5/2001 | |
INHALT |
Leitartikel |
Die Frage nach der Identität der Gemeinde beschäftigt heute
viele in der Kirche. Bistumsleitungen stehen vor dem Problem, Pfarreien
schliessen zu müssen. Pfarreien erstellen für ihre pastoralen
Bereiche Leitbilder und Profile. Die Frage, was eine Gemeinde zur Gemeinde
macht, ist komplex. Anleihen, Sichtweisen und Ergebnisse von Human- und
Sozialwissenschaften können zur Klärung dieser Frage beitragen.
Der vorliegende Artikel möchte diese Fragestellung jedoch aus systematischer
Sicht aufgreifen. Er versteht sich als Diskussionsbeitrag.
Der Begriff «Gemeinde» kam in der Breite des Sprachgebrauchs
für katholische Theologie und Kirche erst nach dem II.
Vatikanum in die Mitte von Theorie und Praxis. Der Beitrag des II. Vatikanums
liegt für unsere Fragestellung wohl darin, dass die Ekklesiologie des
Konzils ein Doppeltes betonte: 1. Kirche verwirklicht sich konkret in der
Ortskirche. 2. Diese Ortskirchen sind grundsätzlich in vollem und umfassenden
Umfang katholische Kirche.
Im vorliegenden Artikel soll weder auf die äussere Nomenklatur des
Begriffs eingegangen werden noch der Begriff «Gemeinde» im soziologischen
Sinn erörtert werden. Es soll jedoch kurz der Wechsel aufgezeigt sein,
den der Begriff der Gemeinde für das Verständnis von Kirche (im
Sinne von erfahrbarer Kirche, Kirche vor Ort) in Absetzung zu dem mehr klassischen
Begriff Pfarrei mit sich brachte<1>. Der
Begriff Pfarrei wird im CIC/1983 noch immer als der Standardbegriff verwandt,
um jene Realität zu beschreiben, um die es sich in unserer Fragestellung
dreht.
Im Anschluss an das II. Vatikanum spricht man zwar von Teilkirche, nicht aber von Einzelgemeinde im Sinne der Pfarrei, die ganz in ihrer Abhängigkeit vom Bischof als dem Vorsteher der Teilkirche gesehen wird.<3> Der heutige Gebrauch der Begriffe Pfarrei, Gemeinde, Teilkirche versteht sich jeweils als Ausdruck einer Ekklesiologie, die mindestens implizit die sozialen Formen, Ebenen und Kompetenzen von Kirchesein bestimmt oder selbst von ihnen mitgeprägt wird. Die Häufigkeit des Begriffs «Gemeinde» kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass eine Theologie der Gemeinde, trotz vieler Ansätze, noch in den Anfängen steckt. Der Begriff Gemeinde ist noch längst nicht integraler Bestandteil jeder Ekklesiologie, so wurde/wird die Realität der Gemeinde mit einer Fülle von pastoralen Erwartungen aufgeladen, dass in der Folge davon die so konzipierte Sozialgestalt christlicher Gemeinde zu einer Real-Utopie wurde.<4> So gehen die Positionen zur theologischen Qualifizierung der Gemeinde sehr weit auseinander. Hatte Ferdinand Klostermann 1964 die These «Prinzip Gemeinde» aufgestellt, spricht Ferdinand Reisinger 1983 von der Gefahr, dass das «Reich Gottes an der Gemeinde sterbe»<5>. Fragen wir in einer kritischen Bestandsaufnahme, was nüchtern zum Selbstverständnis, zum Profil einer Gemeinde gehört, was künftig in Theorie und Praxis für das Gemeindeverständnis weiter vermittelt werden kann.
Als systematisch-theologische Kriterien für das ekklesiale Verständnis
ergeben sich aus dem Zueinander von Kirche und Gemeinde zunächst die
Grundweisen ekklesialer Existenz ganz allgemein: leiturgia, diakonia, martyria/Zeugnis.
