19/2002

INHALT

Lesejahr A

Die bewegende Kraft des Geistes - und der konkrete Alltag der Gemeinden

Sabine Bieberstein zu 1 Kor 12,3b-7.12-13

 

Auf den Text zu

In der Gemeinde von Korinth muss es manchmal turbulent zugegangen sein. Einer der Gründe ist gewiss in der unterschiedlichen Herkunft der Menschen zu suchen, die dort zusammenkamen. Die sozialen und kulturellen Gegensätze führten zu Spannungen, und die entluden sich vor allem in erwartungsbeladenen Situationen wie zum Beispiel den gemeinsamen Gottesdiensten (vgl. 1 Kor 11). Zu manchen Turbulenzen führte aber auch die Aufbruchsstimmung, die die Menschen erfasst hatte. Sie hatten die Kraft des Geistes am eigenen Leib erfahren und überraschten sich und andere mit ungeahnten Fähigkeiten. Bei aller gemeinsamen Begeisterung scheint es aber bald Leute gegeben zu haben, die ihre Fähigkeiten für besser hielten als die anderer Leute. Rangordnungen entstanden dort, wo es ein buntes Nebeneinander verschiedenster Begabungen gegeben hatte, und einige beanspruchten darüber hinaus, den Geist für sich alleine gepachtet zu haben. Das veranlasst Paulus zu seinen Ausführungen über die Geistesgaben in 1 Kor 12.

Mit dem Text unterwegs

Die Lesungsordnung wählt zwei Abschnitte aus 1 Kor 12 aus und fügt sie zu einem neuen Text zusammen. Nun steht das Thema der Einheit im Zentrum der Lesung, während im gesamten Kapitel sowohl die geistgewirkte Vielfalt des Gemeindelebens zum Ausdruck kommt wie auch die ihr zu Grunde liegende Einheit, die ebenfalls durch den einen Geist gewährleistet wird. Eine Lektüre des gesamten Kapitels macht die turbulente Gemeindewirklichkeit in Korinth greifbarer und verankert den Lesungstext stärker in der dortigen Lebenswirklichkeit. Dennoch sollen im Folgenden vor allem die von der Lesung ausgewählten Verse kommentiert werden.
Der Lesungstext beginnt mit dem zweiten Teil eines Satzes, der in seiner Gänze schwer zu erklären ist: «Keiner, der aus dem Geist Gottes redet, sagt: Jesus sei verflucht! Und keiner kann sagen: Jesus ist der Kyrios!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet» (12,3). Viele Vermutungen sind über diese Verfluchung schon angestellt worden: Es könnte sich um eine Verteidigungsstrategie vor Gericht gehandelt haben, die dann später als Eingabe des Heiligen Geistes ausgegeben worden sei. Oder es könnte eine gnostisch geprägte Verwerfung des irdischen Jesus dahinter stehen. Wahrscheinlich hat Paulus diesen Kontrast konstruiert, um im Anschluss an 12,2 zu zeigen, dass das Christsein von der Versklavung durch die Mächte aus «heidnischer» Zeit befreit. Dies vertieft er im zweiten Teil des Satzes: Wenn mit der Taufe der Heilige Geist verliehen wird, dann sind Christinnen und Christen seit ihrer Taufe in der Lage, Jesus als den Kyrios zu bekennen, das heisst ihn über jeden anderen Herrn ­ und das heisst zum Beispiel auch: über den Kaiser! ­ zu stellen und ihr Leben nach dem Evangelium zu gestalten.
12,4­6 führen in drei parallel aufgebauten Sätzen das Thema des Heiligen Geistes weiter. Paulus weist einerseits nach, dass in all den Fähigkeiten und Phänomenen der Gemeinde ein einziger und identischer Geist wirkt. Zum anderen setzt er diesen Geist zum Kyrios Jesus und zum Schöpfergott in Beziehung. In dieser und anderen triadischen Formulierungen, die sich in biblischen Texten finden lassen, liegen Anknüpfungspunkte für das erst viel später entfaltete trinitarische Denken.
Jene Geistkraft also, die bei der Taufe empfangen wird, bewirkt im Leben der Getauften sicht- und spürbare Veränderungen. Das zeigt sich in den Charismen, die diese Frauen und Männer jetzt für die Gemeinde einsetzen. Das Wort Charisma, das in der hellenistischen Umgangssprache kaum gebraucht wird, meint eigentlich etwas wie «Gunsterweis». Ein Charisma ist also ein Geschenk, etwas Empfangenes. Die uns heute geläufige inhaltliche Füllung geht auf Paulus zurück, der das Wort als Reaktion auf die erfahrene Gemeindewirklichkeit und im Zusammenhang seiner Tauf- und Geisttheologie auf spezifische Weise prägte. Bei der Taufe empfangen Christinnen und Christen den Geist, und dieser bewirkt und entfaltet sich in verschiedenen Fähigkeiten und Gaben, wie sie Paulus zum Beispiel in 1 Kor 12,8­11 oder 12,28­31 aufzählt (vgl. auch Röm 12,6­8). Diese den Einzelnen verliehenen Gnadengaben meint auch das Wort «Offenbarung» in 12,7. Es geht hier nicht um den Empfang spezieller Offenbarungsinhalte.
Bei allem sind diese geistgewirkten Fähigkeiten aber kein Selbstzweck, sondern sie unterstehen dem Kriterium des Nutzens für die Gemeinde (12,7). Der Geist ist demnach für Paulus «jene dynamische Kraft, mit der Gott in die Gemeinde hineinwirkt» (Klauck 87). Er tut dies aber, wie sowohl die anschliessende Charismenliste wie auch das gesamte Gemeindeleben in Korinth zeigen, keineswegs auf uniforme Weise. Sondern Kennzeichen dieser bewegenden Geistkraft sind Vielfalt und pulsierendes Leben.
Wahrscheinlich sind die in der Folge dieser Be-GEIST-erung auftretenden Debatten und Konflikte in Korinth der Grund, warum Paulus ab 12,12 die Einheit betont, die dieser Vielfalt zu Gunde liegt und die die Gemeinde in ihrer Vielgestaltigkeit zusammenhält. Diese Einheit liegt für Paulus wiederum in dem selben Geist begründet, der alle Getauften zu Gliedern eines einzigen Leibes, nämlich der Gemeinde als Leib Christi, macht. Diese Zusammengehörigkeit der verschiedenen Menschen in einem Leib nimmt in der sozialen Realität der Gemeinde konkrete Gestalt an: Die Unter- und Überordnungen, die die antike Gesellschaft strukturierten und jedem Menschen einen festen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie zuwiesen, verlieren in der Gemeinde ihre Gültigkeit (vgl. Gal 3,26­28).

