22-23/2001

INHALT

Lesejahr C

Hoffnung hält am Leben

Regula Grünenfelder zu Röm 5,1-5

 

Auf den Text zu

Als Jugendliche habe ich bei so vielen grossen Wörtern ­ Rechtfertigung, Hoffnung, Gnade, Herrlichkeit ­ jeweils voll Ehrerbietung und Langeweile abgeschaltet.
Heute erlebe ich, wie sich gutwillige Menschen solche biblischen Texte höflich anhören. Sie nehmen darin irgendwie das zentrale Geheimnis des Glaubens wahr, doch bringen sie es mit sich und ihrer Welt kaum in Verbindung.
Angesichts dieser Erfahrungen muss das Plädoyer für diese grossen Wörter zum Trinitätssonntag vorsichtig ausfallen.

Mit dem Text unterwegs

Das theologische Konzentrat unserer Lesung steht nicht für sich allein. Es gehört in den grösseren Rahmen von Argumentation und Meditation über den Zugang zum Heil (3,21­5,21). Unser Text ist als Fazit aus dem anschaulichen 4. Kapitel zu verstehen, in dem Paulus mit Hilfe der Identifikationsfigur Abraham seine Theologie der Rechtfertigung aus dem Glauben entwickelt.
Schon Abraham rang damit: Gottes überraschende Heilszusage steht gegen die offensichtlichen, sogar als selbstverständlich akzeptierten Todeszeichen (Röm 4,18­22). Glauben bedeutet, die Hoffnung auf Leben nicht aufzugeben und dem Tod und seinen Verbündeten das letzte Wort zu bestreiten.
In unseren Versen zieht Paulus seine Folgerungen aus der Geschichte für die gegenwärtige Situation. Er bekennt Gottes Heil und Leben, die im Frieden mit Gott heute schon zur Vollendung kommen, aber gleichzeitig auch nach der Heilsvermittlung durch Christus dem Widerspruch durch die Wirklichkeit ausgesetzt sind und bleiben.
«Gerecht gemacht aus Glauben haben wir Frieden mit Gott» klingt nach zweitausend Jahren antijüdischer Auslegung in erster Linie nach einer unüberbrückbaren Opposition zwischen der «christlichen» Rechtfertigung aus dem Glauben und einer jüdischen Werkgerechtigkeit. Diese Assoziation ist nur zum Teil berechtigt. Paulus bekämpft eine Haltung der Gesetzlichkeit, doch ist er mit seiner Kritik in guter jüdischer Gesellschaft (Sir 7,5; Spr 16,2).
Die Vermittlung durch Christus schafft Zugänge und gibt Boden. Paulus verwendet zuerst eine liturgische Formel (2), dann ein Bild aus der zeitgenössischen Politik und dem Kult: Zugang erhalten Untertanen zu den Herrschern, der Hohepriester zum Allerheiligsten. Einerseits ist es wohltuend, dass an die Stelle der Herrschenden hier die Gnade tritt, andererseits übernimmt Paulus auch einen Vergleich, der vom Verhältnis von Mensch und Gott in der Herrschaftssprache spricht. Die Missbrauchsgefahr ist damit gegeben.
Durch diesen Zugang können Menschen in der Gnade stehen. Die hellenistisch-jüdische Theologie bezeichnet mit dem Stand den Halt und die Kraft, die weise Menschen gewinnen, wenn sie sich mit ihrem Leben und Hoffen in der Wirklichkeit Gottes verwurzeln. Dieser Stand entlastet: Nicht die eigene widersprüchliche Biographie gibt Halt, sondern Gottes Gnade. Ebenso verhält es sich mit der ganzen Person. Wir müssen uns selber nicht die Ehre geben. Unser Ruhm gebührt unserer Hoffnung.
Der folgende Kettenschluss (3­5), der die grössere Ehre der Bedrängnis zukommen lässt, verlangt eine vorsichtige Annäherung:
Einerseits: Empfehlen Menschen, die Bedrängnis verursachen oder davon profitieren, ihren Opfern Freude in der (rassistischen, sexistischen, ökonomischen...) Not, dann schreiben sie die schlimme Missbrauchsgeschichte grosser theologischer Wörter weiter.
Andererseits: Die jüdische Apokalyptik erkannte gerade im Gotteslob aus der Bedrängnis überlebensnotwendige Hoffnungszeichen einer Wende zur neuen Welt. Die Befreiungstheologie hat diese Wahrnehmung von Bedrängnis und Gotteslob als Widerstand übernommen. Die selbstverständliche Not, die Sachzwänge von Wirtschaft und Religionspolitik müssen als solche erkannt und benannt werden. Die grossen Wörter können dabei helfen, das Geheimnis des Lebens vor der Trivialität zu schützen und zu hüten.
Paulus ist kein Romantiker, obwohl er von der Hoffnung und vom Herzen spricht. Aber er weiss etwas von der Liebe. Das Herz meint die liebesfähige Person, die empfänglich ist für die Ströme des Heiligen Geistes, überströmendes Leben für alle.

