49/2000

INHALT

Kirche in der Welt

Johannes XXIII. und das Konzil

von Walter Kirchschläger

 

Vor 35 Jahren, am 8. Dezember 1965, wurde das Zweite Vatikanische Konzil abgeschlossen. Dies ist Anlass, auf jenen Mann zurückzublicken, der diese Kirchenversammlung initiiert und begonnen hat.<1> Was ihm anhaftet, ist etwas Prophetisches. Es bleibt für uns bedeutsam über seinen Tod hinaus.
In mehreren Schritten, in verschiedenen Annäherungen soll auf diese Person hingewiesen werden: Johannes XXIII., Bischof von Rom: Auf jenen, der die Fenster der Kirche aufriss, der der Kirche offene Arme und ein weites Herz geben wollte. Sein Vermächtnis war dieses letzte grosse Konzil. Als er starb, hielt nicht die Kirche, da hielt tatsächlich die Welt den Atem an, denn er hatte den Menschen gezeigt, dass Kirche eine Sache mit Herz, eine Angelegenheit von Menschen ist, und dass Gott dies auch so sieht. Für diesen Bischof Giovanni stand Gott in seiner Liebe an erster Stelle, das allein hatte Vorrang, er selbst dafür weit weniger. So liess er auch Gottes Geist gewähren, als dieser ihm, dem beinahe Achtzigjährigen, die Idee für ein weltumspannendes Konzil eingab ­ zum Entsetzen seiner Ratgeber und zum Schock mancher Kardinäle, die meinten, jetzt sei er verrückt geworden.

1. Johannes XXIII., der Mensch

Am 25. November 1881 wurde Angelo Giuseppe Roncalli in Sotto il Monte in der italienischen Provinz Bergamo als drittes Kind einer Bauernfamilie geboren. Insgesamt hatte das Ehepaar Roncalli 13 Kinder. Mit elf Jahren trat der Knabe in das kleine Seminar seiner Diözese in Bergamo ein, mit 19 Jahren begann er das Theologiestudium in Rom, wo er zum Doktor der Theologie promovierte. Am 10. August 1904 wurde er in Rom zum Priester geweiht.<2> Seine Primiz feierte er am nächsten Tag an den Gräbern der Apostel in der Krypta des Petersdoms<3> ­ ohne seine Angehörigen, da sie die Fahrtkosten nach Rom nicht aufbringen konnten. Von 1905 bis 1914 war er Sekretär seines Bischofs in Bergamo. Zugleich lehrte er Fundamentaltheologie und Kirchengeschichte am diözesanen Priesterseminar. Gerade der Kirchengeschichte blieb er Zeit seines Lebens verbunden. Er edierte die Akten der Visitation des heiligen Karl Borromäus in seiner Diözese Bergamo; der letzte der fünf Bände war gerade publiziert worden, als er Bischof von Rom wurde.<4>
Roncalli übte diese Lehrtätigkeit bis 1921 aus und versah zwischen 1919 und 1921 auch die Aufgabe des Spirituals im Priesterseminar von Bergamo, unterbrochen von einer dreijährigen Militärdienstzeit bei der Sanität und als Lazarettpfarrer während des Ersten Weltkriegs. 1921 übernahm er die Aufgabe des Präsidenten des Päpstlichen Werkes der Glaubensverbreitung in Italien. 1925 ernannte ihn Papst Benedikt XV. zum Erzbischof und berief ihn in den diplomatischen Dienst des Vatikans. Bis 1934 war er Apostolischer Visitator, dann Delegat in Bulgarien, in der Folge übernahm er die gleiche Aufgabe für die Türkei und Griechenland. 1944 entsandte ihn Pius XII. als Nuntius nach Frankreich, seit 1951 nahm er dort auch die Aufgabe des (ersten) ständigen Beobachters des Vatikans bei der UNESCO wahr. Nach seiner Kreierung zum Kardinal am 12. Januar 1953 wurde er drei Tage später zum Patriarchen von Venedig ernannt.
Nach dem Tod Papst Pius' XII. am 9. Oktober 1958 wurde für den 25. Oktober 1958 das Konklave einberufen. Am 28. Oktober nachmittags wurde der Patriarch von Venedig zum neuen Bischof von Rom gewählt. Am Fest des hl. Karl Borromäus, am 4. November wurde er gekrönt. Er starb am Pfingstmontag, dem 3. Juni 1963, abends, im Alter von 81 Jahren<5>.
Dieses Gerüst von Daten gibt nur den äusseren Rahmen für das Leben und die Entwicklung einer starken, prägenden und vor allem sympathischen Persönlichkeit ab. Was die Menschen vor allem in seinen letzten fünf Lebensjahren wahrnahmen, als Johannes XXIII. als Bischof von Rom und als Papst des Konzils im Rampenlicht stand, ist das markante Profil eines konsequenten Lebensweges, eines Menschen, der sich kontinuierlich entwickelte, um Gott Raum in seinem Leben und Wirken zu geben und sich dabei kontinuierlich und immer mehr zurückzunehmen.<6>

