36/2002 | |
INHALT |
Lesejahr A |
«Und noch ein Jesus!» Unter diesem ironischen Titel erschien
vor wenigen Jahren ein Buch, das aktuelle Jesusbücher kritisch unter
die Lupe nahm: Ein erheblicher Teil der zeitgenössischen Jesusbilder,
so die These, habe mehr mit den Vorurteilen und Lesegewohnheiten der Autoren
zu tun als mit Jesus selbst. Manche Autoren und Autorinnen würden sich
Jesus so zurechtschreiben, wie sie ihn gerne hätten oder brauchen könnten.
In der Tat haben ja die Befreiungstheologie und die feministische Theologie
herausgearbeitet, wie sehr unser Blick auf biblische Texte vom persönlichen
Standpunkt, Geschlecht, gesellschaftlichen Kontext usw. bestimmt ist. Und
so muss Jesus denn auch für viele, öfters sogar gegensätzliche
Formen von Lebenspraxis, Frömmigkeit, Kirchenverfassung usw. herhalten.
Das Phänomen ist nicht neu: Bereits im «Armutsstreit» des
Mittelalters wurde Jesus als Kronzeuge für beide Positionen herangezogen.
Aufgabe der Exegese ist es in diesem Zusammenhang, evangeliumsgemässe,
historisch plausible Jesusbilder von weniger plausiblen zu unterscheiden
und Hilfen für die Entwicklung des eigenen Jesusbildes zu geben. Doch
einen einzigen, allein «wahren» Jesus wird auch die Exegese
nicht freilegen können ganz abgesehen davon, dass wir es bei
Jesus nicht nur mit einer historischen Persönlichkeit zu tun haben,
sondern auch mit dem Christus des Glaubens, der in Theologie und persönlicher
Frömmigkeit unzählige und sehr vielfältige Facetten annimmt.
Darunter befinden sich freilich auch solche, bei denen sich der historische
Jesus wohl verwundert und verständnislos die Augen reiben oder gegen
die er sich entsetzt verwahren würde.
Paulus geht es in der Lesung zum 24. Sonntag im Jahreskreis wie auch
sonst meistens nicht um den historischen Jesus, sondern um den «Herrn»,
den Christus, «eingesetzt zum Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung
der Toten» (Röm 1,4). Und Paulus versucht gerade nicht, den Römerinnen
und Römern ein einziges, «richtiges» Verständnis des
Christus nahe zu bringen. Stattdessen weist er sie darauf hin, dass aus
der Christusbeziehung ganz verschiedene Formen von Lebens- und Glaubenspraxis
erwachsen können. Dies in engagiertem Dialog auszuhalten, gehört
auch heute zu den dringendsten innerkirchlichen Aufgaben.
Mit 14,79 endet die sechzehnwöchige Sommer-Lesereihe aus dem
Römerbrief. Werden die Verse so isoliert gelesen, wie es die Leseordnung
vorsieht, wirken sie wie eine allgemeine Ausführung zu Ontologie und
Bestimmung der Menschen: Leben und Sterben eines jeden Menschen werden existentiell
auf Christus bezogen, Paulus zeichnet Christus als «Herrn der Toten
und der Lebenden» (14,9). Die Lesung bietet damit Ansatzpunkte für
vielfältige Deutungen und weiterführende Interpretationen; sie
gehört unter anderem zu den bekannteren Lesungen für Trauerfeiern.
Paulus geht es jedoch nur indirekt um diese Fragen. Für ihn stehen
die VV 79 vielmehr im Dienst des ganzen 14. Kapitels seines Briefes.
In diesem Kontext sind die VV 79 eine geistliche Rückbesinnung
und zwar mitten in einem schweren Glaubens- und Kirchenkonflikt, der
die Gemeinden in Rom zu spalten droht.
In den römischen Gemeinden gibt es nach Paulus nämlich zwei Gruppen,
die er als «Starke» und «Schwache» bezeichnet. Der
Unterschied wirkt heute eher nebensächlich: Die «Schwachen»
lehnen den Konsum von Fleisch und Wein ab, weil sie befürchten, dass
diese Speisen zuvor den römischen Göttern als Opfer dargebracht
wurden (vgl. den Kommentar zu Röm 15,49 in SKZ 48/2001, 679).