Über den Text hinaus

Dem Bekenntnis des Paulus gehen Erfahrungen voraus; es ist die Frucht dieser Erfahrungen.
Grosse Wörter sind gefährlich, weil sie ohne Anbindung an Erfahrungen hohl und langweilig werden. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn zu diesen grossen Wörtern noch die nicht weniger hohe Trinität gefeiert wird. Da hilft es, sich an Ursprünge und Entstehungsgeschichten zu erinnern: Im Zweiten Testament finden wir «Zweierformeln», in denen die enge Gemeinschaft von Gott und Jesus Christus, dem Vater und dem Sohn ausgesprochen wird. Gerade im Römerbrief finden sich auch «Dreierformeln», die darauf hindeuten, dass die Beziehungsqualität in Gott ­ in der Tradition der jüdischen Weisheitstheologie ­ schon früh meditiert wurde. Sie bilden Grundmuster späterer dogmatischer Entscheidungen.
Grosse Wörter können aber auch in einem anderen Sinn gefährlich sein. Wer den Mut und die Phantasie hat, dem Gottesfrieden jetzt zu trauen und die Hoffnung auf den Lichtglanz zu Gottes pflegen, lebt mit dem Fuss in der Tür: Es darf, es muss für alle noch mehr als alles geben.

 

Literatur: Michael Theobald, Römerbrief, Kapitel 1­11, Stuttgarter Kleiner Kommentar 6/1, Stuttgart 1992; Elsa Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998.


Er-lesen

Verse im Chor lesen (Paulus formuliert im Plural: Wir!). Die grossen Wörter sammeln. Je eines auf ein Plakat schreiben und an die Wand hängen. Alle Teilnehmenden erhalten einen dicken Stift und notieren ihre Kommentare/Fragen im Schweigen auf die Plakate (Wandzeitung). ­ Austausch.

Er-leuchten

Aufbau des Textes darstellen und Kontext einführen. Evtl. Hintergrundinformationen zum Römerbrief, den Paulus an die ihm unbekannte Gemeinde in Rom geschrieben hat und in dem er sich und seine Theologie vorstellt. Begriffe klären (zur Rechtfertigung vgl. Text zum 11. Sonntag im Jahreskreis). Evtl. Hilfen, um die Verse nicht vom Trinitätsdogma her zu lesen, sondern umgekehrt, das Dogma als Interpretation dieses Bekenntnisses betrachten.

Er-leben

Selbstbesinnung auf den Satz: «Wir rühmen uns unserer Hoffnung auf die Herrlichkeit (den Lichtglanz) Gottes.» Mich meiner Hoffnung rühmen? Erinnere ich mich an eine persönliche Erfahrung, in der ich auf Gott, das Geheimnis des Lebens, gehofft habe? Geschichte notieren. Wie vervollständige ich den Satz für mich? «Ich rühme mich meiner Hoffnung (auf, weil)...»
Ritual: Alle stehen im Kreis. Hoffnungslied singen. Eine Person nach der anderen sagt ihren Satz (wem dies zu persönlich ist, formuliert nur die Vorgabe: «Ich rühme mich meiner Hoffnung»). Die anderen antworten: Wir rühmen dich deiner Hoffnung, NN. Je nach Dialekt wird die Übersetzung ins Schweizerdeutsche anders ausfallen. Der vorgegebene Satz muss auf jeden Fall zu den Menschen passen.