Gehorsam und Friede

Neben seinem tiefen persönlichen Glauben und seiner absoluten Loyalität zur Kirche war es vor allem seine Demut und seine Einfachheit, die Johannes XXIII. geprägt haben. Vom 14-Jährigen (1895) lesen wir im Geistlichen Tagebuch: «Sich besonders in der Demut üben... Man hüte sich also vor Eigenlob und vor dem Wunsch, mehr als die anderen oder ebenso wie sie geschätzt zu werden...»<7> Den Journalisten verbietet er am Tag nach der Eröffnung des Konzils die Verknüpfung seiner Person mit jedweden Ehrentiteln und legt ihnen nahe, einmal nur Folgendes zu schreiben: «Er war ein wirklicher Priester vor Gott und vor den Völkern, ein verlässlicher und aufrichtiger Freund aller Nationen.»<8> In der zuvor zitierten Passage im Geistlichen Tagebuch fährt der junge Roncalli mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit fort, «die christliche Liebe [zu] üben». Dabei geht es ihm vor allem um die Nachsicht und das Verzeihen sowie um die Liebe zu den Armen.<9> Von solchen Vorsätzen zum Besuch der Gefangenen ­ sei es während seiner Zeit als Nuntius in Frankreich, sei es sodann als Bischof von Rom ­ ist es letztlich nur eine Frage der Zeit, vorausgesetzt, man hat die innere Konsequenz eines Angelo Roncalli.
Gerade diese Werte kommen in den Nachrufen nach seinem Tod immer wieder zum Tragen. Zusammengefasst lesen sie sich wie ein Tugendkatalog. Alle zusammengenommen, bringen sie die Sehnsucht dieses Menschen nach Frieden zum Ausdruck. Der Wahlspruch «oboedientia et pax» (Gehorsam und Frieden), den Roncalli als Bischof von Rom wählt, geht ihm schon seit jungen Priestertagen nach (wie er wiederum im Geistlichen Tagebuch festhält); dort heisst es aus dem Jahre 1957: «Wahrhaftig, Ðder Wille Gottes ist mein Friedeð. All meine Hoffnung stützt sich auf die Barmherzigkeit Jesu, der mich als seinen Priester und Diener haben wollte.»<10>
Frieden ist für ihn ein umfassendes, ein göttliches Gut. In seiner ersten Enzyklika als Bischof von Rom ermahnt er die Völker zu Eintracht und Einheit.<11> Dies ist auch das Kernthema seines bedeutendsten Rundschreibens, der Enzyklika «Pacem in Terris» vom Gründonnerstag, dem 11. April 1963; sie handelt ­ so die Überschrift ­ «über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit».