Diese drei Grundweisen sind gleichursprünglich und stehen in einem
gegenseitigen Beziehungsverhältnis. Neben dieser Gleichzeitigkeit kann
es in der realen Situation einer bestimmten Gemeinde in manchen Phasen bestimmte
Akzentsetzungen geben. Jede Gemeinde steht im Schnittpunkt dieser drei Grundfunktionen,
zu der viele Einzelaufgaben gehören (Profil, Leitbild einer Gemeinde
usw.). Diese drei zentralen Grundmodi gemeindlichen Seins sind nicht nur
formale Grössen einer theologischen Profilbestimmung der Gemeinde,
sondern es kommen ihnen gleichfalls gemeindebildende Funktionen zu. Eine
wirkliche Gemeinde wird durch diese drei Modi erst auferbaut. Diese drei
Grundfunktionen verdichten sich am tiefsten in der Eucharistiefeier der
Gemeinde. Ausgehend von dieser Sichtweise soll in diesem Artikel als Definition
des Gemeindeverständnisses folgender Satz vorgelegt werden: «Eine
Gemeinde ist eine Versammlung, die Liturgie feiert.»<6>
Damit ist zunächst nicht ausgesagt, dass unser Gemeinschaftssinn die
Sakramentalität kirchlichen Lebens schafft oder ermöglicht, sondern
dass zuallererst die Gegenwart Christi in Wort und Sakrament uns zu einer
tiefen Gemeinschaft zusammenfügt. Ist die Eucharistie Aufgipfelung
des liturgischen Tuns, Gipfel und Quelle christlicher Existenz, so wird
hierbei öffentlich das Herrsein Jesu Christi bekannt, sagt die Gemeinde
Lob und Dank, von hier schöpfen Christen im Gedächtnis des Todes
und der Auferstehung des Herrn die Kraft der Hingabe für den Dienst
der Liebe. Hier gehen leiturgia, diakonia und martyria in eins.
Als theologische Identität der Gemeinde gilt klassischerweise die Pfarrei
als elementare Form der Verwirklichung von Ortskirche. Dennoch bleibt die
Pfarrei eingegliedert in die Orstkirche. «Da der Bischof nicht immer
und nicht überall in eigener Person den Vorsitz über das gesamte
Volk seiner Kirche führen kann, so muss er diese notwendig in Einzelgemeinden
aufgliedern. Unter ihnen ragen die Pfarreien hervor, die räumlich verfasst
sind unter einem Seelsorger, der den Bischof vertritt; denn sie stellen
auf eine gewisse Weise die über den ganzen Erdkreis hin verbreitete
sichtbare Kirche dar. ... Es ist darauf hinzuarbeiten, dass der Sinn für
die Pfarrgemeinschaft vor allem in der gemeinsamen Feier der Sonntagsmesse
wachse» (SC 42, vgl. LG 28). LG 26 beschreibt die theologische Identität
wie folgt: «Diese Kirche Christi ist wahrhaft in allen rechtmässigen
Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die in der Verbundenheit
mit ihren Hirten im NT auch selbst Kirchen heissen. Sie sind nämlich
je an ihrem Ort, im Heiligen Geist und mit grosser Zuversicht (vgl. 1 Thess
1, 5), das von Gott gerufene neue Volk. In ihnen werden durch die Verkündigung
der Frohbotschaft Christi die Gläubigen versammelt, in ihnen wird das
Mysterium des Herrenmahls begangen, Ðauf dass durch Speise und Blut
des Herrn die ganze Bruderschaft verbunden werdeð [Mozarabische Oration:
PL 96, 759 B]. In jedweder Altargemeinschaft erscheint unter dem heiligen
Dienstamt des Bischofs das Symbol jener Liebe und jener ÐEinheit des
mystischen Leibes, ohne die es kein Heil geben kannð [Thomas von Aquin,
STh III, q. 73, a.3]. In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm
sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig, durch dessen
Kraft die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche geeint wird»
(LG 26). Die konkrete Wirklichkeit der Gemeinde lässt sich anhand dieser
fünf Elemente umschreiben, die in der Zitation des LG-Zitates anklingen.
