35/2001 | |
INHALT |
Lesejahr C |
Die Kanonisierung des Philemonbriefes ist zwar früh belegt, doch wurde sie wegen des «belanglosen Inhalts» des Schreibens immer wieder angezweifelt. Er galt nicht nur als banal, sondern möglicherweise auch als gefährlich. So konnte er seit dem 2. Jahrhundert als Dokument für die Berechtigung der Vorwürfe an das Christentum gelten, unter dem Deckmantel religiöser Bekehrung Sklaven- und Sklavinnenbefreiung zu fördern. Diese Interpretation setzt allerdings eine voreingenommene Lektüre voraus: Paulus rüttelt im Philemonbrief nämlich nicht an der Sklaverei als Institution. Entsprechend wurde er bis ins 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit den afroamerikanischen Befreiungsbewegungen zur christlichen Legitimation von Menschenbesitz herangezogen.
Der Philemonbrief ist der kleinste, persönlichste der erhaltenen
Paulusbriefe und behandelt ein konkretes Problem: Onesimus, ein Sklave im
Haus des Christen Philemon, hat sich zu Paulus abgesetzt und ist bei ihm
ebenfalls Christ geworden. Mit der Bitte um liebevolle Aufnahme des Entlaufenen
und darüber hinaus um dessen Freistellung für den Apostel selber,
der (wahrscheinlich in Ephesus, um 56 nach Christus) im Gefängnis sitzt,
stellt Paulus dem Sklaven einen Schutzbrief aus.
Der Brief ist nicht allein an Philemon gerichtet, sondern zieht die Sache
vor eine weitere Öffentlichkeit. Als Zeugin wird erstens eine Frau,
Aphia, aufgerufen. Zweiter namentlich genannter Zeuge ist Archippus. Paulus
verhandelt das Problem des Philemon mit seinem Sklaven also nicht als Privatsache,
sondern involviert drittens sogar die ganze Hausgemeinde.
Für die Lesung wurde ein Ausschnitt aus der Fürsprache für
Onesimus gewählt, der ganz vom Verzicht auf apostolische Autorität
des Verfassers geprägt ist und statt dessen um rechtes Verhalten auf
Grund von Beziehung wirbt.
Paulus beginnt nicht gleich mit der Bitte, sondern präsentiert sich
zuerst als Bittender. Er ist ein alter Mann und liegt für Christus
im Gefängnis. Damit zeichnet der Apostel von sich ein Bild, das ebenso
Schwäche und fehlende Einflussnahme markiert, wie einen moralischen
Anspruch: Dem alten Mann, der im Gefängnis für Christus leidet,
kann doch keine Bitte abgeschlagen werden.
Paulus bittet für sein geistliches Kind, das er im Gefängnis gezeugt
hat. Aus rabbinischen wie aus Qumranschriften sind vergleichbare geistliche
Adoptionsformeln bekannt.
Sein Kind, wahrscheinlich ein entlaufener Sklave aus christlichem Haushalt,
hiess Onesimus. «Der Nützliche» war damals ein geläufiger
Sklavenname. Er taucht auch im deuteropaulinischen Kolosserbrief (4,9) auf.
Werden die beiden Nennungen zusammengebracht, kann auf den Heimatort von
Philemon und Onesimus in Kolossäa(Phrygien) geschlossen werden. Laut
antiker Quellen galten phrygische Sklaven und Sklavinnen als unzuverlässig
und unbrauchbar (s. Vers 11).
Selbst in modernen Kommentaren wird solidarisch mit den damaligen Menschenbesitzern
und -besitzerinnen festgestellt: Onesimus «hatte mit seiner Flucht...
dem schlechten Ruf seiner phrygischen Herkunft und seines Standes alle Ehre
gemacht» (Stuhlmacher, 39).
Paulus schickt Onesimus zurück und setzt ihn so der Willkür seines
Besitzers aus. Der Schutzbrief bezieht zwar eindeutig Position für
Onesimus, überlässt es aber dem Besitzer ausdrücklich, nach
eigenem Gutdünken zu handeln.
Nach der antiken Rechtsauffassung wurde die Sklaven- und Sklavinnenflucht
von öffentlicher und privater Hand geahndet. Den Besitzenden waren
in der Bestrafung keine Grenzen gesetzt. Allein Asylstätten in Heiligtümern
und Fürsprache von Hochgestellten konnten einzelne Sklaven und Sklavinnen
vor Tod oder Misshandlung retten.