Güte und Weite

All das allein ist es aber nicht, was die Menschen an Johannes XXIII. sehen und wahrnehmen wollen. Es wird für sie deshalb zugänglich, weil dieser Mensch eine ungeahnte Güte und Weite ausstrahlt. An seinem Krönungstag bittet er die Menschen in aller Welt, darum zu beten, dass Gott dem neuen Papst «hilft in der Vervollkommnung der Güte und Demut»<12>. Beides durchzieht wie ein roter Faden sein ganzes Leben.
«Grosse Liebenswürdigkeit zu allen, so als hätte ich mich nur mit jedem einzelnen von ihnen zu beschäftigen» ­ so lautet ein Vorsatz aus dem Jahre 1936. Wer in seiner Umgebung für einen Terminplan verantwortlich war, hatte darunter wohl auch zu leiden. Er selbst sieht das auch: «Ich muss ... lange Audienzen vermeiden»<13> schreibt er ebenfalls 1936 ­ das ist auch dem Bischof von Rom noch nicht so recht gelungen. Einer Mutter kann er bei einer Privataudienz sagen: «Wollen Sie mir bitte sagen, wie ihre Kinder heissen. ­ Glauben Sie nicht, dass ich die Namen ihrer Kinder nicht kenne. Denn bevor ich jemanden empfange, unterrichte ich mich immer über seine Familie. Aber die Namen der Kinder erhalten einen besonderen Klang, wenn sie von der Mutter ausgesprochen werden.»<14> In unserer Medien- und Effektgesellschaft mag das etwas abgeschmackt klingen, die angesprochene Frau ­ es war die Tochter Nikita Chruschtschows ­ war zutiefst betroffen. Das Gespräch selbst wurde auch nie veröffentlicht. Die Kenntnis stammt aus den Notizen des Privatsekretärs.
Johannes XXIII. hat sich zeitlebens eine wache Sensibilität bewahrt und sie gepflegt. Sie geht einher mit grosser Offenheit. «An alle Menschen guten Willens» ist seine letzte Enzyklika gerichtet ­ eine bis dahin nie dagewesene Weite in der Umschreibung des Adressatinnen- und Adressatenkreises. Schon Jahrzehnte davor hat er auch «die Seelen der Türken» und jene «der armen orthodoxen Brüder» in sein Gebet eingeschlossen.<15> Er nimmt als Bischof von Rom Andersglaubende und Nichtglaubende nicht als Gegner der Kirche, sondern als Mitmenschen wahr und begegnet ihnen auch so. Die Sorge um die Einheit der Kirche und der starke Akzent auf die Ökumene resultieren daraus. Der Vergleich mit Josef, dem Sohn Jakobs, durchzieht Roncallis Wirken in Rom. Berühmt wurde das abgewandelte biblische Zitat anlässlich des Empfangs von 53 amerikanischen Rabbinern, denen Johannes XXIII. mit dem Satz entgegentrat: «Ich bin Josef, euer Bruder.»<16> Erstmals gebrauchte er diesen Satz bei der Ansprache an seinem Krönungstag: «Der neue Papst ist ... dem Sohn Jakobs zu vergleichen, der seinen von menschlichem Unglück getroffenen Brüdern gegenüberstand, ihnen seine Herzensgüte offen zeigte und unter Tränen sagte: ÐIch bin Josef, euer Bruderð.»<17>
Johannes XXIII. konnte sein Leben und seine Aufgabe mit Gelassenheit und einem feinen, durchaus auch spitzen Humor betrachten. «Giovanni, nimm dich nicht so wichtig, du bist ja nur Papst» ­ mehrfach ist dieser Ausspruch aus den ersten Tagen seiner neuen Aufgabe in Rom dokumentiert, und er ist so kennzeichnend für diesen Menschen. Er wollte Gott in seinem Leben walten lassen, auch wenn Gott anders wollte, als er dachte: Einen Monat vor seiner Wahl zum Bischof von Rom fasste er den Vorsatz, sich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters mehr Zurückhaltung aufzuerlegen, wenn es um die Übernahme von Predigten ausserhalb seiner Diözese ging...<18> Aber er konnte auch fragen, warum denn Gott, der doch gewusst habe, dass er einmal Papst würde, ihm kein attraktiveres Aussehen und kein schöneres Gesicht gegeben habe? Als er bei einer Audienz extemporierte, dabei den Faden verlor und ihn auch trotz aller Versuche der herumstehenden betroffenen Prälaten nicht wiederfand, meinte er lächelnd ­ mit entsprechenden begleitenden Gesten: «Da (nämlich: im Kopf) habe ich es, da (nämlich: im Herz) habe ich es auch, aber da (nämlich: im Mund) will es nicht heraus.»<19> Beim Besuch des römischen Gefängnisses Regina Caeli erzählte er den Gefangenen von seinem Onkel, der wegen Wilddiebstahls gesessen hatte, und bei einem seiner durchaus auch erfolgreichen Versuche, in der Stadt Rom seiner Begleitung zu entkommen, beruhigte er die zusammengelaufenen Menschen mit den Worten: «Ihr müsst weniger applaudieren, dann können wir länger miteinander reden.»
Und trotzdem ­ oder gerade deswegen: Johannes XXIII. war keine Witzfigur. Er vermittelte den Menschen eine Kirche mit zutiefst menschlichem Gesicht. In seiner Kirche durfte gelacht und gescherzt, auch gelebt werden. Aber natürlich wurde in seiner Kirche auch gebetet, meditiert und nach festen Regeln gelebt ­ jeweils zu seiner Zeit und so, wie es als Gottes Wille begriffen werden konnte.
Gerade diese Sensibilität für die rechte Zeit mag es auch gewesen sein, die diesen Menschen über das faszinierend Menschliche hinausführte. Dabei wäre das Menschliche allein schon genug, Erzählungen und Zitate könnten mehrere Bücher füllen. Trotz seiner zahlreichen verantwortungsvollen Aufgaben und Stationen seines Lebens blieb er der Sohn kleiner Leute aus Bergamo<20> ­ nicht aus gespielter oder aufgetragener Bescheidenheit, sondern weil er nie vergass, dass er vor seinem Gott einfach ein Mensch mit einem vergänglichen Leben auf dieser Erde war<21>.
Aber da ist eben noch etwas an diesem Menschen: Sein ungeheurer Mut, im fortgeschrittenen Alter noch ein neues Lebenswerk anzupacken, ein Ökumenisches Konzil. Das eine ist ohne das andere nicht verständlich. Es brauchte den Menschen Angelo Roncalli für dieses Konzil.