Diese Elemente sind strukturbildend zu verstehen:
Die Gemeinde leidet heute unter Funktionsverlust, der komplexer Natur ist. Vom gesellschaftlichen und sozialen Wandel ist ein Funktionsverlust der Ortsgemeinde zu konstatieren, denn nicht mehr alle Lebensäusserungen des einzelnen und der Gesellschaft sind in diese Entität eingeordnet. Die Mobilität der modernen Gesellschaft führt zu Auffächerungen der Lebenswelten. So schrieb Karl Lehmann bereits 1982: «Der Funktionsverlust der Ortsgemeinde ist nicht zu bestreiten. Es gibt eine tiefe Auszehrung ihrer überlieferten Funktionen.»<8> Andererseits behält die Ortsgemeinde zwischen spontanen und mobilen Kleingruppen und den grossen zwischenpfarrlichen Organisationen als wichtige Basis für weitergreifende Aktivitäten und breitgefächerte Angebote ihre Berechtigung. In der Gemeinde müssen die Grundelemente ekklesialen Tuns wirksam sein. Durch die gesellschaftlichen wie kirchlichen Prozesse der letzten Jahrzehnte stehen wir aber vor dem Phänomen, wohl organisierte Gemeinden zu kennen, die aber nicht mehr von einem ordinierten Priester geleitet werden. Durch die verstärkte Hineinnahme von Laien in munera des Amtes scheint die seit alters von der Kirche bezeugte Einheit von Gemeindeleitung und Eucharistievorsitz brüchig zu werden. Verlust bzw. Schwinden der Sakramentalität der Kirche, Entklerikalisierung, autonome Gemeindetheologie, schleichende Protestantisierung des katholischen Kirchenverständnisses usw. sind Stichworte unserer kirchenintern äusserst kontrovers geführten Diskussion, die teilweise ideologische Züge annimmt. Bei der Debatte sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:
Alle hier skizzierten Wege werden nicht unmittelbar zu einer Problemlösung führen. Die Debatte um die Amtsfrage ist komplex und vielschichtig. Der 2. Weg wird sich vom Selbstverständnis katholischer Theologie und kirchlicher Praxis nur als Scheinlösung anbieten. Gegen das Modell von Besançon wird eingewandt, dass die personalen und sozialen Bindungen, die unter soziologischem Aspekt für kleine Entitäten von hoher Bedeutung sind, nicht genügend respektiert werden. Der exklusive Anschluss an Movimenti kann in einer Extremform als Radikalisierung der Individualisierungstendenz der modernen Gesellschaft verstanden werden.
Die Gemeinde wird für das kirchliche Leben unter den Bedingungen der (Post-)Moderne weiterhin von Bedeutung sein. Allerdings werden sich die geschichtlich gewachsenen Strukturen in ihren Erscheinungsformen modifizieren. Dieser Prozess wird unter anderm nach dem soziologischen Gesetz der Solidarität (= Grundgesetz der gegenseitigen Verantwortung) und des Subsidiaritätsprinzips (= Grundgesetz des hilfreichen Beistandes) abspielen. F. Klostermann schreibt diesen beiden Gesetzen eine Funktion bezüglich der Wahrung der Glaubenskontinuität und des kirchlichen Gemeinwohls zu: «Das Solidaritätsprinzip verpflichtet alle Beteiligten einer Gesellschaft, die einzelnen und die kleineren Einheiten, zur Solidarität, zur Unterordnung unter das Ganze, soweit das Gemeinwohl es verlangt. Das Subsidaritätsprinzip schützt die unabdingbare Würde und Selbstverantwortung des einzelnen und die Initiative und Autonomie der je kleineren Sozialeinheiten. Die Beweislast für einen Eingriff der zentraleren Autorität liegt also bei dieser. Der Solidaritätsverpflichtung des einzelnen und der kleineren Sozialeinheit steht also die Verpflichtung der Gesellschaft bzw. der grösseren Einheit gegenüber, jene in ihrer Selbstentfaltung zu schützen, zu fördern und so sinnvoll für die Gemeinschaftsaufgaben heranzuziehen.»<14>
Um Kriterien und Konstitutiva der Gemeinde unter den hier skizzierten
Bedingungen und Einschränkungen dennoch zum Tragen zu bringen, soll
dieser Ansatz versteht sich als fragmentarische Reflexion zu einer
prekären aktuellen Situation nochmals die eingangs vorgestellte
These thematisiert werden: Gemeinde wird als Versammlung verstanden, die
Liturgie feiert.<15> Mit dieser These soll
nicht die eingangs erwähnte Gleichursprünglichkeit der ekklesialen
Grundvollzügen doch wieder aufgehoben werden, sondern soll
von dem Ansatz ausgegangen werden, dass an den Strukturelementen der gottesdienstlichen
Versammlung Selbstverständnis und Gestalt der Kirche erkannt werden
können. «Die Grundvollzüge sind nur Funktionen der Sendung
der Kirche, weil und sofern die Kirche zunächst selbst Resultat dieser
Funktionen ist. Die Kirche hat den Auftrag der Verkündigung und des
Zeugnisses, weil und sofern sie selbst Geschöpf des Wortes Gottes ist.