Gerecht vor Gott

Daniel Kosch zu Gal 2,16.19-21

 

Auf den Text zu

Die 1999 feierlich unterzeichnete «Gemeinsame Erklärung» des lutherischen Weltbundes und der katholischen Kirche zur Rechtfertigungslehre hält fest: «Die Rechtfertigungslehre ist Massstab oder Prüfstein des christlichen Glaubens. Keine Lehre darf diesem Kriterium widersprechen». Dass «der Mensch aus dem Glauben an Jesus Christus und nicht aus Werken des Gesetzes gerecht wird» (Gal 2,16; vgl. Röm 3,28 u.ö.), ist also nicht nur ein Basissatz der paulinischen Verkündigung, sondern ein Herzstück jeder christlichen Theologie. Und dies nicht nur nach Auffassung der Kirchen der Reformation, sondern auch aus der Sicht des Lehramtes der Römisch-Katholischen Kirche. Das allerdings ändert nichts daran, dass die meisten Bibelleserinnen und -leser, aber auch viele Predigerinnen und Theologen grösste Schwierigkeiten mit dem Verständnis der verwendeten theologischen Sprache haben und sich schwer damit tun, die Bedeutung dieser Lehre für den Alltag christlichen Lebens und Glaubens zu erfassen. Zusätzlich ist die «Rechtfertigungslehre» durch schwerwiegende Missverständnisse belastet, insbesondere weil sie oft als antijüdische Kampflehre missbraucht wurde.
Die Ausgangslage für eine Predigt zu Gal 2,16­21 ist also widersprüchlich: Der Text ist theologisch sehr wichtig, aber zugleich sehr schwierig.

Mit dem Text unterwegs

Gal 2,16ff. steht im Zusammenhang mit dem so genannten «antiochenischen Zwischenfall», von dem Paulus den Galaterinnen und Galatern erzählt. Petrus habe in Antiochia die Tischgemeinschaft mit Gemeindegliedern nichtjüdischer Herkunft gehalten, diese dann aber unter dem Druck von Missionaren aufgekündigt, die auch von diesen die Beschneidung und die Einhaltung der Speisegebote verlangten. Darauf ist Paulus dem Petrus offen entgegengetreten und hat ihn der Unaufrichtigkeit bezichtigt: Er habe die Trennung zwischen Judenchristen und Heidenchristen wieder aufgerichtet, die er zuvor niedergerissen hatte ­ und sich damit selbst ins Unrecht gesetzt. Dies erzählt Paulus aus aktuellem Anlass: Er fürchtet, dass nun auch in Galatien unter dem Einfluss von Missionaren, die nach ihm in die Gemeinden gekommen sind, die Tischgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen aufgekündigt wird.
In seiner Rede, die Paulus an Petrus ­ und indirekt an die Gemeinden in Galatien ­ richtet, beruft er sich auf einen Lehrsatz, der vermutlich in Antiochien geprägt wurde und den beide, Petrus und Paulus, als Basissatz akzeptieren (vgl. auch Apg 15,11). Der Lehrsatz lautet in einer wörtlicheren Übersetzung von Gal 2,16 so: Nicht wird gerechtfertigt der Mensch aus den Werken des Gesetzes wenn nicht durch den Glauben an Jesus Christus.
Sein Stil wie auch umfassende Ausdrücke wie «der Mensch» oder «Werke des Gesetzes» zeigen, dass es sich um eine «grundsätzliche» Aussage handelt. Die Frage «Wie wird der Mensch gerecht vor Gott?» ist im Verständnis dieses Satzes nicht irgendeine Frage, sondern die Frage schlechthin: «Gerechtigkeit» ist für ihn nämlich viel mehr als eine soziale Tugend: Der gerechte Mensch ist der, welcher überhaupt «in Ordnung» ist, der im rechten Verhältnis zu Gott, zu den Menschen und zur Welt lebt. Die Hoffnung auf «Gerechtheit» bzw. «Anteil an der Gerechtigkeit Gottes» ist demzufolge umfassend. Heute spräche man vielleicht von gelingendem Leben, das sowohl Freiheit als auch Gemeinschaft ermöglicht, in dem echte Selbstverwirklichung und Solidarität sich miteinander verbinden. Andere ähnlich umfassende Verheissungen der Bibel sind Friede (Schalom), Reich Gottes, Leben in Fülle, Heil, Erlösung, Versöhnung mit Gott und den Menschen, der neue Himmel und die neue Erde...
Dass das Vertrauen auf Jesus Christus Menschen unterschiedlichster Herkunft Befreiungs- und Auferstehungserfahrungen machen lässt und neue Voraussetzungen zu gottgewolltem Leben schafft, ist die Grunderfahrung der ersten christlichen Gemeinden. Das Vertrauen auf den gekreuzigten und auferstandenen Messias zerstört die Ideologie, dass alles Gute (Gott, Friede, Heil, Gerechtigkeit...) vom römischen Imperium und seinem Herrschaftssystem kommt. Die Taufe und die offene Tischgemeinschaft «im Namen Jesu Christi» ermöglichen Erfahrungen grenzüberschreitender Zusammengehörigkeit. Unabhängig von sozialem Stand, religiöser Herkunft und Geschlecht (vgl. Gal 3,26­28) sind alle «eins in Christus Jesus» und erhalten Anteil an seiner göttlichen Würde. Diese neue, alles bisherige umstürzende Erfahrung schafft auch neue Voraussetzungen für ein Leben nach dem Willen Gottes.
Weil Paulus in seiner Berufung ausserordentlich intensiv von dieser Neuheitserfahrung betroffen war, hat er sie umfassend reflektiert und konsequent für die Praxis der Gemeinden ausgelegt: Nichts, was bisher galt, darf dem Neuen, der offenen und geschwisterlichen Gemeinschaft der Töchter und Söhne Gottes im Wege stehen. Das hält er im Galaterbrief gegenüber Kreisen fest, die dieses Neue im Namen der «Werke des Gesetzes» beschränken oder bekämpfen wollen. Er hält es aber auch gegenüber Kreisen fest, die dies im Namen der herrschenden Machtverhältnisse tun und fordert sie auf: «Gleicht euch nicht dieser Welt an» (Röm 12,2). Und er hält an dieser neuen Gemeinschaft von Gleichgestellten fest gegenüber Auffassungen, religiös besonders Begabte mit «höheren Charismen» (1 Kor 12­14) könnten mehr zum Gottesdienst der Gemeinde beitragen als andere, «einfache» Gemeindeglieder.
Der Basissatz «gerechtfertigt durch Glauben allein» macht Paulus sensibel für die Gefahr des Rückfalls hinter die Erfahrung der voraussetzungslosen und an keinerlei Vorleistungen gebundenen Güte Gottes. Geradezu «übersensibel» ist der ehemalige Pharisäer, wo es um die «Werke des Gesetzes geht» ­ auch das ist die Folge der dramatischen Lebenswende bei seiner Berufung. In anderen Bereichen ist diese Sensibilität zu wenig entwickelt. Wo es um die Umsetzung des Prinzips «weder männlich noch weiblich» geht (Gal 3,28), ist Paulus weit weniger konsequent (1 Kor 11).