2. Johannes und das Konzil

Bei der Analyse der Wahl des damals 78-jährigen Patriarchen von Venedig zum Nachfolger Pius' XII. waren sich alle einig: ein Übergangspapst. Das interpretierte die Absicht der Kardinäle wohl in zutreffender Weise, kam doch sehr deutlich zum Ausdruck, dass sie sich nach der fast zwanzigjährigen Regierungszeit Pius' XII. (1939 bis 1958) nicht erneut für ein möglicherweise Jahrzehnte dauerndes Pontifikat entscheiden hatten wollen. Auch Johannes XXIII. selbst rechnete mit einer kurzen Amtszeit: «Wir haben nicht das Recht, einen langen Weg vor Uns zu sehen» erklärte er im ersten Monat seines Pontifikats.<22> Aber diese kurze Zeit galt es zu nützen. Das war seine volle Absicht, und von «Übergang» sollte da keine Rede sein. Im ersten Monat seines Pontifikats notiert er: «Ich habe nicht ein mühevolles Arbeitsprogramm im Sinn, sondern ein gezieltes.»<23>

Bischof von Rom

Johannes XXIII. verstand sich in besonderer Weise als Bischof von Rom, und als Bischof wollte er den Menschen nahe sein und ihnen liebevoll begegnen. Sein immer wieder geäusserter biblischer Bezugspunkt war die Bildrede vom guten Hirten (vgl. Joh 10). Er setzte Pfarrvisitationen an, er führte die Stationsgottesdienste in den römischen Hauptkirchen während der Fastenzeit nach 400 Jahren wieder ein, er feierte den Ritus der Fusswaschung in seiner Bischofskirche San Giovanni in Laterano, die er im Gegensatz zu seinen Vorgängern zum Zeichen dafür, dass er Bischof von Rom sei, feierlich in Besitz nahm. Er ging in Spitäler, Gefängnisse ­ eben zu den Menschen, die dieses Zeichen besonders brauchten.
Aber er dachte zugleich in einem weiteren, in einem weltweiten Rahmen. Nur so konnte es zu jener denkwürdigen Ansprache vom 25. Januar 1959, dem Festtag der Bekehrung des Apostels Paulus, kommen. Im Anschluss an den Gottesdienst zum Abschluss der Weltgebetsoktav für die Einheit der Christen hatte Johannes XXIII. die 17 in Rom anwesenden Kardinäle in der Basilika von St. Paul vor den Mauern in den Kapitelsaal der dortigen Benediktinerabtei geladen. Die meisten von ihnen<24> hörten völlig unvorbereitet die Botschaft, die er ihnen ­ nicht einmal drei Monate im Amt ­ da eröffnete: «Gewiss ein wenig vor Bewegung zitternd, aber zugleich mit demütiger Entschlossenheit des Vorsatzes spreche ich vor Euch die Bezeichnung und den Vorschlag der doppelten feierlichen Veranstaltung aus: einer Diözesansynode für Rom und eines allgemeinen Konzils für die Weltkirche.»<25>
Die Reaktionen waren ­ um es höflich zu sagen ­ zurückhaltend.<26> Obwohl es bereits unter Pius XII. Überlegungen zu einem Konzil gegeben hatte, war die Überraschung doch perfekt. Jedenfalls entsprach diese Ankündigung wohl kaum den Absichten eines Wahlgremiums, das einen beinahe 78-Jährigen zum Bischof von Rom gewählt hatte. Es war wohl allein die Idee Johannes' XXIII., von der er in verschiedenen Äusserungen durchklingen liess, dass sie auf das Wirken Gottes zurückzuführen sei.<27>
