinem Vater spricht Jesus auch seine besonderen Seligpreisungen aus. Jesus preist genau diejenigen selig, die auf den hintersten Rängen des Lebens figurieren. Den Armen und Leidenden schickt er sein besonderes Glückwunschtelegramm. Denn diese wissen, was es heisst, Kind zu sein.
In diese Kindesbeziehung zu Gott will Jesus auch uns hineinnehmen, indem er uns einlädt, uns als Kind Gottes zu verstehen und zu erfahren. Diese Einladung Jesu hat Bischof Otto angenommen; und darin sehe ich sein tiefstes Lebensgeheimnis. Er hat nicht nur wie Jesus Kinder sehr gerne gesegnet, sondern er hat in dieser Grundhaltung einer glaubenden Kindlichkeit auch gelebt und in seinen vielfältigen Aufgaben im kirchlichen Dienst gewirkt: als Vikar an der Marienkirche in Bern, als Generalsekretär des Schweizerischen Katholischen Volksvereins, als Regens des Priesterseminars in Solothurn, als Bischofsvikar und Leiter des Diözesanen Personalamtes, als Weihbischof, als Diözesanbischof, als Vizepräsident der Schweizer Bischofskonferenz und in den wenigen Jahren nach seiner Demission im Jahre 1993. In dieser Grundhaltung der Kindlichkeit, die wir in radikaler Weise im Tode machen müssen, ist er auch gestorben. Denn im Sterben müssen wir alles aufgeben und dürfen doch hoffen, dass alles neu werden wird.


Bischof Otto Wüst nach seinem Rücktritt als Bischof von Basel
(Foto Benno Bühlmann)

 

Im Dienst der Verkündigung des Wortes Gottes

Dieser Hoffnung hat Bischof Otto Ausdruck gegeben mit seinem Wahlspruch, den er für sein bischöfliches Wirken gewählt hat: «Im Dienst an Eurer Freude.» In einer Phase der Kirchengeschichte, in der das Wort Bischof selbst innerhalb der Kirche nicht unbedingt mit Freude assoziiert wird, hatte er den Mut, bischöflichen Dienst und Freude zusammenzureimen. Denn mit Papst Paul VI. war Bischof Otto der Überzeugung, die Menschen von heute seien weithin unfähig zur wahren Freude geworden. So konnte Bischof Otto in seiner Ansprache bei seiner Bischofsweihe am 1. Februar 1976 sagen, unsere von der Technik geprägte Gesellschaft habe zwar die Möglichkeiten des Vergnügens vervielfacht, aber es gelinge ihr kaum, die Freude aufkommen zu lassen, und zwar jene «Freude, die man nicht machen kann, die einem als Geschenk des Heiligen Geistes zufällt»: «Geld, Komfort, materielle Sicherheit fehlen nicht, und trotzdem ist die Haltung vieler Menschen von Langeweile, Resignation, Überdruss, Angst und dem Gefühl der Ohnmacht bestimmt.»
Angesichts dieses Lebensgefühls vieler Menschen wollte Bischof Otto nichts anderes sein als «Diener an eurer Freude», freilich nicht einer oberflächlichen Freude, sondern einer tief im Glauben verwurzelten Freude, wie es Paulus selbst in seinem 2. Korintherbrief ausdrückt, dem das Leitwort von Bischof Otto entnommen ist: «Wir wollen ja nicht Herren über euren Glauben sein, sondern wir sind Diener an eurer Freude; denn im Glauben seid ihr fest verwurzelt» (2 Kor 1, 24).
Mit diesem Leitwort nahm Bischof Otto einen grundlegenden Impuls des Zweiten Vatikanischen Konzils auf. Denn im Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe heisst es: «Bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu lehren sollen sie den Menschen die Frohbotschaft Christi verkünden; das hat den Vorrang unter den hauptsächlichen Aufgaben der Bischöfe.»<1> Diese bischöfliche Primäraufgabe des Dienstes am Wort Gottes hat Bischof Otto sehr ernst genommen. Viele von uns erinnern sich an zahlreiche und temperamentvolle Predigten und Homilien, aus denen man das feu sacré, das in ihm lebte, herausgespürt hat. Von seinem Dienst am Wort zeugen aber auch seine zehn Hirtenworte, die er als Diözesanbischof jeweils in der Fastenzeit geschrieben hat. Wenn wir uns diese wegweisenden und voll Verständnis und Barmherzigkeit geschriebenen Hirtenworte vergegenwärtigen, dann tritt an den Tag, dass Bischof Otto stets das Evangelium von Jesus Christus, wie es durch die Heilige Schrift bezeugt und durch die Tradition der Kirche überliefert ist, und damit die Grundwahrheiten des christlichen und katholischen Glaubens in den Mittelpunkt seiner Verkündigung gestellt hat. Diese Hirtenworte legen nicht nur ein beredtes Zeugnis von der unbeirrbaren Treue von Bischof Otto zum Zweiten Vatikanischen Konzil ab, sondern sie sind auch ein schöne Erbe, das er uns hinterlässt.
Bischof Otto war sich in seiner Verkündigung selbstverständlich bewusst, dass es um das lebendige Evangelium geht, das in die konkreten Lebensverhältnisse der Menschen Licht bringen und in das praktische Leben eingehen will, und dass deshalb das Evangelium Jesu Christi auf den heutigen Menschen hin verkündet werden muss. Mit seiner aussergewöhnlichen Kenntnis der Zeitgeschichte und vor allem mit seinem Spezialistenwissen über den Zweiten Weltkrieg war er von selbst auch sensibel für die «Zeichen der Zeit», die gläubig wahrzunehmen ebenfalls ein Grundimpuls des Zweiten Vatikanischen Konzils ist.
In dieser Sensibilität war auch sein menschenfreundliches und liebenswürdiges Wesen begründet, das sowohl in seiner persönlichen Hinwendung zu den Menschen als auch in seinem grossen Engagement für Solidarität und Gerechtigkeit zum Ausdruck gekommen ist. Dieses hat sich in vielen Initiativen, die von ihm ausgegangen sind, ausgewirkt. So hat Bischof Otto bei der Gründung der Stiftung «Fastenopfer der Schweizer Katholiken» eine massgebliche Rolle gespielt. Zusammen mit Meinrad Hengartner wird er ohne Zweifel als einer der Gründungsväter dieser Stiftung in die Geschichte eingehen. Dieses Werk der Schweizer Katholiken hat Bischof Otto mit innerer Aufmerksamkeit und persönlichem Engagement begleitet. Im Album, das ihm anlässlich seines Rücktrittes als Präsident des Stiftungsrates im Jahr 1992 von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und seinen Freunden vom Fastenopfer überreicht worden ist, lesen wir diese anerkennenden Worte: «Es war schön, mit Dir zusammenzuarbeiten. Du hast uns auf unserem oft steinigen Weg mit viel Wohlwollen begleitet. Dein spürbares Vertrauen hat uns gut getan. Es entsprach ganz Deinem Leitwort: ÐIm Dienst an Eurer Freudeð.»

