19/2002 | |
INHALT |
Pastoral |
Über die Gemeinschaft von S. Egidio hat der Mailänder Kardinal Carlo Martini einmal gesagt, als er als theologischer Lehrer in Rom mit ihr in Kontakt kam: «Hier wird das Gebet ernst genommen, hier wird die Bibel ernst genommen, hier werden die Armen ernst genommen.»<1> Die vorwiegend aus jungen Menschen bestehende neue geistliche Gemeinschaft beeindruckte den Würdenträger durch ihre Einsätze in den sozialen Brennpunkten der Stadt Rom und durch ihr schlichtes abendliches Gebetstreffen in ihrer Kirche in Trastevere.
Wenn heute Pfarreimitglieder solche Äusserungen aus berufenem Mund
hören, fragen sie sich gelegentlich, ob das alles von den Pfarreien
nicht mehr gilt, was da von einer Bewegung ausgesagt wird. In einer offenen
Wortmeldung drückte vor kurzem ein Pfarrer in der Schweizerischen Kirchenzeitung
diesbezüglich seine Sorge aus: Seit Jahren ist aus dem Mund der Kirchenleitung
zu vernehmen, die Hoffnung für die Zukunft der Kirche liege bei den
neuen geistlichen Bewegungen. Er möchte deshalb wissen, was die Kirchenleitung
von der Pfarrei eigentlich für die Zukunft der Kirche noch erwartet.<2> Haben die Pfarreien im 21. Jahrhundert
eine Zukunft oder geht ihr Erbe an die neuen geistlichen Bewegungen über?
Ist damit die Pfarrei zum Auslaufmodell gestempelt?
Ich glaube nicht. Ich bin der Überzeugung, dass die Pfarreien nach
wie vor der erstrangige Ort zur Vermittlung der Heilszusage Gottes an die
Menschen in einem bestimmten geographischen Raum sind und bleiben. Allerdings
zeichnet sich ab, dass den meisten Pfarreien hierzulande ein grosser Wandel
bevorsteht. In den vielfältigen Mitgliedschaftsformen und den pastoralen
Methoden der Bewegungen zeichnen sich Elemente ihrer künftigen Gestalt
ab. Daher bin ich überzeugt: die geistlichen Bewegungen sind angesichts
der Herausforderung, welche die moderne Kultur für den christlichen
Glauben bedeutet, ein ernst zu nehmendes «Zeichen der Zeit»
auch und gerade zur Erneuerung der Pfarreien.
Um dies zu veranschaulichen, werde ich zunächst mit Hilfe der Religionssoziologie
einige Gedanken zum strukturellen Wandel der Pfarrei anstellen (I.). Dann
sollen die geistlichen Bewegungen als heilsames Korrektiv auf der Suche
nach einer künftigen Sozialgestalt der Kirche in den Blick kommen (II.),
um schliesslich nach den notwendigen Schritten vom Nebeneinander zu einer
Kultur des Miteinanders von Pfarreien und Bewegungen zu fragen (III).<3>
Ein lebendiges Pfarreileben ist etwas vom Schönsten, Vielfältigsten und Beeindruckendsten, was es an Gemeinschaftserfahrung im christlichen Glauben gibt. Wo so viele verschiedene Menschen in einer unendlichen Fülle von Lebenssituationen und Lebensentwürfen im Glauben eine konkrete, feiernde und solidarische Gemeinschaft bilden, da sind nicht Menschen allein am Werk, da ist auch das schöpferische und einende Wirken des Heiligen Geistes spürbar. Konkret erfahrbar ist diese geistgewirkte Communio etwa in einem schön gestalteten Sonntagsgottesdienst mit ansprechender Predigt, oder in einem Kinderlager, wo das Zusammenleben aus dem Glauben angeleitet, geübt und gefeiert wird bis hin zum Krankenbesuch, der einem kranken oder sterbenden Menschen und seinen Angehörigen aus dem Glauben tiefen Trost spendet.
