36/2002

INHALT

Leitartikel

Vom Lehrraum zum Lernraum

von Thomas Wallimann

 

Schon manchem Text ist es ergangen, dass er vom Lehrraum zum Leerraum wurde, im Rahmen spezieller Vorlesungen oder Anlässe jeweils anerkennend oder kritisch erwähnt wird, aber mit dem Erscheinen den Höhepunkt erreicht hatte und die Wirkung entsprechend bald verpufft war. Das Wort der Kirchen<1>, das vor ziemlich genau einem Jahr ­ am 1. September 2001 ­ von den Kirchenleitungen der Öffentlichkeit übergeben wurde und den Abschluss der Ökumenischen Konsultation bildete, schien in den Augen vieler, ja selbst einiger seiner Trägerinnen, kein anderes Schicksal zu erwarten.
Wissend um diesen beinahe «natürlichen» Vergessenheitsprozess trafen sich bereits während des Konsultationsprozesses Mitarbeitende kirchlicher und kirchlich orientierter Organisationen und Fachstellen beider grossen Konfessionen, um darüber zu beraten und sich auszutauschen, wie das Wort der Kirchen nicht toter Buchstabe bleiben wird und möglichst vielfältig in die Tat umgesetzt werden kann. Seit dem Erscheinen des Wortes der Kirchen trifft sich diese so genannte Follow-up-Gruppe<2>, um den Dialogprozess, der mit der Ökumenischen Konsultation zwischen Kirchenleitungen und verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen in der Schweiz in Gang gesetzt wurde, über das Wort der Kirchen hinaus zu fördern und fortzusetzen. Denn die Antworten und Stellungnahme der Kirchenleitungen zu den Fragen, Sorgen und Ängsten vieler Frauen, Männer und Organisationen in der Schweiz konnten mit den Bettagsfeierlichkeiten 2001 nicht abgeschlossen sein, sondern müssen nun auf ihre Tragfähigkeit für eine Schweiz von morgen hin geprüft und diskutiert werden.

Verpflichtungen der Kirchen(leitungen)

In einigen Kreisen schien es mir fast, als wollte man wieder zur Tagesordnung übergehen und die unangenehmen Selbstverpflichtungen des Wortes der Kirchen in Vergessenheit geraten lassen. Denn es haftet diesem Text zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz viel Mutiges und Prophetisches an: Die Kleinen und Schwachen sollen die grösste Aufmerksamkeit der Kirchenleitungen(!) finden und gemeinsam mit andern wollen die Verantwortlichen der beiden grossen Landeskirchen «die Keime einer gerechteren Welt wahrnehmen und zum Gedeihen bringen» (Nr. 33). Zu nichts weniger als zur Hinarbeitung auf die Verwirklichung einer für alle segensreichen Zukunft verpflichten sich die Kirchenleitungen zusammen mit allen Christen und Christinnen sowie allen Menschen guten Willens in der Schweiz (Nr. 45). Dieser Verpflichtung ein Gesicht zu geben, die Kirchenleitungen daran zu erinnern und das Wort der Kirchen aus dem Lehrraum in einen Lernraum (Nr. 132) hinüberzuführen, verschrieb letztlich die Gruppe Follow-up ihr Engagement.
Infolge begrenzter Ressourcen muss sich die Arbeit der Follow-up-Gruppe darauf beschränken, die vielfältigen Anstrengungen in Pfarreien, Gemeinden, Dekanaten, Regionen und Landesteilen ein wenig zu überblicken und für neue Projekte geeignete Hilfen anzubieten. Zu diesem Zweck erklärte sich Justitia et Pax bereit, als Drehscheibe<3> zu wirken, Projektunterlagen, Vortragsmaterial zu sammeln und Interessierten zur Verfügung zu stellen. So wird eine Internetseite, die zurzeit in Entstehung ist und ab Oktober 2002 zugänglich ist, Interessierte zu Themen, möglichen Referierenden, Projektkontakten leiten.<4>

