22-23/2001

INHALT

Leitartikel

Les langues de feu

von Alois Koch

 

Pfingsten ist ein anspruchsvolles Thema, theologisch, liturgisch ­ und musikalisch; es fehlt bei diesem Fest die Bildlichkeit von Weihnachten, Passion oder Ostern. Geist ist etwas nicht fassbares. So überrascht auch nicht der Umstand, dass die spezifisch zu Pfingsten komponierte Musik meist ausserordentlich anspruchsvoll ist. Eines der Schlüsselwerke in dieser Beziehung ist die 1949/50 entstandene Messe de la Pentecôte des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908­1992),<1> eine Messe für Orgel solo, eine so genannte Orgelmesse.
Orgelmessen gibt es seit dem frühen 15. Jahrhundert. Diese Form von Kirchenmusik entwickelte sich aus den antiphonal (wechselchörig) angelegten Gesängen, indem schon bald die Orgel ­ das Instrument fand im 9. Jahrhundert seinen Platz in der westlichen Kirche ­ einen Chor übernahm. Doch erst im Caeremoniale episcoporum (Rom 1600) billigt Papst Clemens VIII. (1592­1605) diese so genannte Alternatim-Praxis, wobei die damit verbundene Auflage, der Text der von der Orgel übernommenen Partien müsse zusätzlich mindestens gesprochen werden, sich in der Praxis nicht durchsetzte; die Orgelmusik entwickelte sich vielmehr zum selbständigen Partner der Vokalmusik, zuerst des gregorianischen Repertoires (Ordinarium und Proprium missae, Hymnen, Magnificat, Te Deum und andere), schliesslich der Vokalpolyphonie des 15. Jahrhunderts; sie erreichte mit Andrea Gabrieli, Girolamo Frescobaldi und Françoise Couperin ab Mitte des 16. Jahrhunderts ihren künstlerischen Höhepunkt und löste sich dabei auch von ihrer Alternatim-Funktion. In späterer Zeit finden sich hervorragende Beispiele dieser gleichwohl immer text- und liturgiegebundenen Orgelmusik bei J.S.Bach (die Orgelmesse im dritten Teil der Clavier Übung BWV 669­689), in Franz Liszts Missa per organo (1879) und in Max Regers Ordinariumssätzen für Orgel op. 59 (1901). Schliesslich sind es Charles Tournemire, Jean Langlais und Olivier Messiaen, die in der französischen Orgelmusik des 20. Jahrhunderts die Kunst der Orgelmesse nochmals zu höchster Blüte brachten; die Liturgiepraxis in Frankreich bot auch nach dem Vaticanum II die Voraussetzung dazu, da die so genannte «stille Messe» mindestens als Variante weitergepflegt wurde.
Deshalb praktizierte Olivier Messiaen als Organist an der Pariser Kirche Sainte Trinité weit über die nach-vatikanische Zeit hinaus Orgelmessen, nicht als künstlerischen Selbstzweck, sondern nachdem er ­ und dies alle Sonntage ­ drei Gottesdienste unterschiedlicher liturgischer Prägung mitgestaltet hatte jeweils als Abschluss in der «stillen» 12-Uhr-Messe. Es versteht sich, dass dieser Gottesdienst vor allem von Gläubigen besucht wurde, die bewusst eine anspruchsvolle spirituell-künstlerische Herausforderung suchten, und es versteht sich, dass auch Zuhörer an diesem musikalischen Gottesdienst teilnahmen, die ohne die Musik Messiaens der Kirche ferngeblieben wären. Denn Messiaens Orgelmessen, meist Improvisationen, waren eine veritable Herausforderung; einige dieser Improvisationen hat Messiaen zu geschlossenen Orgelzyklen auskomponiert, so unter anderem den Weihnachtszyklus La nativité du Seigneur, die Sept visions brèves de la vie des ressuscités, die Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité, das Livre du Saint Sacrement und für Pfingsten die Messe de la Pentecôte. Diese Pfingstmesse folgt am engsten der liturgischen Situation, indem sie einen Introitus, ein Offertorium, eine Meditation zur Konsekration eine Communio und ein Ausgangsstück (Sortie) umfasst, mit Ausnahme des in der französischen Tradition immer gross angelegten Offertoriums alles kurze funktionsadaequate Sätze.