Paulus verbindet die Bitte um Schonung des Onesimus mit einem persönlichen
Wunsch: Paulus möchte sich den Sklaven ausleihen, damit er ihm im Gefängnis
dient.
Es bleibt im Brief offen, ob Paulus um die Freilassung des Sklaven bittet,
wenn er ihn nicht nur vor dem Herrn, sondern auch dem Fleisch nach als Bruder
bezeichnet. Paulus verlässt zwar die Logik der Menschenbesitzenden
nicht, doch mutet er der Gemeinde zu, eine Gegenöffentlichkeit zu bilden:
Im Unterschied zu Pax Romana, die dafür sorgt, dass die Flüchtlinge
eingefangen und zur Abschreckung anderer öffentlich bestraft werden,
bürgt die Gemeinde gerade für das Gegenteil: Der Sklave soll nicht
bestraft, mehr noch, als Bruder integriert werden. Welche Konsequenzen dies
für das alltägliche Zusammenleben hatte, bleibt allerdings im
Dunkeln.
Der Lesungstext zeigt viele Facetten eines delikaten Problems: Die Fürsorge
von Privilegierten, die den Untergebenen freiwillig mit Liebe statt mit
Gewalt begegnen (Liebespatriarchat), bleibt willkürlich und entmündigend.
Dass im Gespräch von Mann (Paulus) zu Mann (Philemon) die dritte Person
in eigener Sache nicht zur Sprache kommt, muss im Interesse entsprechender
heutiger Redekonventionen kritisch vermerkt werden. Der Ansatzpunkt einer
ermächtigenden Debatte von Lebensmöglichkeiten darf jedoch auch
nicht übersehen werden: Eine engagierte Öffentlichkeit ist aufgerufen,
Zeugin zu sein, wie die selbstverständliche Gewaltordnung aufgebrochen
wird. Ob sie dies dann im Sinne der kühnen Sätze von radikaler
Gleichheit (Gal 3,28) aktualisieren kann, muss jede Öffentlichkeit
zu jeder Zeit neu beantworten.
Auch heute gibt es Menschen, die privatem guten Willen oder eben auch privater Willkür und Gewalt ausgeliefert sind: Hausangestellte beispielsweise arbeiten in Haushalten oder auch Kirchen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil sie keine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Auch hier bildet das private Wohlwollen ein dünnes Eis: Öffentlich illegalisiert wie damalige Menschen, die aus der Sklaverei flohen, sind sie auf eine Gegenöffentlichkeit angewiesen, die mit den Betroffenen als Zeugin und Anwältin deren Leben und Würde schützt.
Literaturhinweis: Sabine Bieberstein, Brüche in der Alltäglichkeit der Sklaverei. Eine feministische Lektüre des Philemonbriefes, in: Claudia Janssen, Luise Schottroff, Beate Wehn (Hrsg.), Paulus: Umstrittene Traditionen lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001, 116128; Peter Stuhlmacher, Der Brief an Philemon, (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 1), Zürich 1975.
Den ganzen Brief lesen. Das Hauptanliegen des Paulus in einen Satz fassen (in Gruppen auf Plakate). Ebenfalls diskutieren und notieren: Was könnte das Anliegen, der Wunsch von Onesimus selber sein?
Zusammentragen und Informieren
Stellung des Briefes zur Sklaverei: Akzeptanz der Institution und gleichzeitig
Aufsprengung der Selbstverständlichkeit. Vergleich mit anderen Paulustexten
zum Thema (Überwindung der sozialen Grenzen, zum Beispiel Gal 3,26ff.;
2 Kor 5,17; Beibehaltung der ungleichen Machtverhältnisse, 2 Kor 7,21ff.).
Christliche Wirkungsgeschichte im Dienst und mit den Augen der Menschenbesitzer/-innen.
Aktualisieren
Aktuelle Beispiele suchen (zum Beispiel die Rechtssituation der illegalisierten
Hausangestellten in der Schweiz, vgl. die Broschüre «Illegal
und unentbehrlich», zu beziehen beim Fraueninformationszentrum FIZ:
fiz-mail@access.ch)
Text umformulieren: Paulus und Onesimus schreiben zusammen den Brief (nicht nur Paulus über Onesimus). Die beiden suchen eine dialogische Lösung und stellen diese Philemon, Aphia, Timotheus und der Hausgemeinde vor.