36/2001

INHALT

Lesejahr C

Heiliger Paulus!

Regula Grünenfelder zu 1 Tim 1,12-17

 

Auf den Text zu

Paulus hat den ersten Timotheusbrief nicht geschrieben. Das ist gut zu wissen. Einem Paulus, der sich selber als Urbild des Glaubens darstellt und als ersten Christen, müsste man ­ nein, nicht mangelnde Bescheidenheit ­ vorwerfen, sondern ein eigenartiges Ausblenden der Gemeinschaft der Glaubenden und Lehrenden in Christus.
Wenn Jahrzehnte nach dem Tod des Paulus jemand unter dem Namen des grossen Apostels zur Feder greift und diesem eine grossartige Selbstdarstellung unterschiebt, dann liegt uns eine traditionsgeschichtlich wichtige Hommage an Paulus vor. Als Zeitdokument lassen sich daraus Absichten entziffern, die hinter der Paulus-Anamnese stehen: Wer sich Paulus als Autoren «leiht» und ihn in Anspielung auf Christus als den Ersten präsentiert, beansprucht die Autorität des grossen Apostels für seine Theologie. Wie die Lesungsreihe aus den beiden Timotheusbriefen zeigen wird, bezieht sich dieser Anspruch auch und gerade auf strittige Fragen und gegen konkurrenzierende Deutungen der paulinischen Theologie.
Unsere Danksagung des «Paulus» ist das Wasserzeichen der besonderen praktischen Theologie der Pastoralbriefe ­ es geht um Leitungsfragen und Ethik ­, die sich als allgemein verbindlich und selbstverständlich präsentiert.

Mit dem Text unterwegs

Seit dem 18. Jahrhundert werden die beiden Timotheusbriefe und der Titusbrief Pastoralbriefe genannt. Sie tragen diesen Namen zu Recht.
Die drei Schreiben, zwischen 90 und 150 n. Chr. entstanden, sind Hirtenbriefe: Der Oberhirte schreibt an zwei seiner Schüler, ebenfalls Hirten, und gibt ihnen Anweisungen für ihr Amt als Gemeindeleiter.
Es herrscht Konsens, dass die drei Briefe nicht von Paulus selber stammen können. Dagegen sprechen stilistische, mehr noch theologische Gründe. Beispielsweise verzichten diese Pseudoepigraphien darauf, mit paulinischen Schlüsselbegriffen zu ringen wie etwa Gottes Gerechtigkeit, Freiheit, Kreuz, Offenbarung oder Leib Christi.
Die Kontinuität zum Apostel, die den Briefen so wichtig ist, verdeckt die faktischen Unterschiede zu Paulus und unterschlägt, dass diese Briefe eine neue, eigene, in ihrer Zeit umstrittene Paulusdeutung vorlegen. Erst im Kontrast zu anderen überlieferten Schriften wie den Thekla-Akten oder der Akokalypse zeigen sie ihr besonderes Profil.
Paulus-Anamnesen sind typisch für die drei Pastoralbriefe (vgl. 1 Tim 2,7; 3,14f.; 2 Tim 1,3f.; 1,11; 1,15­18). Unser Text ist der längste und gewichtigste unter ihnen. Diese Texte erinnern ehrfürchtig an Paulus und schärfen die Autorität des grossen Apostels ein, desjenigen Paulus wohlverstanden, dem konkrete (gesellschaftskonforme und frauenfeindliche) pastorale Anweisungen in den Mund gelegt werden.
Zwar stehen diese Bekenntnisse in der Tradition der paulinischen Selbstaussagen (1 Kor 15,8­11; Gal 1,13­16; Phil 4,13), sie vermeiden es jedoch, ihnen literarisch oder inhaltlich als Vorbilder die Ehre zu geben.
Wie in den Paulusbriefen (Gal 1,16; Phil 3,10) verleiht die Damaskuserfahrung dem Apostel Autorität. Die paulinischen Selbstbekenntnisse messen das Reden über das Bekehrungsgeschehen hartnäckig an seiner Wirkung in der Gemeinde. Im Unterschied dazu steht die Erinnerung an Damaskus in unserer Lesung als Garantieschein für den einmalige Anspruch im Namen des grossen Apostels
Die Pastoralbriefe orientieren ihr Paulusbild auch an der Darstellung in der Apostelgeschichte. Damit gehören sie zu einer spezifischen Gruppe im breiten Strom mündlicher Paulusgeschichten, die das Damaskuserlebnis als erbauliche Beispielgeschichte thematisieren, vielleicht sogar verharmlosen.
Der überaus hart geschilderte Kontrast zwischen dem Einst und Jetzt nennt nicht mehr die schmerzhafte Spannung zwischen religiösen und politischen Kulturen (pharisäisches Judentum und junge Kirchenentwürfe), sondern lässt Paulus ganz allgemein als Prototyp des gottlosen Frevlers dastehen, als dessen Vergehen allerlei in Frage käme. Diese Deutung läuft ganz gegen die Selbsteinschätzung des Paulus. (Vor dem Hintergrund eines latenten Antijudaismus besteht die Gefahr, dass an dieser Stelle unreflektiert antijüdische Vorurteile in das überholte Vorleben des Apostels projiziert werden.) Was Paulus als Erstem widerfahren ist, wird als erbauliche Demonstration der Wandlungskraft des Christusglaubens vorgeführt. Oder positiver formuliert: Im Leben des «Paulus» wird anschaulich, was die Gemeinde als Grund ihres Glaubens bekennt. Diese konkrete Erfahrung und Beispielgeschichte begründet den Lobpreis Gottes der ganzen Gemeinde, in den die Paulus-Anamnese mündet.
Diese Doxologie gehört in die Liturgiesprache der hellenistischen Kirche, die in der Gebetstradition des zeitgenössischen Judentums wurzelt.
Die Gemeinde dankt Gott, denn am Urbild des bekehrten Sünders kann sie ablesen, was die ganze Kirche hofft: Christus ist zur Rettung aller Sünderinnen und Sünder in die Welt gekommen. Die neue Existenz des Paulus durch Christus erscheint als unverzichtbarer Teil des Evangeliums. Damit ist das Fundament für die besondere Autorität gelegt, mit der die Pastoralbriefe im weiteren Verlauf ihren Paulus (diskret auch gegen die Paulusbriefe und andere Interpretationen) sprechen lassen.