Sie hat den Auftrag der Feier des Gottesdienstes und der Sakramente, weil
sie selbst durch die Teilhabe an den eucharistischen Gaben stets neu zum
Leib Christi wird. Sie hat den Auftrag der Diakonie und der geschwisterlichen
Gemeinschaft, weil sie selbst aus dem Dienst Jesu und dem Dienst aller,
die ihm gefolgt sind, hervorgangen ist.»<16>
Die These von der Gemeinde als Versammlung, die Liturgie feiert, kann auch
dazu beitragen, die Kirche vor einer Spannung, die bis zum Zerreissen zu
gehen droht, zu bewahren; es ist damit gemeint, das Aufgeriebenwerden zwischen
einer rein personenzentrierten Sicht kirchlicher Erscheinungsweisen und
dem Rückfall in eine zu stark institutionenzentrierten Sichtweise,
wie sie die pastorale Situation der pianischen Periode kennzeichnete.<17> Die zur Stunde bemerkbaren Transformationen
der Kirche sind unter diesen beiden Vorbehalten als dialektisch
vermittelt zu betrachten.
Es fragt sich bei dieser These, ob jede liturgische Versammlung eine Gemeinde
ist. Eucharistiefeiern in Ordensgemeinschaften, bei Wallfahrten, in Heimen,
Schulen, Bildungshäusern und dergleichen sind liturgische Versammlungen,
meinen jedoch keine gemeindekirchliche Realität. Gemeinde als erfahrbare
Kirche umfasst darüber hinaus räumliche und zeitliche Präsenz.
Gemeinde steht im Zusammenhang mit dem jeweiligen Ortsbischof. Was ist für
die Gemeinde über die sonn- und festtägliche Eucharistiefeier
hinaus zu beständiger Vollständigkeit kirchlichen Lebens noch
notwendig? Formal kann diese Frage mit dem Verweis auf die drei Wesenselemente
ekklesialen Lebens beantwortet werden. Damit ist aber noch nicht alles gesagt!
Nach Paul Zulehner gehören Beständigkeit, Vollständigkeit,
Erfahrbarkeit, Territorium und Amt zur Erfahrbarkeit von Kirche. Ist die
Gemeinde der konkrete und beständige lokale Ort, Lebensraum und Vollzugsraum
für das, was jeweils Kirche «vor Ort» sein will, dann gehört
eben das Versammeln hinzu. Gemeinde lebt nicht nur von ihrer kanonischen
und staatskirchlichen Errichtung, sondern auch davon, dass sie sich vor
Ort erst und immer wieder zu liturgischen Feiern versammelt. In der Versammlung
wird die ekklesiale communio erfahren. Diesen Grundzug betont Hugo Aufderbeck,
wenn er schreibt: «Die Kirche/Gemeinde ist von ihrer Gestalt und von
ihrem Wesen her ÐVersammlungð.»<18>
So schreibt die Apostelgeschichte mehrmals, dass Christen sich versammeln
(Apg. 4,31; 12,12; 14,27; 1 Kor 11,17.18.20 u.a.). Der Grund dafür,
dass das Sich-Versammeln für die Gemeinde so konstitutiv ist, ist darin
zu suchen, dass die koinonia ein entscheidendes Ziel und eine wichtige Frucht
der Erlösung darstellt. Deswegen schreibt die Liturgiekonstitution
des letzten Konzil, dass seit der ersten Versammlung der Jünger
und Jüngerinnen die Kirche niemals aufgehört habe, sich
zu versammeln (vgl. SC 6). Die Christen haben deswegen an diesen Versammlungen
teilzunehmen. Diese Forderung erwähnt bereits die Didaskalia: «Lehre
das Volk durch Vorschriften, regelmässig die Versammlung zu besuchen
und niemals bei ihr zu fehlen; sie sollen immer anwesend sein, damit sie