Dienst an der Freude und an der Einheit

Am Schluss dieser Erinnerungsschrift muss man freilich lesen, dass das Fastenopfer für Bischof Otto oft auch ein Kreuz gewesen ist. Von der Kreuzesnachfolge blieb Bischof Otto in der Tat nicht verschont. Immer wieder machten sich gesundheitliche Störungen bemerkbar, die seine frühere Tatkraft lähmten. Oft genug geriet er auch ins Kreuzfeuer der Kritik. Dabei war es nicht die positive und aufbauende Kritik, die ihm zu schaffen machte, sondern die destruktive und lieblose Kritik ausserhalb und innerhalb der eigenen Kirche. Als ein Bischof, dessen Führungsstil von Menschenfreundlichkeit und spirituellem Tiefgang geprägt war und der die Gewissensentscheidungen der Menschen sensibel respektierte, muss er selbst am meisten darunter gelitten haben, wenn Einzelne nicht anerkennen wollten, dass auch ein Bischof ein Gewissen hat und verpflichtet ist, ihm zu folgen. In seinen letzten Lebensjahren hat Bischof Otto viel über sein Wirken nachgedacht und sich manchmal auch Selbstvorwürfe gemacht. Dennoch konnte er rückblickend auf seine Amtsführung in einem Interview sagen: «Ich bereue nie, dass ich zu milde gewesen bin.» Ich bin überzeugt, dass Bischof Otto dieses Wort uns jetzt auch aus der Ewigkeit zuruft.
Bischof Otto litt vor allem an den innerkirchlichen Spannungen und Auseinandersetzungen und merkte stets deutlicher, wie anfordernd und anspruchsvoll sein gewähltes Leitwort werden konnte. Vor allem spürte er, dass sein «Dienst an Eurer Freude» immer mehr zum Dienst an der Einheit der Kirche werden musste, und zwar an der Einheit in dem ihm anvertrauten Bistum und an der Einheit zwischen der Ortskirche Basel und der Universalkirche und dem Papst. Als Mann der Mitte, der sich für die Bewahrung traditioneller Werte aus innerer Überzeugung einsetzte, der aber auch offen für neue Fragestellungen und Herausforderungen in der Gesellschaft wie in der Seelsorge geblieben ist, versuchte er immer wieder zu vermitteln, vor allem zwischen Wahrheit und Liebe. Jenseits von liebloser Wahrheit und wahrheitsleerer Liebe folgte er jener Weisheit, die Max Frisch in seinem «Tagebuch» einmal so ausgedrückt hat, man solle die Wahrheit einem Menschen hinhalten wie einen Mantel, in den er schlüpfen kann.
Wen kann es da erstaunen, dass Bischof Otto nach neun Jahren seines bischöflichen Dienstes nochmals einen Fastenhirtenbrief zu seinem Leitwort geschrieben hat, und zwar mit dem fragenden Titel «Freude an der Kirche?» In diesem Brief bekannte er, dass er auch jetzt dieses Leitwort wiederum wählen würde. Denn die Botschaft, die wir zu verkünden haben, ist eine «Botschaft der Freude und der Hoffnung». Und Bischof Otto schrieb, dass es ihn sehr freuen würde, «wenn es mir mit der Hilfe Gottes nur ein wenig gelänge, Kirche wieder mehr auf Freude zu reimen».

