35/2001

INHALT

Lesejahr C

Illegalisiert

Regula Grünenfelder zu Phlm 9b-10.12-17

 

Auf den Text zu

Die Kanonisierung des Philemonbriefes ist zwar früh belegt, doch wurde sie wegen des «belanglosen Inhalts» des Schreibens immer wieder angezweifelt. Er galt nicht nur als banal, sondern möglicherweise auch als gefährlich. So konnte er seit dem 2. Jahrhundert als Dokument für die Berechtigung der Vorwürfe an das Christentum gelten, unter dem Deckmantel religiöser Bekehrung Sklaven- und Sklavinnenbefreiung zu fördern. Diese Interpretation setzt allerdings eine voreingenommene Lektüre voraus: Paulus rüttelt im Philemonbrief nämlich nicht an der Sklaverei als Institution. Entsprechend wurde er bis ins 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit den afroamerikanischen Befreiungsbewegungen zur christlichen Legitimation von Menschenbesitz herangezogen.

Mit dem Text unterwegs

Der Philemonbrief ist der kleinste, persönlichste der erhaltenen Paulusbriefe und behandelt ein konkretes Problem: Onesimus, ein Sklave im Haus des Christen Philemon, hat sich zu Paulus abgesetzt und ist bei ihm ebenfalls Christ geworden. Mit der Bitte um liebevolle Aufnahme des Entlaufenen und darüber hinaus um dessen Freistellung für den Apostel selber, der (wahrscheinlich in Ephesus, um 56 nach Christus) im Gefängnis sitzt, stellt Paulus dem Sklaven einen Schutzbrief aus.
Der Brief ist nicht allein an Philemon gerichtet, sondern zieht die Sache vor eine weitere Öffentlichkeit. Als Zeugin wird erstens eine Frau, Aphia, aufgerufen. Zweiter namentlich genannter Zeuge ist Archippus. Paulus verhandelt das Problem des Philemon mit seinem Sklaven also nicht als Privatsache, sondern involviert drittens sogar die ganze Hausgemeinde.
Für die Lesung wurde ein Ausschnitt aus der Fürsprache für Onesimus gewählt, der ganz vom Verzicht auf apostolische Autorität des Verfassers geprägt ist und statt dessen um rechtes Verhalten auf Grund von Beziehung wirbt.
Paulus beginnt nicht gleich mit der Bitte, sondern präsentiert sich zuerst als Bittender. Er ist ein alter Mann und liegt für Christus im Gefängnis. Damit zeichnet der Apostel von sich ein Bild, das ebenso Schwäche und fehlende Einflussnahme markiert, wie einen moralischen Anspruch: Dem alten Mann, der im Gefängnis für Christus leidet, kann doch keine Bitte abgeschlagen werden.
Paulus bittet für sein geistliches Kind, das er im Gefängnis gezeugt hat. Aus rabbinischen wie aus Qumranschriften sind vergleichbare geistliche Adoptionsformeln bekannt.
Sein Kind, wahrscheinlich ein entlaufener Sklave aus christlichem Haushalt, hiess Onesimus. «Der Nützliche» war damals ein geläufiger Sklavenname. Er taucht auch im deuteropaulinischen Kolosserbrief (4,9) auf. Werden die beiden Nennungen zusammengebracht, kann auf den Heimatort von Philemon und Onesimus in Kolossäa(Phrygien) geschlossen werden. Laut antiker Quellen galten phrygische Sklaven und Sklavinnen als unzuverlässig und unbrauchbar (s. Vers 11).
Selbst in modernen Kommentaren wird solidarisch mit den damaligen Menschenbesitzern und -besitzerinnen festgestellt: Onesimus «hatte mit seiner Flucht... dem schlechten Ruf seiner phrygischen Herkunft und seines Standes alle Ehre gemacht» (Stuhlmacher, 39).
Paulus schickt Onesimus zurück und setzt ihn so der Willkür seines Besitzers aus. Der Schutzbrief bezieht zwar eindeutig Position für Onesimus, überlässt es aber dem Besitzer ausdrücklich, nach eigenem Gutdünken zu handeln.
Nach der antiken Rechtsauffassung wurde die Sklaven- und Sklavinnenflucht von öffentlicher und privater Hand geahndet. Den Besitzenden waren in der Bestrafung keine Grenzen gesetzt. Allein Asylstätten in Heiligtümern und Fürsprache von Hochgestellten konnten einzelne Sklaven und Sklavinnen vor Tod oder Misshandlung retten.
Paulus verbindet die Bitte um Schonung des Onesimus mit einem persönlichen Wunsch: Paulus möchte sich den Sklaven ausleihen, damit er ihm im Gefängnis dient.
Es bleibt im Brief offen, ob Paulus um die Freilassung des Sklaven bittet, wenn er ihn nicht nur vor dem Herrn, sondern auch dem Fleisch nach als Bruder bezeichnet. Paulus verlässt zwar die Logik der Menschenbesitzenden nicht, doch mutet er der Gemeinde zu, eine Gegenöffentlichkeit zu bilden: Im Unterschied zu Pax Romana, die dafür sorgt, dass die Flüchtlinge eingefangen und zur Abschreckung anderer öffentlich bestraft werden, bürgt die Gemeinde gerade für das Gegenteil: Der Sklave soll nicht bestraft, mehr noch, als Bruder integriert werden. Welche Konsequenzen dies für das alltägliche Zusammenleben hatte, bleibt allerdings im Dunkeln.
Der Lesungstext zeigt viele Facetten eines delikaten Problems: Die Fürsorge von Privilegierten, die den Untergebenen freiwillig mit Liebe statt mit Gewalt begegnen (Liebespatriarchat), bleibt willkürlich und entmündigend. Dass im Gespräch von Mann (Paulus) zu Mann (Philemon) die dritte Person in eigener Sache nicht zur Sprache kommt, muss im Interesse entsprechender heutiger Redekonventionen kritisch vermerkt werden. Der Ansatzpunkt einer ermächtigenden Debatte von Lebensmöglichkeiten darf jedoch auch nicht übersehen werden: Eine engagierte Öffentlichkeit ist aufgerufen, Zeugin zu sein, wie die selbstverständliche Gewaltordnung aufgebrochen wird. Ob sie dies dann im Sinne der kühnen Sätze von radikaler Gleichheit (Gal 3,28) aktualisieren kann, muss jede Öffentlichkeit zu jeder Zeit neu beantworten.

