36/2002

INHALT

Lesejahr A

Keine Monopole auf den Christus

Detlef Hecking zu Röm 14,7-9

 

Auf den Text zu

«Und noch ein Jesus!» Unter diesem ironischen Titel erschien vor wenigen Jahren ein Buch, das aktuelle Jesusbücher kritisch unter die Lupe nahm: Ein erheblicher Teil der zeitgenössischen Jesusbilder, so die These, habe mehr mit den Vorurteilen und Lesegewohnheiten der Autoren zu tun als mit Jesus selbst. Manche Autoren und Autorinnen würden sich Jesus so zurechtschreiben, wie sie ihn gerne hätten oder brauchen könnten. In der Tat haben ja die Befreiungstheologie und die feministische Theologie herausgearbeitet, wie sehr unser Blick auf biblische Texte vom persönlichen Standpunkt, Geschlecht, gesellschaftlichen Kontext usw. bestimmt ist. Und so muss Jesus denn auch für viele, öfters sogar gegensätzliche Formen von Lebenspraxis, Frömmigkeit, Kirchenverfassung usw. herhalten. Das Phänomen ist nicht neu: Bereits im «Armutsstreit» des Mittelalters wurde Jesus als Kronzeuge für beide Positionen herangezogen.
Aufgabe der Exegese ist es in diesem Zusammenhang, evangeliumsgemässe, historisch plausible Jesusbilder von weniger plausiblen zu unterscheiden und Hilfen für die Entwicklung des eigenen Jesusbildes zu geben. Doch einen einzigen, allein «wahren» Jesus wird auch die Exegese nicht freilegen können ­ ganz abgesehen davon, dass wir es bei Jesus nicht nur mit einer historischen Persönlichkeit zu tun haben, sondern auch mit dem Christus des Glaubens, der in Theologie und persönlicher Frömmigkeit unzählige und sehr vielfältige Facetten annimmt. Darunter befinden sich freilich auch solche, bei denen sich der historische Jesus wohl verwundert und verständnislos die Augen reiben oder gegen die er sich entsetzt verwahren würde.
Paulus geht es in der Lesung zum 24. Sonntag im Jahreskreis ­ wie auch sonst meistens ­ nicht um den historischen Jesus, sondern um den «Herrn», den Christus, «eingesetzt zum Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung der Toten» (Röm 1,4). Und Paulus versucht gerade nicht, den Römerinnen und Römern ein einziges, «richtiges» Verständnis des Christus nahe zu bringen. Stattdessen weist er sie darauf hin, dass aus der Christusbeziehung ganz verschiedene Formen von Lebens- und Glaubenspraxis erwachsen können. Dies in engagiertem Dialog auszuhalten, gehört auch heute zu den dringendsten innerkirchlichen Aufgaben.

