36/2001 | |
INHALT |
Leitartikel |
Wo sind wir denn? fragten sich in den vergangenen Monaten viele in diesem
Land. Von der «Tollhaus Schweiz AG» war die Rede («Cash»),
und in einem Tollhaus fühlten sich viele bei den sich häufenden
Meldungen über Schlamm und Zoff in den Chefetagen, über schamloses
Abkassieren und naives Vertuschen, über Fehlinvestitionen in horrender
Höhe und über einfältige Versuche, sich trotz allem und bis
zuletzt rechtfertigen zu wollen.
Nicht, um lustvoll in der Wunde zu stochern, sondern vielmehr um sich ein
genaueres Bild zu machen, ist es angebracht, sich «Vorfälle»
und Affären nochmals zu vergegenwärtigen. Denn was in den vergangenen
Monaten, oft Schlag auf Schlag, an den Tag befördert wurde, sagt doch
einiges über den Zustand unserer Gesellschaft aus.
Es gibt zwei Gruppen von Tatbeständen. Bei der einen geht es um den
puren Eigennutz, um die Sucht, sich persönlich möglichst grosse
Vorteile zu verschaffen, sich bei den Löhnen ungeniert und ungehemmt
zu bedienen, aber ebenso andere mit Geld zufriedenzustellen, besser gesagt:
andere für sich einzunehmen, sie zu kaufen. In diese Gruppe gehören
die (viel zu) billige Mietwohnung auf Kosten der öffentlichen Hand,
überrissene Kaderlöhne in so genannten «Bundesbetrieben»
und in der Privatwirtschaft und selbstverständlich auch die berühmten
Nerz- und Reisegeschenke sowie andere «Zugaben».
Anders gelagert ist die zweite Gruppe: Hier wird zwar meist das Wohl der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und des Unternehmens insgesamt in den
Vordergrund geschoben, wenn Manager ihr Imperium auszuweiten versuchen,
mit Millionen- oder Milliardenbeträgen andere Firmen und Unternehmen
aufkaufen oder mit anderen fusionieren, um sich unter die «Top five»
oder «Top ten» oder wie auch immer einreihen zu können.
Doch regiert auch hier sehr viel Eigensucht, kaum je das wahre Interesse
der Firma. Denn, wenn ganze Firmenkulturen zerschlagen werden, unzählige
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Ebenen ihren sicher geglaubten Arbeitsplatz
verlieren, Millionen von Franken fast willkürlich verschleudert werden,
kann wohl kaum im Ernst behauptet werden, hier sei wirtschaftliche Vernunft
am Werk.
Ähnliches wäre vom «Neuen Markt» zu sagen. Wie wurde
der noch vor einem Jahr hoch gejubelt! Und jetzt? Nur ein paar Monate nach
den schwindelerregenden Haussen an der Börse fragen sich kritische
Zeitgeister, wie die Gesellschaft den Niedergang, den Verlust unglaublich
hoher materieller Werte verkraften werde...
Zu Recht ist davor zu warnen, alles in den gleichen Topf zu werfen und die
Entwicklung der Wirtschaft und der Technik mit dem Hinweis auf Negativbeispiele
stoppen zu wollen. Das wäre zu kurz gesprungen und hätte
auch keinen Erfolg. Doch muss es erlaubt sein, sich ein paar weiterführende
Gedanken zu machen.
So müssen wir feststellen, dass uns offensichtlich die Tugend der Mässigung
mehr und mehr abhanden kommt. All die Fälle, die uns so nerven, die
wie Gift in dieser Gesellschaft wirken, besagen immer das Gleiche: Da nehmen
sich einige wenige Leute Vorteile auf Kosten anderer, auf Kosten der ganzen
Gesellschaft heraus, können mit dem, was ihnen gegeben ist, nicht sinnvoll
umgehen, haben nicht die Sensibilität, Grenzen zu erkennen und ihr
Verhalten selber beurteilen zu können, geschweige denn die Grösse,
Fehler einzugestehen.
Das ist um so schwerwiegender, je mehr Verantwortung in einer Hand versammelt,
je bedeutender die Führungsaufgabe der betreffenden Leute ist. Es muss
am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag, an diesem nationalen Besinnungstag,
zum Nachdenken Anlass geben, wie mit solchem Verhalten bei all den
Verlockungen unserer Wohlstandsgesellschaft umzugehen ist. «Moralisieren»
hilft nicht weiter. Die Leute wollen das nicht (mehr). Auch die Kirchen
hätten damit keinen Erfolg.
Dagegen müsste wieder deutlicher und immer wieder gerne oder
ungern gehört! darauf hingewiesen werden, was sozialer Friede
und soziale Gerechtigkeit voraussetzen, und wie wichtig beide für das
Wohl eines Volkes und eines Staates sind. Um das jedoch glaubhaft darstellen
zu können, müssten die Kirchen und ihre Vertreterinnen und Vertreter
selber mit dem guten Beispiel vorangehen.
Mässigung, Mass halten, Augenmass üben das ist nicht nur
eine Sache der Wirtschaft und der Politik. Wer das glaubt, macht sich die
Sache zu einfach. Die Tugend der Mässigung ist auch in vielen anderen
Bereichen verloren gegangen. Ich denke an die Masslosigkeit in der Mobilität,
an die zunehmende Verliebtheit in technische Neuheiten jeder Art, an den
täglichen Verkehr und das Reisen durch die halbe Welt, an die Selbstdarstellung
in der Öffentlichkeit aber auch an die masslos hohe Zahl von
Papieren, Reden und Erklärungen jeder Güteklasse.
Wer dennoch im Verhalten der Wirtschaft die Grundursache allen Übels
sehen sollte, wie dies in der Diskussion über die Globalisierung oft
festzustellen ist, der sollte nicht vergessen, dass Urteilen und Verurteilen
herzlich wenig bringt, dass auch hier nur das argumentative, kenntnisreiche
Gespräch weiterführen kann. Dazu aber braucht es gerade bei Kirchenleuten
weit mehr wirtschaftliche und politische Sachkenntnis, als dies heute allgemein
festzustellen ist. Das die Ökumenische Konsultation auswertende «Wort
der Kirchen» könnte einen Neubeginn markieren.<1>
Zu hoffen ist es!
Alois Hartmann ist zurzeit persönlicher Mitarbeiter des Wirtschaftsdirektors des Kantons Luzern und Redaktor von «WeltWeit».
1 Vorgestellt und Verantwortungsträgern aus Staat und Wirtschaft überreicht wurde das «Wort der Kirchen» anlässlich des Schlussaktes, der am 1. September und also nach unserem Redaktionsschluss in Bern stattgefunden hat und den wir deshalb erst in der nächsten Ausgabe werden thematisieren können. Anmerkung der Redaktion.