Wie sehr es Messiaen bei seiner Musik für den Gottesdienst, aber auch in seinem gesamten kompositorischen und interpretatorischen Schaffen ­ er war nicht nur als Komponist, sondern auch als Organist eine herausragende Erscheinung des 20. Jahrhunderts ­ um mehr ging als um bloss künstlerische Fragestellung, verdeutlicht ein Brief, den er 1978 anlässlich einer Aufführung seines Gesamtwerkes zu seinem 70. Geburtstag schrieb:
«Alle wissenschaftlichen Forschungen, mathematischen Beweisführungen und biologischen Versuche haben uns nicht vor der Ungewissheit bewahren können; im Gegenteil, sie haben unsere Unwissenheit noch vergrössert, indem sie immer neue Realitäten unter der geglaubten Wirklichkeit offenbarten. In der Tat, die einzige Wirklichkeit gehört einer anderen Ordnung an: Sie findet sich im Bereich des Glaubens. Nur durch die Begegnung mit einem ANDEREN können wir sie verstehen. Aber dafür muss man durch Tod und Auferstehung hindurch, und das bedeutet den Sprung aus dem Zeitlichen hinaus. Merkwürdigerweise kann uns die Musik darauf vorbereiten, als Bild, Abglanz, Symbol. Die Musik ist nämlich ein ständiger Dialog zwischen Raum und Zeit, zwischen Klang und Farbe, ein Dialog, der in Identifikation mündet: Die Zeit ist ein Raum, der Klang eine Farbe, der Raum ein Komplex einander überlagernder Zeiten. Und der Musiker, der denkt, sieht, hört, spricht, kann sich mittels dieser fundamentalen Begriffe in einem gewissen Masse dem Jenseits nähern; oder wie der hl. Thomas sagt: Die Musik bringt uns Ðin Abwesenheit von Wahrheitð zu Gott, bis zu dem Tag, an dem Er selbst uns mit einem ÐÜbermass an Wahrheitð erhellen wird. Vielleicht ist dies der bedeutungs- und richtungsweisende Sinn der Musik überhaupt.»
Der Introitus der Pfingstmesse Olivier Messiaens überschreibt der Komponist (der seine Musik generell inhaltlich und interpretatorisch detailliert erläutert) mit Les langues de feu: «Zungen von Feuer liessen sich auf einen jeden von ihnen nieder» (Apostelgeschichte 2,3). Er schildert diesen biblischen Vorgang mit schillernden Klangfarben und mit einer profilierten Pedal-Melodie. Der Rhythmus ist komplex und ­ wie das pfingstliche Geschehen ­ schwer fassbar, er wird von einer übergeordneten Metrik gesteuert, die der Hörer (noch) nicht begreift, alles ist offen, es bleibt der Eindruck von etwas Neuem, noch nie Gehörtem.
Das gross angelegte Offertorium beschäftigt sich mit den «sichtbaren und den unsichtbaren Dingen» gemäss dem Credo-Text, den der Komponist einleitend zitiert: Créateur du ciel et de la terre, de toutes choses visibles et invisibles, und den er gegenüber seinem Biografen Antoine Goléa näher erläutert: «Die sichtbaren und unsichtbaren Dinge! In diesen Worten ist alles enthalten! Die bekannten und unbekannten Ausmasse: Vom angenommen Durchmesser des Universums bis zu dem des (kleinsten) Protons ­ die bekannten und die unbekannten Zeitdauern: Vom Alter der Milchstrasse zu dem der Protonwelle ­ die geistige und die materielle Welt, die Gnade und die Sünde, die Engel und die Menschen ­ die Mächte des Lichtes und der Finsternis ­ die Schwingungen der Atmosphäre, der liturgische Gesang, der Gesang der Vögel, die Melodie der Wassertropfen, das dumpfe Grollen des Ungeheuers der Apokalypse ­ alles, was greifbar ist und alles, was verborgen, geheimnisvoll und übernatürlich ist, alles, was der Wissenschaft und dem rationalen Denken spottet, alles, was wir nicht enträtseln können und nie verstehen werden...» Musikalisch wird diese Komplexität durch Einbezug von hinduistischen Rhythmen, sich überlagernder Modi (Ton- und Akkordmuster), bildlicher Musik (Vogelstimmen, Wassertropfen) und Gregorianischen Motiven realisiert, nicht in Form einer blossen Reihung, sondern in kontrapunktischer Verarbeitung. Die Wirkung auf den Zuhörer ist gleichzeitig suggestiv und meditativ, er wird erlebnishaft in diesen Kosmos der sichtbaren und unsichtbaren Dinge miteinbezogen.