Über den Text hinaus

Die Gefahr des Rückfalls hinter die (für uns nicht mehr «neue») Erfahrung einer offenen Gemeinschaft der von Gott zusammengerufenen Menschen, die auf sein befreiendes Handeln vertrauen, besteht nach wie vor. Und so behält auch die «Rechtfertigungslehre» eine kritische Aktualität. Die trennenden Mauern werden aber längst nicht mehr von judenchristlichen Kreisen aufgerichtet, die «Werke des Gesetzes» für heilsnotwendig erklären. Vielmehr ist die weltweite wie die lokale Gemeinschaft der Söhne und Töchter Gottes von wirtschaftlicher Ungleichheit, von Diskriminierungen und Vorurteilen aller Art und nicht zuletzt von innerkirchlichen Polarisierungen bedroht. Überall, wo Menschen ausgeschlossen werden, die nicht leistungsfähig sind, sich nicht anpassen oder religiös-moralischen Ansprüchen nicht genügen, behält die Rechtfertigungslehre ihre Brisanz ­ als «Massstab und Prüfstein» des christlichen Glaubens und der solidarischen Praxis.


Er-hellen

Text in den Zusammenhang des Galaterbriefes und besonders in Gal 2,11­21 einbetten.

Er-lesen

Gal 2,16 in wörtlicher Übersetzung auf grosses Plakat schreiben. Die einzelnen Wörter möglichst mit konkretem Inhalt füllen (z.B.: Mensch ­ Mann, Frau, Kind, Sklavin, Behinderter...; Glauben ­ Vertrauen, Hoffen, sich orientieren an...).

Er-leben

Einzeln oder in Kleingruppen den biblischen «Grundsatz» in Form von konkreten und aktuellen Einzelsätzen neu formulieren und kommentieren. Diese einander vortragen, evtl. als Elemente einer Besinnung für den Gottesdienst ausarbeiten.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001