Freude und Gnade haben einen Namen

Dies ist in seinen Augen freilich nur möglich, wenn wir nach dem wahren Grund der christlichen Hoffnung und der christlichen Freude fragen. Diesen Grund fand Bischof Otto nicht in der Kirche, die er von Herzen geliebt hat, sondern «nur bei Gott, und bei der Kirche nur insofern, als Gott selber in ihrer Mitte ist»: «Grund zur Freude haben wir nicht, weil wir vielleicht eine überzeugte Gemeinschaft von Glaubenden sind. Grund zur Freude haben wir nur, weil es um Gott geht, insofern Er in unserer Mitte lebt. Denn wir sind Kirche, nicht weil wir gut sind und vieles auch gut tun; wir sind vielmehr Kirche, weil Gott gut ist und in uns den Geist des Friedens und der Freude wirkt.»
In diesen Worten stossen wir auf die Kernmitte der Glaubensüberzeugung von Bischof Otto. Der Grund der Freude, in deren Dienst er stand und aus der er selbst lebte, liegt in jener Wirklichkeit, die bereits sprachlich mit der Freude verwandt ist, nämlich in der Gnade. Gnade und Freude aber hatten für Bischof Otto einen konkreten Namen: Jesus Christus. Bischof Otto war zutiefst überzeugt, dass nicht wir Menschen, auch nicht die Bischöfe, letztlich die Geschicke der Kirche lenken, sondern Jesus Christus, und dass Er der Grund unserer Hoffnung für die Kirche und der Grund unserer Freude an der Kirche ist. So sagte Bischof Otto in seiner Ansprache bei seiner Bischofsweihe: «Im Dienst steh' ich an Eurer Freude! Von Jesus Christus, dem Grund unserer Freude, möchte ich Zeugnis geben, seine frohe Botschaft verkünden ohne Abstriche und Entstellungen, die menschlichen und göttlichen Dimensionen seiner Person, die Wirklichkeit des Kreuzes und der Auferstehung zum Leben, gelegen oder ungelegen.» Bischof Otto war überzeugt, dass Christus keine billige Freude bringt, die über Leiden und Kreuz hinwegtäuscht, sondern dass er Leiden und Kreuz in das Licht der Liebe Gottes stellt. Denn durch Jesus Christus ist die Ewigkeit schon anwesend in dieser Weltzeit.
In diese Ewigkeit ist unser Bischof Otto jetzt heimgegangen. Auf diese Ewigkeit hin hat er gelebt und sie in den letzten Tagen stets intensiver geahnt. Im ewigen Leben ist jetzt auch seine Lebenshaltung einer glaubenden Kindlichkeit aufgenommen in die Gemeinschaft der Söhne und Töchter, die bei Gott leben. Weil Bischof Otto sich das Kind Gottes als Vorbild seines Lebens und Wirkens gewählt hat, konnte er auch ein väterlicher Bischof sein, der sein Herzblut hingegeben hat für das ihm anvertraute Volk Gottes im Bistum Basel. Als Bischof Otto am vergangenen Montag nach schweren inneren Blutungen verstorben ist, war dies für mich das äussere Zeichen seiner inneren Haltung. Bischof Otto ist verblutet, und zwar innerlich: «Im Dienst an Eurer Freude.»
Mit Bischof Otto müssen wir Abschied nehmen von einem liebenswürdigen Menschen mit solidem Wissen und zugleich tiefsinnigem Humor, einem tief im Glauben unserer Kirche verwurzelten Christen, einem überzeugten Priester und einem väterlichen Bischof, der uns ein wunderbares Glaubenszeugnis hinterlässt. Für all das danken wir Ihm von Herzen.
Im Namen der Gläubigen, der Seelsorgerinnen und Seelsorger und der Priester unseres Bistums und weit darüber hinaus darf ich Dir, lieber Bischof Otto, jene Worte des Apostels Paulus zurufen, mit denen Du uns in Deinem Grusswort am Tag Deiner Amtseinsetzung als Diözesanbischof am Allerheiligenfest 1982 begrüsst hast: «Der Gott der Hoffnung erfülle Dich mit aller Freude und mit allem Frieden» (Röm 15, 13).
Dies schenke Dir in der Gemeinschaft aller Heiligen und auf die besondere Fürbitte der Gottesmutter Maria, der Du Dein Leben und Sterben anvertraut hast, der lebendige und barmherzige Gott.


Anmerkungen

* Homilie im Beisetzungsgottesdienst für Bischof Dr. Otto Wüst in der Kathedrale St. Urs und Viktor in Solothurn am Montag, 26. August 2002. Erste Lesung: Psalm 121; Zweite Lesung: 2 Kor 1,18­24; Evangelium: Mt 19, 13­15.

1 Christus Dominus, Nr. 12.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2002