Als Wandlungsmusik (in der Tradition der stillen Messe eine musikalische Besonderheit!) reflektiert Olivier Messiaen über «die Gabe der Weisheit» (Le don de la sagesse) bzw. den Johannestext: L'Esprit Saint vous fera ressouvenir de tout ce que je vous ai dit. Von den sieben Gaben des Heiligen Geistes ist die Weisheit wohl die zentralste und die umfassendste, sie eröffnet uns den verborgenen Sinn unseres Daseins und macht uns, was geoffenbart wurde, erst begreifbar. Messiaen komponiert diesen Satz seiner Orgelmesse in Refrainform: Sieben charakteristische Akkorde stehen (wohl) für die sieben Gaben des Geistes ­ sie bilden den ersten Refrain, ein farblich äusserst differenziert gestalteter Abschnitt den zweiten; beide kontrapunktieren mit einer einstimmigen Melodie, welche in freier Form das gregorianische Pfingsthalleluja variiert.
Zur Communion greift der Komponist auf eines seiner Lieblingsthemen zurück, auf den Gesang der Vögel: Les oiseaux et les sources. Was im Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen erklingt («Ihr Wasserquellen, preiset den Herrn, ihr Vögel des Himmels, preiset den Herrn»), verwirklichte Olivier Messiaen in seinem musikalischen Lebenswerk im wörtlichen Sinne. Er studierte weltweit den Gesang der Vögel und wurde (auch unter wissenschaftlichem Aspekt) auf diese Weise zu einem führenden Ornithologen. In unzähligen Formen findet sich das musikalische Resultat dieser Forschungen in der Musik Messiaens, so auch in der Kommunionmusik der Pfingstmesse: Inmitten schimmernder Wassertropfen hören wir das Singen der Schöpfung, den Gesang der Amsel und der Nachtigall, den Ruf des Kuckucks. Mitkomponiert und erlebbar ist aber auch die Stille der Natur ­ eine faszinierende Musik in sensueller, künstlerischer und theologischer Hinsicht!
Schliesslich die grosse Ausgangsmusik; sie stellt im ersten Teil plastisch und unmittelbar Pfingsten dar: Le souffle puissant de l'Esprit Saint, «den Sturmwind des Geistes». Im anschliessenden Mittelstück erklingt der Gesang der Lerchen, gefasst in eine komplexe rhythmische Struktur. Messiaen versinnbildlicht auf diese Weise den Antagonismus zwischen der Freiheit des Geistes und der Gebundenheit der Materie. Mit einer virtuosen Reprise der Offertoriums-Thematik endet diese musikalische Vision des «gewaltigen Brausens, welche das ganze Haus erfüllte» (Apostelgeschichte 2,2) und hinterlässt inspirierte und gewandelte Zuhörer: Der eigentliche Sinn von Pfingsten, das Geheimnis der langues de feu!
Die Messe de la Pentecôte ist geistliche Musik, ist liturgische Musik im wahrsten Sinne. Sie erklang erstmals am Pfingstsonntag 1951 im Mittagsgottesdienst der Kirche Sainte Trinité mit der Absicht «bestimmte Aspekte des Pfingstmysteriums, des Festes des Heiligen Geistes zu kommentieren» (Olivier Messiaen), sie ist das kompositorische Ergebnis engagierter liturgischer Tätigkeit, «das Resümee aller meiner (gottesdienstlichen) Improvisationen», das künstlerische Bekenntnis eines «theologischen» Musikers:
«(Ma) musique doit pouvoir exprimer des sentiments nobles et spécialement les plus nobles de tous, les sentiments religieux exaltés par la théologie et les vérités de notre foi.»

 

Dr. Alois Koch ist Kirchenmusiker der Jesuitenkirche Luzern und Prorektor der Musikhochschule Luzern; er studierte Musikwissenschaft, Orgel und Dirigieren und unterrichtet als Titularprofessor für Kirchenmusik auch an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.


Anmerkung

1 Einspielung der Pfingstmesse von Olivier Messiaen
Eine exemplarische Einspielung findet sich auf der CD Cal 50 939. Der Münchner Organist Harald Feller spielt auf der Klais-Orgel des Münsters zu Ingolstadt zusätzlich Pfingstmusik von Charles Tournemire und Maurice Duruflé.

Literatur zu Olivier Messiaen
Harry Halbreich, Olivier Messiaen, Paris 1980; Almut Rössler, Beiträge zur geistigen Welt Olivier Messiaens, Duisburg 1984; Thomas D. Schlee (Hrsg.), Olivier Messiaen ­ La Cité céleste, Köln 1998; Francis Erasmy, Trinitarische Theologie bei Olivier Messiaen, Lizentiatsarbeit, Luzern 1999.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2001