die Kirche nicht durch ihre Abwesenheit verkleinern und damit sie den Leib
Christi um keines seiner Glieder berauben. Jeder möge auf sich und
nicht auf die anderen die Worte Christi anwenden: Wer nicht mit mir sammelt,
der zerstreut (Mt 12,30; Lk 11,23). Da ihr Glieder Christi seid, sollt ihr
euch nicht fern von der Kirche zerstreuen, so dass ihr euch nicht wieder
in ihr versammelt. Da gemäss seiner Verheissung unser Haupt, Christus,
gegenwärtig wird und mit uns in Verbindung tritt, so missachtet euch
doch nicht selbst und beraubt den Erlöser nicht seiner Glieder; zerreisst
und zerstreut nicht seinen Leib.»<19>
Jetzt ist noch der dritte Teil der These zu bedenken: Die versammelte Gemeinde
feiert Liturgie. Es stellt sich nun die Frage, welche Liturgien im Einzelnen
unerlässlich einer Gemeinde zuzuordnen sind im Blick darauf, dass sie
Kirche manifestiert und den kirchlichen Auftrag erfüllt. Als unverzichtbares
Element ist die Feier des Herrentages mit Eucharistie, als dem Ersten oder
Achten Tag, zu werten. Die sonntägliche Eucharistiefeier ist ein Identitätszeichen
der Kirche; auf die historische Herleitung des Sonntags als Urquell christlicher
Feier ist hier nicht einzugehen. Des Weiteren wären in einer gemeindekirchlichen
Liturgie die wichtigsten Feiern im Jahresverlauf aufzuzählen:
Mit dieser Aufzählung verschiedener Liturgien sollte zugleich mitbedacht werden, dass Art und Weise, wie Liturgie gefeiert wird, sich nochmals unterscheiden kann: Paraliturgische Aktivitäten einer Gemeinde, Liturgien für Randständige, Liturgien der Kerngemeinde, Frauenliturgie usw.<20>
Welche Konsequenzen sind aus diesen Ausführungen zu ziehen? Einige seien hier genannt:
c) P. Zulehner bewertet das Phänomen, dass Personen in presbyterale Aufgaben eingesetzt werden ohne dafür eigentlich ordentlich ordiniert zu sein, dialektisch: Diese Entwicklung, so Zulehner, sei «ein Unsinn, wenngleich vielleicht deshalb heilsam, weil er ungewollt die Entwicklung über den Umweg des Absurden doch voranbringt»<29>.
d) Die neuere Religionssoziologie bedenkt bei der Fragestellung nach den Veränderungen des religiösen Wandels wieder verstärkt den organisationssoziologischen Aspekt, das heisst es wird danach gefragt, wie Organisation und Organisierung des gesellschaftlichen Teilsystems der Religion funktionieren. Die Kirche hat angesichts der Veränderungen in ihrer Umwelt selbststeuernd, ohne jedoch die Einflüsse der gesellschaftlichen Kräfte auf die Kirche zu unterschätzen, in ihre Organisation einzugreifen.<30>
e) Angesichts der heutigen Situation stellt sich das Postulat, die Gemeindeentwicklung nüchtern und pragmatisch anzugehen, und sie keinesfalls ideologisch, weder von links oder rechts, noch progressiv oder konservativ aufzuladen und zu instrumentalisieren.
Der Dominikaner Wolfgang W. Müller ist Privatdozent und Lehrstuhlvertreter für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
1 Vgl. zum Folgenden: K. Lehmann, Gemeinde, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 29, Freiburg i.Br. 1982, 565, 8f.