Im Strudel des gesellschaftlichen und religiösen Wandels besteht
heute offensichtlich Bedarf, nachzudenken über die Identität der
Pfarrei. Das zeigt die Tatsache, dass landauf und landab viel (vielleicht
mehr als gut ist) von den nötigen Strukturreformen in der Kirche gesprochen
wird. Es herrsche in ihr eine Düsenverstopfung, sagt Hans Küng
(und zitiert Herrn Plankenstein vom Kirchenvolksbegehren), weil zwar Wasser
da ist, aber nicht fliessen kann (Zölibat, Mitsprache bei Bischofsernennungen,
Rolle der Frau usw.). Die Kirche zeige sich daher wie ein «blockierter
Riese»<4> (Manfred Lütz); durch
die Fülle des angestauten Reformbedarfs sei die Kirche wie durch Trance
gelähmt und stehe gefesselt in der Landschaft der modernen Gesellschaft.
Es ist eine Tatsache: die enormen gesellschaftlichen Entwicklungen (der
Individualisierung und Pluralisierung) machen vor der Kirchentüre nicht
Halt, und die Kirche kann sich ihr auf kurz oder lang nicht entziehen. Durch
das Verhalten der Kirchenglieder nämlich werden die Pfarreien unausweichlich
mit den soziokulturellen Entwicklungsschüben konfrontiert, besonders
in ihren Stammzellen wie Familie, Vereine und Gottesdienstgemeinde (partielle
Identifikation, pragmatisierte Kirchenzugehörigkeit). Darin bestätigt
sich, dass die Kirche keine «Insel der Seligen» ist, die sich
einfach aus den stürmischen Zeiten grundlegender gesellschaftlicher
Veränderungen heraushalten kann. Es bleibt die unausweichliche Aufgabe,
den Wandel klug und in Treue zum Ursprung zu gestalten.
Ich möchte diese Kontextbezogenheit der Kirche veranschaulichen am Beispiel des veränderten Teilnahmeverhaltens der Kirchenglieder im Leben der Pfarrei. Während es Anfang der 60er vielerorts noch Normalfall war, dass man von der Wiege bis zur Bahre regelmässig und verpflichtend am Leben der Pfarrei teilgenommen hat (parallel zum Motto: einmal im Kegelclub, immer im Kegelclub), ist dies heute der Ausnahmefall geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Das Konsumverhalten in der Marktgesellschaft verlängert sich in die Kirche, die als religiöser Sinnanbieter wahrgenommen wird (man nimmt sich, was man braucht); die Erlebnisorientierung der Gesellschaft erwartet Unterhaltungswert bei den Veranstaltungen der Pfarrei (es soll etwas geboten werden), das steigende Dienstleistungsangebot weckt die Erwartung, dass die Hauptamtlichen gerade dann da sind, wenn sie gebraucht werden; der demokratische Rechtsstaat weckt das Bedürfnis nach Mitsprache (ich bestimme mit, was geschieht und was geboten wird). Durch diesen Erwartungsdruck gerät das Verständnis der Kirche als Glaubensgemeinschaft, als pilgerndes Gottesvolk, wie es das Zweite Vatikanische Konzil beschreibt (LG 917), ins Wanken. Der Einzelne definiert die Intensität und Regelmässigkeit seiner Teilnahme nach individuellen Vorlieben. Der Slogan lautet: «Gott oder eine göttliche Kraft Ðjað, Pfarrei oder Gemeinschaft Ðlieber nichtð!»
Aufgrund dieser Entwicklung sehen sich die Seelsorger und Seelsorgerinnen
einer vierfachen Segmentierung ihrer Pfarreien gegenüber:<5>
Da sind erstens die 2025% aktiven Kirchenmitglieder, die das kirchliche
Leben in den Pfarreien durch ihre Teilnahme, ihr ehrenamtliches Engagement
in Liturgie, Katechese, Pfarreigruppen und Vereinen mittragen (gemeindeorientierter
Sektor). Ihnen stehen zweitens die 7580% passiven Mitglieder gegenüber,
die bei bestimmten Gelegenheiten wie Lebenswenden (Taufe, Hochzeit, Beerdigung)
oder bei traditionellen Festen wie Weihnachten, Ostern, Kirchweihe usw.
auf die Kirche als Religionsdienerin zurückgreifen (diffuse Christlichkeit).
Man könnte sie die «treuen Kirchenfernen» (M. Kehl) nennen.