Die Ankündigung des Konzils allein machte Johannes XXIII. aber noch nicht zu jener Persönlichkeit, die wir in Erinnerung haben. Er war von Grunde auf kein Avantgardist, kein Reformer oder Erneuerer. Johannes XXIII. war erzogen und aufgewachsen mit einem Priesterbild, das dem ausgehenden 19. Jahrhundert entsprach. Diesem und einer durchaus traditionellen Theologie blieb er auch zeit seines Lebens verbunden. Gerade die ebenfalls von ihm veranstaltete Diözesansynode von Rom ­ übrigens die erste in der Geschichte der römischen Kirche! ­ zeigt dies sehr deutlich. Sie wurde im Jahre 1960 (24.­31. Januar) abgehalten. Ihr Ergebnis waren Dekrete, welche althergebrachte Ordnungen bekräftigten oder wiederherzustellen versuchten, getreu zur bisherigen Tradition und zum Lebensstil der Kirche, geprägt von der restaurativen Tendenz, eine gute Ordnung in der Kirche von Rom und unter ihrem Klerus wieder durchzusetzen. Es ist ja wohl auch kein Zufall, dass diese regionale Kirchenversammlung der Vergessenheit anheim gefallen ist.
Vergleicht man die Dokumente und den Stil dieser Synode mit dem Geist des Konzils, fällt es auf Anhieb schwer, dahinter die gleiche Person zu sehen. Aber vielleicht gibt gerade diese Differenz die Möglichkeit dafür in die Hand, das Phänomen des Konzils und seiner treibenden Kraft näher zu entschlüsseln.

Mut zur Geduld

Während der Bischof von Rom mit dem Profil der römischen Diözesansynode weitgehend in bekannten Spuren blieb und offensichtlich auch die Grundhaltung vieler kurialer Mitarbeiter gewähren liess, verhält es sich beim Konzil anders. Man mag darüber spekulieren, ob die Erfahrung jener Synode erst die Offenheit des Konzils ermöglichte, ob dies Johannes XXIII. darin bestärkte, seine Vision umzusetzen. (Man könnte ja auch die Frage stellen, wie das Konzil verlaufen wäre, hätte man den Absichten der Kurie freien Lauf gelassen...)
Vor allem erkennt man im Rückblick aber eine Grundeigenschaft dieser Person, die hier tatsächlich zum Segen für die Kirche wurde: Johannes XXIII. konnte gewähren lassen; er hatte ein Gespür für notwendige Entwicklungen, auch wenn er sie im Detail nicht voraussah oder -plante. Er hatte ein Sensorium für Zeichen der Zeit, und er war bereit, ihnen stattzugeben. Dies alles aber nicht, weil er ein von Grund auf progressiver Mensch gewesen wäre, sondern aufgrund einer tief glaubenden Haltung, die es Gott überliess, seine Kirche zu leiten.
Ohne Zweifel erkannte dieser Mensch, dass es angesichts der kirchlichen, der gesellschaftlichen und der komplexen politischen Situation der Welt in den Nachkriegsjahrzehnten nicht einfach unverändert weitergehen konnte. Er spürte die Erwartungen der Menschen, auch die Hoffnungen, die sie gegenüber der Kirche hegten, und er war zutiefst davon überzeugt, dass die Kirche im Evangelium Jesu Christi tatsächlich eine Antwort auf dieses Drängen der Zeit hatte. Aber sie musste dies anbieten, und das konnte nicht in den starren Formen geschehen, wie sie bisher gepflegt wurden. So begünstigte er neue Aufbrüche, griff sie auf und liess sie gewähren.
Das war sein Weg, und nach seiner Absicht sollte es der Weg, ja die Methode des Konzils werden. In der Zeit zwischen der Übernahme des Dienstes als Bischof von Rom und der Ankündigung des Konzils drei Monate später hat die hier nur angedeutete Analyse der Zeit in Welt und Kirche zu dem unumstösslichen Entschluss für dieses Konzil geführt.<28>