Über den Text hinaus

Der Geist bringt also einiges in Bewegung. Nicht nur, dass Frauen und Männer ungeahnte Fähigkeiten erhalten, öffentlich zu reden und zu prophezeien beginnen, die Schrift auslegen und die Auslegungen der anderen kritisieren, Kranke heilen und vor Gericht keine Angst mehr haben (vgl. 12,8­11). Sondern auch die gesellschaftlichen Ordnungen, die die Machtverteilung zwischen oben und unten garantierten und stabilisierten, wurden durcheinander geschüttelt. Ab 12,14 entfaltet Paulus ein Bild der Gemeinde, in der alle zwar verschiedene, doch gleichwertige Glieder eines Leibes sind und von dem nicht einmal ein Haupt besonders hervorgehoben wird, im Unterschied etwa zu Kol 3,18, das Christus als Haupt dem Leib der Kirche gegenüberstellt.
Es ist eine bewegende Vision von Kirche. Gegenüber engführenden Uniformitätswünschen erscheint Paulus als Anwalt des Pluralismus, ohne jedoch die zu Grunde liegende Einheit in der Geistkraft aus den Augen zu verlieren. Menschen werden in ihren Fähigkeiten ernst genommen, sie werden unabhängig von Status und Herkunft gewürdigt und prägen in der ihnen verliehenen Vollmacht das Gesicht der Gemeinde.

 

Literatur: Hans-Josef Klauck, 1. Korintherbrief, (Die Neue Echter Bibel, Neues Testament, Bd. 7), Würzburg 21987; Luise Schottroff, Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth. Wie Befreiung entsteht, in: Dies./Marie-Theres Wacker (Hrsg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 21999, 574­592.


Er-lesen

Den Lesungstext im Rahmen des gesamten Kapitels lesen.

Er-hellen

Die verschiedenen Auswirkungen der Geistkraft herausarbeiten und ein plastisches Bild der korinthischen Gemeindewirklichkeit zeichnen.

Er-leben

Inwieweit ist der Text eine Anfrage an heutige Kirchen- und Gemeinderealität?


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2002