Ein dritter Sektor umfasst alle, die durch einen Arbeitsvertrag an die Kirche
gebunden und so von ihr abhängig sind (formale Organisation). Es bleibt
der aufs Ganze gesehen kleine (23%) Bewegungssektor, der sich aus den
neuen geistlichen und sozialen Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche
zusammensetzt.
Während nun die Bewegungen aus der Sicht der Pfarrei quasi als «quantité
négligeable» erscheinen, treten zwei Gruppen besonders in den
Blick: Es sind die aktiven Gemeindechristen, die das Rückgrat der Pfarrei
bilden und ohne die Seelsorger und Seelsorgerinnen keine Arme und Beine
hätte (nota bene: Angehörige von Bewegungen zählen sich oft
auch zu dieser Gruppe). Zweitens gilt das Interesse den «treuen Kirchenfernen»,
die als getaufte Steuerzahler mit der Kirche lose und punktuell in Kontakt
treten und mit denen man es sich nicht verderben will. Auch mir scheint
diese Gruppe wichtig und wertvoll. Wir dürfen sie nicht vernachlässigen,
wenn wir nicht auf eine reine Entscheidungskirche hinwirken wollen, wo diese
zweifelnden, distanzierten und kritischen Menschen keinen Platz mehr finden.
Gerade an ihnen muss die Seelsorge ihre diakonische Grösse erweisen
und darf mit gelassener Absichtslosigkeit ruhig selber ein wenig «pastoraler
Dienstleistungsbetrieb» sein. Andererseits ist dies auf Dauer nur
möglich, wenn die tragenden und den Weg der Glaubensgemeinschaft mitgehenden
Christen genügend gestärkt und genährt sind. Daher gehört
ihnen die grösste Aufmerksamkeit.
Was ergibt sich daraus als Aufgabe für die künftige Pfarreiarbeit?
Erstens braucht es künftig vermehrt eine Stärkung und Vertiefung
des Glaubens für die aktiven Gemeindechristen und zweitens braucht
es neue Formen im pastoralen Umgang mit den Kirchenfernen. Hier ist genau
der Punkt, wo die Bewegungen eine spezielle Bedeutung für die Pfarrei
erhalten, weil sie erstens die suchenden Menschen binden können und
zweitens den tragenden eine vertiefte Spiritualität bereithalten. Das
wachsende Missverhältnis zwischen diesen beiden Gruppen ist nämlich
der neuralgische Punkt für die Zukunft, weil ein Übergewicht an
«Mitläufern» gegenüber den «Tragenden»
(80:20%) die zentrale Identität der Pfarrei als Glaubensgemeinschaft
in Frage stellt und zu einem geistlichen Erschöpfungszustand führt.<6> Wie gelingt es also, dass bestimmte religiöse,
pädagogische und soziale Dienstleistungen erfüllt werden ohne
dabei durch anpasserische Anknüpfung an das gesellschaftliche Umfeld
die eigene Mitte zu verlieren? Und wie ist es andererseits möglich,
den Aufbau einer lebendige Gemeinschaft zu fördern, ohne sich durch
kontrastierende Abgrenzung der Kultur der Moderne entgegenzustellen?
Eine dreifache Antwortrichtung auf diese Herausforderung der Kirche und
ihrer Pfarreien geben die geistlichen Bewegungen. Sie haben Potential, die
Mitte, den Rand sowie die Aussenstehenden der Pfarrei zu beleben, nämlich
erstens durch die Bewahrung des spirituellen Geschmacks am Glauben, zweitens
durch die Betonung der kirchlichen Eigenkultur und drittens durch die Kraft,
suchende Menschen zu binden.
Wenn ich mich den geistlichen Gemeinschaften zuwende, dann im Bewusstsein, dass jede eine eigene, spezifische Sendung und Berufung hat. Ihre gemeinsame Sendung könnte man aber auf eine Kurzformel bringen:<7> Die geistlichen Bewegungen sind ein vom Heiligen Geist geschenktes heilsames Korrektiv, ein «Stachel im Fleisch» für den «Mainstream», also für den Hauptstrom und Haupttrend der grossen Kirchen hierzulande. Geistliche Bewegungen sind so etwas wie die Speerspitzen der geistlichen Erneuerung. Sie sind nicht so sehr die Vorkämpfer der Strukturreform, aber sie sind deswegen nicht, wie Skeptiker denken, das Auffangbecken für Traditionalisten und ewig Gestrige. Sie sorgen dafür, dass der spirituelle Geschmack am Glauben bewahrt wird.