Der Sprung nach vorwärts

Zu Recht wird die Eröffnungsansprache vom 11. Oktober 1962 als der entscheidende Wegweiser<29> dafür verstanden: Da finden sich auch markante Formulierungen, die aber mehr sind, als gut gelungene Wortspiele. Es sind die Markierungspunkte für das Verständnis dieses Konzils. Daher muss auch immer wieder festgehalten werden: Selbst dort, wo die Texte dieser Kirchenversammlung ungenau und kompromissbeladen tönen mögen ­ sie sind aus der Sicht dieser Absichtserklärung am Eröffnungstag zu interpretieren. Wer sie anders lesen möchte, der bürstet sie gegen den Strich und der verfälscht ihre Sinngebung, damals wie heute.
Denn da ist er nun tatsächlich gelungen, der «Sprung nach vorwärts«.
An diesem ersten Konzilstag steckt Johannes XXIII. die Markierungspunkte ab<30>: Es geht um die Bewahrung und die Weitergabe der christlichen Lehre (170), aber nicht im Sinne der Sorge für Antiquitäten. Es geht um die «Aufgabe..., die unsere Zeit fordert» (N. 171). Und weiter: «Der springende Punkt für dieses Konzil ist es also nicht, den einen oder anderen der grundlegenden Glaubensartikel zu diskutieren..../Es wird vorausgesetzt, dass all dies hier wohl bekannt und vertraut ist. ... Aber von einer wiedergewonnen, nüchternen und gelassenen Zustimmung zur umfassenden Lehrtradition der Kirche... erwarten jene, die sich auf der ganzen Welt zum christlichen, katholischen und apostolischen Glauben bekennen, einen Sprung nach vorwärts, der einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugute kommt» (171­172). Dafür ­ so Johannes XXIII. ­ sind «wissenschaftliche Methoden» und «sprachliche Ausdrucksformen des modernen Denkens» anzuwenden, und damit dies gelingt, braucht es Geduld (172). Dem Bischof von Rom geht es dabei nicht nur um die katholische Kirche. Gerade im Konzil geht es ihm um den Weg der Einheit mit den anderen Kirchen (173­174) ­ ein Anliegen, dessen Bedeutung durch zahlreiche Zeichen unterstrichen wurde.

Eine feste Zuversicht

Diesen Weg des Konzils stellt Johannes XXIII. unter zwei Vorzeichen: Unter eine Absage an alle Pessimisten, deren Eifer zwar anerkannt wird, denen aber zugleich als «Unglückspropheten» widersprochen werden muss, da sie angesichts von Neuerungen stets nur schnelle Urteile parat haben. Vor allem aber wird das Konzil unter die Perspektive des «aggiornamento» gestellt: «Es ist unsere feste Zuversicht: Durch ein angemessenes Aggiornamento und durch eine kluge Organisation der gegenseitigen Zusammenarbeit wird die Kirche erreichen, dass die einzelnen Menschen, die Familien und die Völker mit grösserer Aufmerksamkeit die himmlischen Dinge beachten» (168). Dies soll mit den Mitteln eines Lehramtes geschehen, das «vorrangig pastoralen Charakter» (172) hat.
Keine Verurteilung, keine Ausgrenzung, sondern eine uneingeschränkte Einladung an alle Menschen, innerhalb und ausserhalb der katholischen Kirche. Nach dem Willen Johannes' XXIII. sollte dieses Konzil ein «neues Pfingsten» werden (170).
Dann geschah das Konzil. Nach mehr als 35 Jahren arbeiten wir noch immer daran, diesen Sprung nach vorwärts aufzuarbeiten, richtig einzuordnen, damit fertig zu werden und ihn umzusetzen<31> ­ ungeachtet der Unglückspropheten, die es auch heute in der Kirche gibt<32>. Aber Pfingsten, auch ein neues Pfingsten lässt sich nicht ungeschehen machen. Das hat auch Angelo Roncalli, Bischof von Rom, gewusst. Deshalb liess er diese Idee in sich reifen, stellte sich selbst hinter sie, setzte sie durch und liess Gott wirken. Darin genau liegt der Aufbruch, zu dem er den Anstoss gab: Er wollte Gottes Geist neuen Raum in der Kirche geben und stiess dafür deren Fenster weit auf<33>.