Die «Starken» hingegen, zu denen Paulus sich auch selber zählt
(vgl. 15,1), kümmern sich nicht um diese Bedenken und richten sich
auch sonst nicht (mehr) nach der Tora: In Christus ist die Erlösung
gekommen, sogar Opferfleisch kann bedenkenlos gegessen werden, ohne die
Götter damit anzuerkennen. Paulus durchschaut mit psychologischem Feingefühl,
dass sich beide Gruppen zwar in der heftigen Ablehnung der jeweils anderen
Lebens- und Glaubenspraxis gleichen, dass diese Ablehnung aber eine je spezifische
Ausdrucksform findet: Während die Starken die Schwachen wegen ihrer
Skrupel «verachten», schwingen sich die Schwachen zum Richter
über die Starken auf und sprechen ihnen damit den richtigen Glauben
ab (14,3). Parallelen zu heutigen innerkirchlichen Konflikten liegen auf
der Hand.
Beide Gruppen weist Paulus nun darauf hin, dass auch die jeweils anderen
ihr Verhalten am «Herrn» ausrichten und dass beide Gott für
ihren Glaubensweg Dank sagen (14,6). Gerade so verschieden, wie beide Gruppen
leben (und für die jeweils anderen zum Ärgernis werden), leben
sie für Christus (14,7f.)! Welches Verhalten der Lebenspraxis des historischen
Jesus eher entspricht, interessiert Paulus eigenartigerweise nicht. Wichtig
ist für ihn der Christus des Glaubens: Nur er ist Herr und Richter
über jeden Menschen (14,10). Paulus ermahnt deshalb beide Gruppen,
sich die Christusbeziehung und den aufrichtigen Glauben nicht abzusprechen.
In dieser Ermahnung liegt zugleich die Chance, dass «Starke»
wie auch «Schwache» lernen, Christus als gemeinsames Band zwischen
ihren so grundverschiedenen Lebens- und Glaubenswegen zu entdecken. Paulus
fordert die Römerinnen und Römer also zu einer spannungsvollen
Einheit in Verschiedenheit und Vielfalt auf. Die berühmten, auf den
ersten Blick allgemeingültigen Worte in den VV 79 fallen in diesem
sehr konkreten Zusammenhang: Schon die benachbarten VV 6 und 10 verweisen
unmissverständlich auf den Konflikt, auf den Paulus mit seinen Ausführungen
reagiert.
Innerkirchliche Konflikte nehmen derzeit an Schärfe zu, und unzählige
Christinnen und Christen haben den Kampf für ihre Anliegen schon längst
resigniert aufgegeben. Die Gründe dafür sind vielfältig:
unterschiedliche Analysen von Gesellschaft, Kirche und «Zeichen der
Zeit», Reformstau und Reformverweigerung und noch vieles mehr. Röm
14 ist vor diesem Hintergrund eine hochaktuelle Aufforderung zur praktischen
und spirituellen Anerkennung sehr unterschiedlicher, vielfältiger Lebens-
und Glaubenswege. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich die verschiedenen
Gruppen und Akteure zugestehen würden, dass auch die jeweils anderen
Positionen in einer lebendigen Christusbeziehung wurzeln. Anders als Paulus
es tut, ist es jedoch wichtig, die Christusbeziehung (und die Suche nach
neuen Wegen für die Kirche) auch an die Lebenspraxis Jesu zurückzubinden.
Röm 14 ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, dass die
unterschiedlichen Lebens- und Glaubenswege gemeinsam, in engagiertem Austausch,
gegangen werden können und sollen. Nur so können die verschiedenen
Seiten auch voneinander lernen und dabei ihre eigene Christusbeziehung und
Lebenspraxis vertiefen. Bei allen sehr notwendigen Versuchen, «die
anderen» zu verstehen, dürfen konkrete Machtverhältnisse
jedoch nicht verharmlost werden: Innerkirchliche Diskussionen sind
theoretisch wie auch praktisch weit vom Ideal eines möglichst
herrschaftsfreien Diskurses entfernt.
Literatur: Wolfgang Fenske, Und noch ein Jesus! Jesusbücher unter die Lupe genommen, Münster 1999; Roman Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 21999; Christian Link/Ulrich Luz/Lukas Vischer, Sie aber hielten fest an der Gemeinschaft... Einheit der Kirche als Prozess im Neuen Testament und heute, Zürich 1988.
Austausch: «Starke» und «Schwache» in der Kirche heute: Welche Gruppen, Meinungen, Verhaltensweisen, Prioritäten, ... würden Sie analog zur Situation in den römischen Gemeinden nach Röm 1415 heute den «Starken», welche den «Schwachen» zuordnen?
Welche der beiden Gruppen erleben Sie (heute und in ihrer Kirchenerfahrung vor Ort) als mächtiger? Wie erleben Sie diese Macht?
Suchen Sie das Gespräch mit Menschen, die im Glauben und aus ihrer Christusbeziehung heraus ganz andere Prioritäten setzen als Sie selbst und versuchen Sie, sich gegenseitig zu verstehen, ohne die eigene Position aufzugeben.