Die geistlichen Bewegungen sind bewusst auf der Suche nach dem «inneren
Verspüren und Verkosten» des Evangeliums (Ignatius von Loyola).
Durch die zentrale Rolle, die der gemeinsam gelebte, ganzheitliche, mit
Leib und Seele erfahrene Glaube bei ihnen spielt, bilden sie eine lebendige
und willkommene Abwechslung zum schwerfälligen Pfarreiapparat. Das
Gefühls- und Erlebnismässige scheint dabei gelegentlich zu hoch
veranschlagt zu sein gegenüber dem rationalen Element des Glaubens,
das etwas in den Hintergrund tritt. Aber im Kern geht es doch um das Wichtigste
des Glaubens: um das Berührtwerden der existenziellen Mitte des Menschen
in seiner Beziehung zu Gott und in seiner Liebe zum Nächsten, dass
also unser Herz vor Gott zu klingen beginnt.
Die Erfahrung dieses Berührtwerdens, so dass der Funke der Freude am
Glauben auch auf andere überspringt, ist in unserem heutigen Kirchenalltag
relativ selten geworden, gerade bei jungen Leuten. Das macht die Pastoral
oft so mühsam und freudlos. Hier können die geistlichen Gemeinschaften
ein Hoffnung weckendes Zeichen gerade auch für die Pfarreien sein,
dass der geistliche Geschmack am Glauben erhalten bleiben kann, auch wenn
die anstehenden Strukturfragen oft ratlos und hilflos machen.
Ähnliche Versuche der Verlebendigung des Glaubens gibt es ebenso in
den Pfarreien etwa durch Bibelgruppen, Gebetskreise, Familienkreise, Jugendgruppen
oder das Erwachsenenkatechumenat. Auch da wird versucht, Glauben und Leben
in Einheit zu erleben und Orte des Austausches zu errichten. Orte also,
wo biographienahe Glaubenserfahrung möglich wird. Hier sehe ich eine
grosse Chance der Zusammenarbeit zwischen Pfarreien und Bewegungen. Die
Pfarreien verfügen über eine geeignete Infrastruktur, die von
den Bewegungen mit neuen Impulsen belebt werden kann.
Die geistlichen Bewegungen haben eine besondere (nicht exklusive) Sendung
für unsere Kirche heute: Sie verstehen es, weithin eine eindeutige
und christliche erkennbare und auch unterscheidbare kirchliche Eigenkultur
zu entwickeln, ohne sie als Gegenkultur der Moderne zu verkünden. Was
ist gemeint? Ihre familienähnliche Struktur, ihre pädagogischen
Methoden, ihre gestuften Zugehörigkeitsformen, der partizipative Führungsstil
ist in vielem sehr verträglich mit der heutigen Lebenskultur. Ihr Innenleben
schöpft unverkürzt und selbstbewusst aus dem reichen Reservoir
der Tradition an Symbolen, an Liturgie, an Erzählungen, geistlichen
Erfahrungen, an Gesängen, an Bekenntnisformeln und an diakonischen
Initiativen usw. Sie bietet daraus eine umfassende, sinnstiftende Lebens-
und Weltdeutung aus der Mitte des christlichen Glaubens an.
Auf diese Weise wird gerade durch die geistlichen Bewegungen die Kirche
für viele unserer Zeitgenossen zu einer Art «Wahlheimat»
(A. Wollbold), also eine kirchliche Heimat, die ihnen nicht einfach nur
geographisch oder biographisch vorgegeben ist, sondern die sie frei gewählt
haben und an der sie mitbauen, so dass sie für sie selbst und andere
ein bergendes Haus im Glauben werden kann.