2 L. Karrer, Katholische Kirche Schweiz. Der schwierige Weg in die Zukunft, Freiburg i.Ü. 1991, 307f.
3 So W. Beinert in: Dogmenhistorische Anmerkungen zum Begriff «Partikularkirche», in: ThPh 50 (1975) 3869.
4 Wie wird in einer solchen Real-Utopie die Gemeinde gezeichnet?
«Eine Gemeinde von höchster Einmütigkeit und radikaler Gesinnungsgleichheit,
Abbau aller Unterschiede, Verzicht auf jede Vorrangstellung, Ðherrschaftsfreie
Gemeindeð, zugleich Ðkleine Herdeð und universal offene Gemeinde»
(K. Lehmann, Gemeinde, aaO., 10).
In Absetzung zu solchen emphatischen Diskursen über die Gemeinde kennt
man in der heutigen Literatur zur Gemeinde auch skeptischere Formulierungen
wie «Die christliche Gemeinde, gäbe es sie, wäre eine Zone
der Mitmenschlichkeit» oder «Es gibt keine christliche Gemeinde»
(H.R. Schlette, Glaube und Distanz, Düsseldorf 1971, 132140 [=Thesen
zum christlichen Gemeindeverständnis]), ebd. 134, 136. Die österreichische
Pastoraltagung zu Beginn des Jahres 2000 fragte nach «Gemeinden der
Zukunft Zukunft der Gemeinden».
5 F. Klostermann, Prinzip Gemeinde, Wien 1965; F. Reisinger, «Christliche Gemeinde» Möglichkeiten und Grenzen, in: ders. (Hrsg.), Menschsein in der Gesellschaft, Linz 1983, 93138.
6 Dass die vorgestellte These in einem Zusammenhang mit der kanonistischen und staatskirchlichen Sicht der Identität einer Pfarrei und Kirchgemeinde stehen kann, zeigt A. Loretan, vgl. ders., Pfarrei und Kirchgemeinde ein ungleiches Paar, in: R. Liggenstorfer/B. Muth-Oelschner (Hrsg.), (K)Ein Koch-Buch. Anleitungen und Rezepte für eine Kirche der Hoffnung, FS K. Koch, Freiburg i.Ü. 2000, 623637.
7 Vgl. R. Bärenz, Frisches Brot. Seelsorge, die schmeckt, Freiburg i.Br. 1998, 45ff.
8 K. Lehmann, Gemeinde, aaO., 38.
9 K. Koch, Leben erspüren Glauben feiern. Sakramente und Liturgie in unserer Zeit, Freiburg i.Br. 1999, 229253.
10 P. Hünermann, Gemeinde, Eucharistie, Amt, in: ders., Ekklesiologie im Präsens. Perspektiven. Münster 1995, 228247, 235f. Zum kirchenrechtlichen Aspekt siehe: P. Schmid, Hat die Gemeinde ein Recht auf Eucharistie?, in: R. Liggenstorfer/B. Muth-Oelschner (Hrsg.), (K)Ein Koch-Buch, aaO., 302314.
11 Diese Position vertritt B. Sala, (Können Laien Pfarrer sein? Zur Frage der Teilhabe Nichtgeweihter an der pfarrlichen Leitungsvollmacht in der Kirche. Dogmatisch-pastoraltheologische Erwägungen, in: FKTh 14 (1998) 189212.
12 Dieses Modell praktiziert z.B. die Erzdiözese Freiburg i.Br., vgl. Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg, Nr. 17, vom 1. Juli 1999, 119127.
13 M. Hochschild, Kirche zwischen Organisation und Kommunikation. Neue geistliche Bewegungen als Vermittlungsinstitutionen, in: M. Krüggeler u.a. (Hrsg.), Institution, Organisation, Bewegung, aaO., 219228.
14 F. Klostermann, Gemeinde Kirche der Zukunft. Thesen, Dienste, Modelle, Bd. 1, Freiburg i.Br. 1974, 88.
15 Zur exegetischen Berechtigung dieser These siehe: W. Kirchschläger, Die liturgische Versammlung. Eine neutestamentliche Bestandaufnahme, in: HID 52 (1998) 1124.
16 S. Wiedenhofer, Die Gottesdienstfeier und ihre ekklesiologische Bedeutung, in: HID 52 (1998) 2940, 32f.
17 Siehe dazu: P. Zulehner, Gottesdienstversammlungen pastoralsoziologische Anmerkungen, in: HID 52 (1998) 2528.
18 H. Aufderbeck, Gemeinde als Versammlung, in: LJ 19 (1969) 6578, 65. Siehe auch: Ph. Harnoncourt, Die versammelte Gemeinde feiert Eucharistie, in: HID 52 (1998) 4150.