Über den Text hinaus

Auch heute gibt es Menschen, die privatem guten Willen oder eben auch privater Willkür und Gewalt ausgeliefert sind: Hausangestellte beispielsweise arbeiten in Haushalten oder auch Kirchen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil sie keine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Auch hier bildet das private Wohlwollen ein dünnes Eis: Öffentlich illegalisiert wie damalige Menschen, die aus der Sklaverei flohen, sind sie auf eine Gegenöffentlichkeit angewiesen, die mit den Betroffenen als Zeugin und Anwältin deren Leben und Würde schützt.

 

Literaturhinweis: Sabine Bieberstein, Brüche in der Alltäglichkeit der Sklaverei. Eine feministische Lektüre des Philemonbriefes, in: Claudia Janssen, Luise Schottroff, Beate Wehn (Hrsg.), Paulus: Umstrittene Traditionen ­ lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001, 116­128; Peter Stuhlmacher, Der Brief an Philemon, (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 1), Zürich 1975.


Er-lesen

Den ganzen Brief lesen. Das Hauptanliegen des Paulus in einen Satz fassen (in Gruppen auf Plakate). Ebenfalls diskutieren und notieren: Was könnte das Anliegen, der Wunsch von Onesimus selber sein?

Er-hellen

­ Zusammentragen und Informieren
Stellung des Briefes zur Sklaverei: Akzeptanz der Institution und gleichzeitig Aufsprengung der Selbstverständlichkeit. Vergleich mit anderen Paulustexten zum Thema (Überwindung der sozialen Grenzen, zum Beispiel Gal 3,26ff.; 2 Kor 5,17; Beibehaltung der ungleichen Machtverhältnisse, 2 Kor 7,21ff.). Christliche Wirkungsgeschichte im Dienst und mit den Augen der Menschenbesitzer/-innen.

­ Aktualisieren
Aktuelle Beispiele suchen (zum Beispiel die Rechtssituation der illegalisierten Hausangestellten in der Schweiz, vgl. die Broschüre «Illegal und unentbehrlich», zu beziehen beim Fraueninformationszentrum FIZ: fiz-mail@access.ch)

Er-leben

Text umformulieren: Paulus und Onesimus schreiben zusammen den Brief (nicht nur Paulus über Onesimus). Die beiden suchen eine dialogische Lösung und stellen diese Philemon, Aphia, Timotheus und der Hausgemeinde vor.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001