Gerade für die Menschen in den Pfarreien, die mehr suchen oder die
sich sehr engagieren, ist es wichtig, Quellen des geistlichen Lebens zu
eröffnen und fliessen zu lassen, sonst geht ihnen die Luft aus. So
gibt es in den Gemeinden und in den geistlichen Bewegungen jeweils zukunftsträchtige
Entwicklungen, die es bewusst aufzugreifen und zu begleiten gilt. Je mehr
diese vielfältigen «Oasen» des gemeinsamen Glaubenslebens,
diese «kommunikativen Glaubensmilieus» (M. Kehl) in die Pfarrgemeinden
integriert werden können, umso höher stehen die Chancen, dass
solche Gemeinden spirituell und kommunikativ nicht austrocknen, sondern
einen kleinen Gegenakzent zum allgemeinen Trend setzen können. Die
Gemeinden können sich vor dem Absinken in die Oberflächlichkeit
von «religiösen Erlebnisräumen» schützen, indem
sie solche kleinen Zellen lebendigen Glaubens in ihrer Mitte fördern.
Die Bedeutung der Neuaufbrüche in den Pfarrgemeinden und den geistlichen
Gemeinschaften können sich heute besonders segensreich auswirken, wo
es um die Vermittlung des Glaubens für die jüngeren und suchenden
Menschen geht. Auf neuen Wegen können sie überhaupt erst ihre
christliche und kirchliche Berufung entdecken. Die Kirche gewinnt durch
sie eine unerwartete Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft, die zur «geistlichen
Entdeckungsfahrt» (M. Kehl) innerhalb einer Gemeinschaft einlädt.
Man könnte also sagen, dass die Bewegungen, wo sie sich nicht in ihre
eigene religiöse Nischenkultur zurückziehen, die missionarische
Kraft der Kirche in unseren Breiten verkörpern. Sie tun dies in der
doppelten Richtung einer Mission mit Tiefenwirkung (durch die Erneuerung
der geistlichen Quellen) und einer Mission der Breitenwirkung (durch die
Eröffnung neuer Zugänge zum Glauben). Hier liegt meines Erachtens
ein zentraler Auftrag für Priester und Hauptamtliche in der Kirche,
wenn sie sich wirklich als Seelsorger und Seelsorgerinnen verstehen. Es
wird mit Recht von ihnen erwartet, dass sie diese missionarische Dynamik
der Neuaufbrüche ernst nehmen und fördern.
Auf diese Weise bieten die phantasievollen Aufbrüche in den Bewegungen
und in den Pfarreien eine gute Möglichkeit, das «Geschenk des
Neuanfangs» im Glauben zu erleben und in überraschender Weise
die Breite und Länge, die Tiefe und Höhe des Lebens aus dem Geheimnis
des Glaubens zu entdecken (vgl. Eph 3,18). Hier liegt die Chance der Kirche,
aus den Kirchenfernen immer wieder überzeugte und aktive Christen zu
gewinnen. Wir sollten nicht vergessen: Selbst die erbittertsten Gegner der
Kirche können schon morgen ihre tragenden Säulen sein.
Es ist also auffällig, dass aus dem Sektor der «Kirchenfernen» sich zahlreiche Menschen zu den Bewegungen hingezogen fühlen. Sie erfahren hier eine überraschende Menschlichkeit und Unmittelbarkeit. Dagegen tun sich gerade viele Engagierte und Hauptamtliche in den Pfarreien, Verbänden und Orden sehr schwer mit den neuen geistlichen Gemeinschaften. Warum ist das so?