Hilfen für den Weg vom Wort zur Tat

Ziel allen Engagements ist es, dem Wort den Weg zur Tat so leicht wie möglich zu machen. Denn bereits das Werkheft zum Bettag<5> enthielt nebst den gewohnten Vorschlägen zu Gottesdienst und Predigt einen programmatischen Teil mit der Überschrift «Vom Wort zur Tat». Dieser zeigt, dass das Wort der Kirchen bereits lebendig ist, aber vielerorts noch lebendig werden will. Die Drehscheibe des Follow-up will sicherstellen, dass das Wort auch nach dem Bettag 2001 nicht Wort bleibt, sondern in Taten auf seine Wirksamkeit hin geprüft und umgesetzt wird, damit möglichst viele Kirchgemeinden, Seelsorgende und engagierte Christinnen und Christen Hilfen bekommen.
Als Beispiel für eine überregionale ökumenische Zusammenarbeit für diese Umsetzung kann das von Caritas Zürich und Evangelisch-reformierter Kirche des Kantons Zürich lancierte Projekt «Vom Wort zur Tat»<6> gelten. Den Leitsatz für das dreijährige Projekt ist dem Kapitel zur Arbeit entnommen (Nr. 132): «Sowohl im Bereich der Diakonie als auch bei der Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse bietet sich unseren Kirchen die Gelegenheit, Projekte durchzuführen, die im Blick auf die Zukunft Modellcharakter haben könnten. ... Wir setzen uns dafür ein, dass die Kirchen auf diese Weise ÐLernraumð sind und noch mehr werden. Damit leisten sie einen innovativen Beitrag zur Gestaltung der Zukunft.» Am 31. Oktober 2002 sind Kirchenräte, Kirchenpfleger, Seelsorgende und viele andere, die in den evangelisch-reformierten und katholischen Kirchgemeinden und Pfarreien Verantwortung tragen, zu einer Impulstagung eingeladen. Peter Hasler vom Arbeitgeberverband und der Gewerkschafter Daniel Vischer erläutern aus ihrer Perspektive die heutige Arbeitswelt und formulieren vor diesem Hintergrund Erwartungen an die Kirchen. Der gemeinsame Austausch zwischen den Teilnehmenden soll anschliessend dazu führen, dass in möglichst vielen Gemeinden und Pfarreien Projekte mit Modellcharakter in Angriff genommen werden. Ambitioniertes ­ und auch modellhaftes ­ Ziel ist es, in einem Jahr ein Projekt mit einem Preis prämieren zu können. In den beiden folgenden Jahren stehen dann die Schwerpunkte Familie (Kapitel 3 des Wortes der Kirchen) und Migration (Kapitel 4 des Wortes der Kirchen) im Zentrum.

Was begonnen hat, soll weitergehen

Nebst diesem Grossprojekt gibt es aber bereits viele andere, die oft im Verborgenen die Kirche schon länger als Lernraum für zukunftsfähige Gemeinschafts-, Arbeits- oder Gesellschaftsmodelle lebendig werden lässt. Ich denke an die zahlreichen Mütterzentren, Jobvermittlungsstellen, Sprachkursangebote, Börsen aller Art oder Tauschnetze. Sie erinnern Menschen in unserem Land, aber insbesondere Kirchenverantwortliche daran, dass das Wort der Kirchen nicht nur Geburtstag feiert, sondern letztlich dazu verpflichtet, Kirche sein als treibende Kraft zu mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu verstehen und zu leben ­ innerhalb wie ausserhalb der Kirchen!


Anmerkungen

1 Vgl. «Miteinander in die Zukunft». Wort der Kirchen. Ökumenische Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Bern, Schweizer Bischofskonferenz, Freiburg, September 2001. Erhältlich bei: Justitia et Pax, Postfach 6872, 3001 Bern, Telefon 0313815955, Fax 0313818349, E-Mail jus-pax.ch@bluewin.ch, und Institut für Sozialethik des SEK, Sulgenauweg 26, 3007 Bern, Telefon 0313702550, Fax 0313702559, E-Mail sekretariat@ise-ies.ch, oder über die folgende homepage: www.kirchen.ch/konsultation/

2 Vgl. Zusammensetzung der Gruppe: www.kirchen.ch/konsultation/followup.html. Geleitet wird sie zurzeit von Thomas Wallimann, Leiter des Sozialinstituts der KAB Schweiz in Zürich.

3 Vgl. Fussnote 1.

4 www.kirchen.ch/konsultation/

5 Vgl. www.kirchen.ch/ konsultation/bettag.html

6 Ansprechpersonen: Daniel Wiederkehr, Caritas Zürich, Abteilung Animation und Bildung, Beckenhofstrasse 16, Postfach, 8035 Zürich, Telefon 013666870, und Christoph Sigrist, Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, Gemeindedienste, Pädagogik und Animation, Fachstelle Diakonie, Hirschengraben 50, Postfach, 8025 Zürich, Telefon 012589249.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2002