19 Didaskalia II, 59, 13.
20 Bei dieser Fragestellung ist auf die Unterscheidung zwischen Liturgie/sakramentale Feier und Ritual zu verweisen, vgl. P.M. Zulehner u.a. (Hrsg.), Zeichen des Lebens. Sakramente im Leben der Kirche Rituale im Leben der Menschen, Ostfildern 2000.
21 K. Koch, Not bringt es an den Tag ..., in: SKZ 155 (1987) 726732, 731.
22 Vgl. Limburger Texte 21: Seelsorge in Gemeinden ohne Pfarrer. Neue Wege der Seelsorge im Bistum Limburg angesichts wachsenden Priestermangels, von Dr. Th. Schüller; vgl. M. Kehl, Die Kirche, aaO., 447.
23 So schreiben die Verantwortlichen zu diesem Projekt: «Eine
solche Kooperation bedingt Solidarität und Offenheit von allen Seiten.
In diesem Sinne wollen wir gemeinsam diesen neuen Weg einschlagen. Wir wissen
darum, dass jeder Neuanfang einen (manchmal schmerzlichen) Abschied von
Altem mit sich bringt. Gleichzeitig freuen wir uns auf eine kreative und
fruchtbare Zusammenarbeit beider Pfarreien und beider Teams» (Pfarrblatt
Wochenzeitung der römisch-katholischen Pfarreien des Kt. Bern, alter
Kantonsteil, Samstag, 27.5.2000, Nr. 22).
24 P. Hünermann, Gemeinde, Eucharistie, Amt, aaO., 245.
25 Zu dieser gemeindekirchlichen Realität im Bistum Basel siehe: R. Schmid, Fremdsprachigen-Seelsorge aus der Sicht der Bistumsleitung, in: SKZ 168 (2000) 400404.
26 A. Schilson, Notlösungen sind oft Fehllösungen. Zur theologischen Problematik der Kommunionfeiern, in: HID 33 (1979) 147174; B. Kirchgessner, Eucharistiegemeinde contra Pfarrgemeinde?, in: HID 53 (1999) 255264.
27 H. Homeyer, Eucharistiefeier am Sonntag. Hirtenwort zur österlichen Busszeit 2000, S. 8f.
28 Auf die Gefahr der Professionalisierungsfalle verweist die neuere Religionssoziologie. Sie versteht darunter folgendes Phänomen: Die Spannung zwischen professionell-zweckrationalen Handlungslogiken und gesinnungs-ethisch-wertrationalen tritt in jenen Feldern auf, wo professionales Handeln auf ein gesinnungsethisch hoch geladenes Feld tritt. Werden diesbezüglich kein Abbau programmatischer Rigorosität oder keine Kompromisse gesucht, dann treten Störpotentiale auf. So können Steuerungseingriffe paradoxe Wirkungen erzeugen. Deshalb ist es sinnvoll, professionell Handelnde nur dort einzusetzen, wo ihr Leistungsvorteil überwiegt. «In den Pfarrgemeinden muss ein Ðwenigerð an Hauptamtlichen nicht nur schädlich sein. Es könnten sich dadurch auch ÐCharismenð zeigen, die bislang unbeabsichtigt von PR/GR beiseite gedrängt bzw. überlagert werden.» (U. Bätz, Die Professionalisierungsfalle. Paradoxe Folgen der Steigerung glaubensreligiösen Engagements durch professionelles Handeln, in: M. Krüggeler, K. Gabriel, W. Gebhardt [Hrsg.], Institution, Organsiation, Bewegung. Sozialformen der Religion im Wandel, Opladen 1999, 173195, 194).
29 P. Zulehner, aaO., 28.
30 Unter diesem Aspekt entwirft der Religionssoziologe M.N. Ebertz eine Kommunikationspastoral, vgl. ders., Kirche im Gegenwind. Zum Umbruch der religiösen Landschaft, Freiburg i.Br. 1997.