Sicher schreckt das enthusiastische Auftreten einiger Gemeinschaften
den nüchternen «Normalverbraucher» ab. Man ist sich halt
nicht gewohnt an das öffentliche Missionieren, öffentliches Schuldbekenntnis,
aussergewöhnliche religiöse Erfahrungen wie Heilungen und Ekstasen
oder das spontane, lange Beten und Singen. Schlechte Erfahrungen mit übereifrigen
Gruppierungen, die zu Spaltungen in den Pfarreien führen, spielen da
sicher eine Rolle. Dazu stösst manche theologische und gesellschaftspolitische
Rechtslastigkeit einiger Bewegungen ab, und viele sehen die Gefahr der religiösen
Nischenkultur, des Übereifers, der Exklusivität ihres Weges in
der gelebten Nachfolge, des Übergewichtes der Universalkirche vor der
Ortskirche, der Distanz zur Pfarrei und der mangelnden gesellschaftskritischen,
öffentlichen Präsenz. Christoph Kardinal Schönborn stellt
diese Schwächen in das Licht des noch unausgegorenen Aufbruchs und
spricht von den «Kinderkrankheiten» der Bewegungen. Er fügt
hinzu: «Es ist durchaus legitim und notwendig, die Gefahren, die in
den neuen geistlichen Bewegungen gegeben sind, zu benennen und ihnen bewusst
zu begegnen.»<8>
Trotz diesen Schwächen und Grenzen bleibt die Frage, ob eine oft so
massive Ablehnung nicht auch damit zu tun hat, dass diese Gruppen einfach
durch ihr Dasein eine gewohnheitsmässige und relativ oberflächlich
ablaufende Glaubenspraxis in Frage stellt. Man spürt, dass hier authentischere
Wege des gemeinsamen Glaubens gesucht werden, ist aber nicht bereit, sich
auf sie einzulassen und sein Leben so grundsätzlich vom Glauben, vom
gemeinsamen Glauben bestimmen zu lassen. Ein Grund für das Misstrauen
der Pfarreiverantwortlichen mag der Neid der Besitzlosen sein. Er gründet
darin, dass ihnen abhanden gekommen ist, was die neuen Gemeinschaften und
kirchlichen Bewegungen mit einer Selbstverständlichkeit leben.
Hier bedarf es der sensiblen Geduld und Gelassenheit von allen Seiten, um
zerstörerische Polarisierungen zu vermeiden, aber dennoch nicht die
gegenseitige Herausforderung und Bereicherung zu verhindern. Und es bedarf
des heiligen Respektes vor der religiösen Empfindung und Praxis des
anderen, den wir nicht nur im Umgang mit anderen Religionen benötigen,
sondern gerade auch innerhalb unserer zunehmend pluralen katholischen Kirche.
Es darf nicht sein, dass ein «bewegter Mensch» als fromme Seele
belächelt wird oder in Sektenverdacht gerät, weil er eine für
ihn authentische, von der Masse der Durchschnittschristen abweichende religiöse
Praxis wählt. Andererseits müssen auch Mitglieder der Bewegungen
den Respekt vor den ganz gewöhnlichen Gemeindechristen bewahren ohne
sie der Lauheit zu verdächtigen. Es gibt ja auch Pfarreimitglieder,
die alltäglich ihre christliche Nachfolge überzeugend leben und
selbstverständlich das Gebotene tun.
Gelegentlich ist auch folgende Kritik an den Bewegungen zu hören:
Die Gemeinden rufen nach Strukturveränderungen, die Bewegungen bringen
geistliche Erneuerung. Es wäre zu schlicht, das Spirituelle in der
Kirche gegen das Strukturelle auszuspielen. Zweifellos brauchen existenzgefährdende
Probleme der Kirche eine Lösung, um ihr Überleben bei uns zu sichern
(Regionalisierung der Seelsorge durch den Aufbau grösserer Seelsorgeeinheiten,
profilierte Pfarreien, Citypastoral, Diskussion um die Zulassungsbedingung
zum priesterlichen Amt usw.). Sie sind nicht der ungestörten Pflege
des Spirituellen willen zu verdrängen. Eine gesichtslose Spiritualität
hat meist keinen langen Atem und kann der sehr menschlichen, irdischen Kirche
auf Dauer keinen grossen Dienst erweisen. Aber umgekehrt gilt auch, dass
bei all den vielen strukturellen Überlegungen und Veränderungsvorschlägen
eine grosse Gefahr besteht. Wir fixieren uns in den Pfarreien doch häufig
darauf, diesen an den wirklichen Herausforderungen unserer Gesellschaft
gemessenen «kleinen Sorgen» einen zu grossen Raum in unserem
Denken und Handeln einzuräumen. Von den klug ausgedachten und angestrebten
Lösungen wird insgeheim zu viel an heilender und erneuernder Kraft
erwartet. Viele sind deswegen auch leicht enttäuscht, weil das Erwartete
nicht oder nicht sofort eintrifft.