Mit dem Text unterwegs

Mit 14,7­9 endet die sechzehnwöchige Sommer-Lesereihe aus dem Römerbrief. Werden die Verse so isoliert gelesen, wie es die Leseordnung vorsieht, wirken sie wie eine allgemeine Ausführung zu Ontologie und Bestimmung der Menschen: Leben und Sterben eines jeden Menschen werden existentiell auf Christus bezogen, Paulus zeichnet Christus als «Herrn der Toten und der Lebenden» (14,9). Die Lesung bietet damit Ansatzpunkte für vielfältige Deutungen und weiterführende Interpretationen; sie gehört unter anderem zu den bekannteren Lesungen für Trauerfeiern. Paulus geht es jedoch nur indirekt um diese Fragen. Für ihn stehen die VV 7­9 vielmehr im Dienst des ganzen 14. Kapitels seines Briefes. In diesem Kontext sind die VV 7­9 eine geistliche Rückbesinnung ­ und zwar mitten in einem schweren Glaubens- und Kirchenkonflikt, der die Gemeinden in Rom zu spalten droht.
In den römischen Gemeinden gibt es nach Paulus nämlich zwei Gruppen, die er als «Starke» und «Schwache» bezeichnet. Der Unterschied wirkt heute eher nebensächlich: Die «Schwachen» lehnen den Konsum von Fleisch und Wein ab, weil sie befürchten, dass diese Speisen zuvor den römischen Göttern als Opfer dargebracht wurden (vgl. den Kommentar zu Röm 15,4­9 in SKZ 48/2001, 679). Die «Starken» hingegen, zu denen Paulus sich auch selber zählt (vgl. 15,1), kümmern sich nicht um diese Bedenken und richten sich auch sonst nicht (mehr) nach der Tora: In Christus ist die Erlösung gekommen, sogar Opferfleisch kann bedenkenlos gegessen werden, ohne die Götter damit anzuerkennen. Paulus durchschaut mit psychologischem Feingefühl, dass sich beide Gruppen zwar in der heftigen Ablehnung der jeweils anderen Lebens- und Glaubenspraxis gleichen, dass diese Ablehnung aber eine je spezifische Ausdrucksform findet: Während die Starken die Schwachen wegen ihrer Skrupel «verachten», schwingen sich die Schwachen zum Richter über die Starken auf und sprechen ihnen damit den richtigen Glauben ab (14,3). Parallelen zu heutigen innerkirchlichen Konflikten liegen auf der Hand.
Beide Gruppen weist Paulus nun darauf hin, dass auch die jeweils anderen ihr Verhalten am «Herrn» ausrichten und dass beide Gott für ihren Glaubensweg Dank sagen (14,6). Gerade so verschieden, wie beide Gruppen leben (und für die jeweils anderen zum Ärgernis werden), leben sie für Christus (14,7f.)! Welches Verhalten der Lebenspraxis des historischen Jesus eher entspricht, interessiert Paulus eigenartigerweise nicht. Wichtig ist für ihn der Christus des Glaubens: Nur er ist Herr und Richter über jeden Menschen (14,10). Paulus ermahnt deshalb beide Gruppen, sich die Christusbeziehung und den aufrichtigen Glauben nicht abzusprechen. In dieser Ermahnung liegt zugleich die Chance, dass «Starke» wie auch «Schwache» lernen, Christus als gemeinsames Band zwischen ihren so grundverschiedenen Lebens- und Glaubenswegen zu entdecken. Paulus fordert die Römerinnen und Römer also zu einer spannungsvollen Einheit in Verschiedenheit und Vielfalt auf. Die berühmten, auf den ersten Blick allgemeingültigen Worte in den VV 7­9 fallen in diesem sehr konkreten Zusammenhang: Schon die benachbarten VV 6 und 10 verweisen unmissverständlich auf den Konflikt, auf den Paulus mit seinen Ausführungen reagiert.

Über den Text hinaus

Innerkirchliche Konflikte nehmen derzeit an Schärfe zu, und unzählige Christinnen und Christen haben den Kampf für ihre Anliegen schon längst resigniert aufgegeben. Die Gründe dafür sind vielfältig: unterschiedliche Analysen von Gesellschaft, Kirche und «Zeichen der Zeit», Reformstau und Reformverweigerung und noch vieles mehr. Röm 14 ist vor diesem Hintergrund eine hochaktuelle Aufforderung zur praktischen und spirituellen Anerkennung sehr unterschiedlicher, vielfältiger Lebens- und Glaubenswege. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die verschiedenen Gruppen und Akteure zugestehen würden, dass auch die jeweils anderen Positionen in einer lebendigen Christusbeziehung wurzeln. Anders als Paulus es tut, ist es jedoch wichtig, die Christusbeziehung (und die Suche nach neuen Wegen für die Kirche) auch an die Lebenspraxis Jesu zurückzubinden.
Röm 14 ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, dass die unterschiedlichen Lebens- und Glaubenswege gemeinsam, in engagiertem Austausch, gegangen werden können und sollen. Nur so können die verschiedenen Seiten auch voneinander lernen und dabei ihre eigene Christusbeziehung und Lebenspraxis vertiefen. Bei allen sehr notwendigen Versuchen, «die anderen» zu verstehen, dürfen konkrete Machtverhältnisse jedoch nicht verharmlost werden: Innerkirchliche Diskussionen sind ­ theoretisch wie auch praktisch ­ weit vom Ideal eines möglichst herrschaftsfreien Diskurses entfernt.

 

Literatur: Wolfgang Fenske, Und noch ein Jesus! Jesusbücher unter die Lupe genommen, Münster 1999; Roman Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 21999; Christian Link/Ulrich Luz/Lukas Vischer, Sie aber hielten fest an der Gemeinschaft... Einheit der Kirche als Prozess im Neuen Testament und heute, Zürich 1988.


Er-lesen

Austausch: «Starke» und «Schwache» in der Kirche heute: Welche Gruppen, Meinungen, Verhaltensweisen, Prioritäten, ... würden Sie ­ analog zur Situation in den römischen Gemeinden nach Röm 14­15 ­ heute den «Starken», welche den «Schwachen» zuordnen?

Er-hellen

Welche der beiden Gruppen erleben Sie (heute und in ihrer Kirchenerfahrung vor Ort) als mächtiger? Wie erleben Sie diese Macht?

Er-leben

Suchen Sie das Gespräch mit Menschen, die im Glauben und aus ihrer Christusbeziehung heraus ganz andere Prioritäten setzen als Sie selbst ­ und versuchen Sie, sich gegenseitig zu verstehen, ohne die eigene Position aufzugeben.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2002