Über den Text hinaus

Der Text hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Seine Traditionsverbundenheit steht einerseits in einem erfrischenden Kontrast zu unseren Zwängen wie Aktualität, Originalität und Verzicht auf Traditionen. Durch diese besondere «Heiligsprechung» des Paulus wird andererseits verschleiert, dass der grosse Apostel schon damals als umstrittene, vieldeutige Person verstanden wurde.
Heilige kann es nur im Plural geben, ebenfalls Bilder von ihnen. Ikonen von Rosa Parks oder Oskar Romero benennen Autoritäten des Glaubens und deuten ihr Leben als vorbildhaft für die kommenden Generationen. Der Lobpreis des Paulus kann dazu anstiften, die Väter und Mütter unserer Hoffnungen kennen zu lernen und zu benennen. Allerdings mit einer wichtigen Korrektur zum vorliegenden Lesungstext: Die Wahrheit ist ein Gespräch zwischen den gegenwärtigen Leiden und Sehnsüchten der Menschen und den Geschichten unserer Tradition. Und sie ist ein Gespräch zwischen den Gruppen und den Optionen in unserer Kirche.

 

Literatur: Jürgen Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 15, Zürich u.a. 1988; Ulrike Wagener, Die Pastoralbriefe. Gezähmter Paulus ­ domestizierte Frauen, in: Luise Schottroff, Marie-Theres Wacker (Hrsg.), Kompendium feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1999, 661­675.


Er-lesen

Lesen aus Distanz ­ die Lesung als Text über Paulus lesen: «Wir danken dem, der ihm Kraft gegeben hat: Jesus Christus, unserem Herrn.» Weiterfahren mit «er», Paulus...
Dann den Text in seiner ursprünglichen Fassung lesen. Was fällt auf, was verändert sich durch die Distanzierung?

Er-hellen

Die Vielfalt der Paulus-Bilder wahrnehmen: Paulus-Bekenntnisse, Paulus-Bild der Apostelgeschichte und Paulus-Anamnesen vergleichen.

Er-leben

Selber von einer Ahnin oder einem Ahnen, die im Glauben und Handeln für mich wichtig ist, eine Anamnese erstellen, möglichst auch in der ungewohnten 1. Pers. sing. Mit der Doxologie, meinem Dank für diese Person abschliessen.

Zu zweit besprechen.
Einen Dankgottesdienst feiern für die Menschen, die uns vorausgegangen sind und uns ihre Geschichten hinterlassen haben.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001