Es hat keinen Sinn, diese beiden Gestalten der Glaubensgemeinschaft gegeneinander
auszuspielen. Denn auch das geistliche Leben bedarf der Institution, ohne
die es amorph wird, unstrukturiert, gestaltlos und sich zu erschöpfen
und leer zu werden droht.
Eine Kultur des Miteinanders erwächst meiner Meinung nach aus der
gemeinsamen Beschäftigung mit der Zukunft der Kirche. Daraus entsteht
eine Bereitschaft, die Kirche im Wandel zu verstehen und ihr gemeinsam ein
neues, buntes Pilgerkleid zu entwerfen. Die verschiedenen Antwortversuche
innerhalb der einen Kirche sind einerseits je spezifisch und sehen sich
andererseits gemeinsamen Aufgaben gegenüber. Dabei gilt es, Angst und
Hemmung vor dem anderen zu verlieren, aufeinander zuzugehen und zu erkennen,
dass es nicht stimmt, dass die einen vorwärts und die anderen rückwärts
gerichtet sind.
Eine Kultur des Miteinanders beinhaltet auch, dass gestritten wird: das
meint Kommunikation und Konfrontation zum Abbau von Vorurteilen und zur
Schaffung von mehr Transparenz. Auseinandersetzungen gab es in der jungen
Kirche genug. Die Apostelgeschichte und die paulinischen Briefe erzählen
uns von den Richtungsstreitigkeiten unter den Aposteln und in den Gemeinden.
Nur so gelangt man von der Vordergründigkeit zur Hinter- und Tiefgründigkeit.
Was die Pfarreien in dieser Auseinandersetzung lernen müssen: Die Neuaufbrüche
sind eine Selbstverständlichkeit geworden. Es ist damit zu rechnen,
dass ihre Seelsorger zunehmend den Bewegungen angehören und ihr Seelsorgestil
davon geprägt ist (Priesterberufungen geschehen oft im Umkreis der
Bewegungen). Pfarreien müssen sich auch damit auseinandersetzen, dass
aktive Laien zwar am Leben der Pfarrei teilnehmen, aber zudem noch ausserhalb
der Pfarrei Kontakt zu einer Bewegung pflegen.
Die Bewegungen müssen lernen: Sie sind der Kritik ausgesetzt, wenn
ihre Ziele und Aktivitäten zu wenig transparent erscheinen und ihre
Gruppierungen zu Exklusivität neigen. Ebenso müssen sie zur Kenntnis
nehmen, dass die Pfarrei ein breites Spektrum von Gläubigen umfasst
und dass es ein wesentlicher Auftrag des Dienstamtes ist, die Einheit der
Glaubensgemeinschaft zu wahren. Pflicht der Bewegungen ist es deshalb, zugleich
sendungsbewusst wie auch selbstkritisch ihre seelsorgerliche Methode und
ihre geistlichen Akzente der Pfarrei anzubieten, um jeden Einzelnen in seiner
Berufung zu bestärken. Dazu muss man das Leben der Pfarrei und auch
die besonderen Anliegen der jeweiligen Verantwortlichen kennen und respektieren.
Nur so wird eine dringend notwendige Beheimatung in der Ortskirche möglich
sein.
Eine der wirksamsten Möglichkeiten zur Gewöhnung aneinander scheint
mir die Begegnung von künftigen Pfarreiseelsorger und -seelsorgerinnen
und Bewegungsmitgliedern schon in der Zeit des Studiums. Ein Sprichwort
sagt «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr».
Damit meine ich, dass die Offenheit der Diözesanseelsorger und -seelsorgerinnen
für die Bewegungen auch eine zwischenmenschliche Dimension hat. Worüber
ich etwas weiss und was ich persönlich kennen gelernt habe, damit werde
ich behutsam umgehen. Das interdiözesane Konvikt Salesianum in Freiburg
könnte ein Ort sein, wo Theologiestudenten und andere Studierende im
Zusammenleben voneinander lernen können. Ich biete offene Türen
an, damit die Beziehungen von Studierenden der Ortskirche und der Bewegungen
wachsen können und in Zukunft eine Kultur des Miteinanders tragen.
Als Ergebnis möchte ich festhalten: «Die Kirche in unserem Land
braucht die territorial orientierten Pfarreien und die spirituell orientierten
Bewegungen gleichermassen, um ihren Verkündigungs- und Gestaltungsauftrag
zu erfüllen, und diese können und müssen voneinander lernen.»<9> Die Verschiedenartigkeit der Bewegungen
entspricht der Verschiedenartigkeit der geistlichen Bedürfnisse unserer
Zeit. Jede Bewegung bringt eine besondere Farbe des Lebens aus dem Evangelium
zum Leuchten. Die Pfarrei hingegen ist der Ort, wo das ganze Farbenspektrum
durch die Kunst der Seelsorge zum Leuchten zu bringen ist in einem vielfältigen
Regenbogen des Glaubens. Dass dieser Glaube leuchtet und seine Kraft in
unserer Gesellschaft wirksam wird, dazu mögen sich Pfarreien und Bewegungen
befähigen und stärken.
Thomas Ruckstuhl ist Regens des interdiözesanen Konvikts Salesianum in Freiburg; er kann demnächst an der Philosophisch-theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt seine bei Medard Kehl erarbeitete Dissertation einreichen.
1 Zitiert nach H. Heinz, in: HK 53 (1999) 626.
2 Vgl. W. Bächler, in: SKZ 40/2000, 592.
3 Neuere Titel aus der Fülle der Literatur: K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i. Br. 51996; M. Hochschild, Auf dem Weg zu einer Typologie der neuen geistlichen Bewegungen, in: Regnum 33/1 (1999) 2233; Ders., Auf der Schwelle in die Zukunft. Den Wandel der Kirche verstehen und mitgestalten, Stuttgart 2001; F.-X. Kaufmann, Wie überlebt das Christentum?, Freiburg i.Br. 2000; M. Kehl, Wohin geht die Kirche? Eine Zeitdiagnose, Freiburg i.Br. 1996; Ders., Kirche als «Dienstleistungsorganisation»? Theologische Überlegungen, in: StZ (2000) 389400; J. Müller, Neue geistliche Gemeinschaften. Vielfalt in der katholischen Kirche, Freiburg i.Ü. 1998; K. Nientiedt, Grenzen der Vielfalt. Geistliche Bewegungen in der Kritik, in: HK 1996, 133138; Neue Gruppierungen im Schweizer Katholizismus: Ein Handbuch. Hrsg. von Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut (SPI)/Schweizerische Katholische Arbeitsgruppe «Neue Religiöse Bewegungen» (NRB), Zürich 2000; J. Ratzinger, Kirchliche Bewegungen und ihr theologischer Ort, in: Communio 28 (1998) 431448; P. Wolf (Hrsg.), Lebensaufbrüche. Geistliche Bewegungen in Deutschland, Vallendar 2000; A. Wollbold, Kirche als Wahlheimat, Beitrag zu einer Antwort auf die Zeichen der Zeit, Würzburg 1998; Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Miteinander auf dem Weg. Einladung zum Dialog zwischen Gemeinden, Verbänden und geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen, (Berichte und Dokumente, Heft 99), Bonn 1995; C. Ambruster, Von der Krise zur Chance. Wege einer erfolgreichen Gemeindepastoral, Freiburg i.Br. 1999; F.-P. Tebartz-van Elst, Gemeinden werden sich verändern. Mobilität als pastorale Herausforderung, Würzburg 2001.
4 M. Lütz, Der blockierte Riese. Psycho-Analyse der katholischen Kirche, Augsburg 1999.
5 Vgl. K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i.Br. 51996, 177192.
6 Vgl. M. Kehl, Wohin geht die Kirche? Freiburg i.Br. 1996, 45f.
7 M. Kehl, Bedeutung der geistlichen Bewegungen, Vortrag am 19. März 2000 in Hockenheim am «Fest der Bewegungen».
8 Ch. Schönborn, Neue geistliche Bewegungen: Chancen und Gefahren, in: Die Menschen, die Kirche, das Land. Christentum als gesellschaftliche Herausforderung, Wien 1998, 2532; hier 30.
9 Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Miteinander auf dem Weg. Einladung zum Dialog zwischen Gemeinden, Verbänden und geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen, Berichte und Dokumente (Heft 99), 1995, 5.