Schlussüberlegung

Wer begegnet uns also in dieser Person? Ein bedeutender Kirchenmann, ein kluger Diplomat, ein Pfarrer der Welt, auch ein unbeirrbarer Bischof ­ und wie die Johannes XXIII. zugedachten Bezeichnungen alle noch heissen mögen? Das alles auch. Giovanni Battista Montini, der ihm in seinem Dienst als Paul VI. nachfolgen sollte, nannte ihn den «gütigen Papst»<34>, und von einem unbekannten Italiener, der in der Sterbestunde Johannes' XXIII. am Petersplatz ausharrte, ist der Satz überliefert «er war gut wie unser Herr Jesus selbst»<35>.
Eine Woche vor Beginn des Konklaves des Jahres 1958 schrieb der damalige Patriach von Venedig, soeben nach Rom zur Wahl des Nachfolgers Pius' XII. angereist, an den Rektor seines Priesterseminars, um sich für seine Abwesenheit bei der Eröffnung des Studienjahres zu entschuldigen. Darin heisst es: «Da nun der verstorbene Papst in die Herrlichkeit aufgenommen ist, bleibt nichts anderes zu tun als zu rufen: Es lebe der Papst! und dafür zu beten, dass sein Nachfolger, wer immer dies auch sein werde, nicht einfach eine Lösung der Kontinuität darstellt, sondern einen Fortschritt im Bemühen um die zeitlose Jugendlichkeit der heiligen Kirche, deren Aufgabe es immer ist, die Menschen zur göttlichen Höhe der Verwirklichung des Evangeliums und der Heiligung des menschlichen Lebens angesichts des ewigen Lebens zu führen.»<36>
Ein Fortschritt, damit die Kirche erneut jung erscheint ­ damit hatte Angelo Roncalli sein eigenes Programm umrissen. Im guten Sinne des Wortes hat er dies öffentlich gelebt und umgesetzt, hat die Welt an seinem Bemühen darum Anteil nehmen lassen. So musste er den Sprung nach vorwärts nicht alleine tun, er hat viele Menschen in der Welt und die Mehrheit der Kirche mitgerissen.
An uns liegt es, dass dieser Sprung nicht gehemmt bleibt<37>.

 

Walter Kirchschläger ist Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Theologischen Fakultät und Rektor der Universität Luzern.


Anmerkungen

1 Überarbeitete Fassung eines in der Jesuitenkirche Luzern am 12. März 2000 gehaltenen Fastenvortrags.

2 Der Weihegottesdienst wurde in der Kirche Santa Maria in Monte Santo (Piazza del Populo) von Erzbischof Ceppetelli, Provikar von Rom und Titularpatriarch von Konstantinopel, gefeiert: Vgl. Johannes XXIII., Geistliches Tagebuch. Hrsg. v. L. Capovilla, Freiburg 111966, 190 und 325.

3 Vgl. Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 191­192.

4 Gli atti della visita apostolica di S. Carlo Borromeo a Bergamo, Florenz 1936 bis 1957.

5 Zur Biographie vgl. u.a.: G. Alberigo, Art. Johannes XXIII., in: LThK V, Freiburg 31996, 952­955; Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils I. Hrsg. v. G. Alberigo, Mainz 1997, 8­13; Johannes XXIII. Leben und Werke. Hrsg. von der Herder-Korrespondenz. (HTB 165), Freiburg 31965, hier 10­12.

6 Vgl. L. Capovilla, Papa Giovanni, segno dei tempi, Rom 1967, hier 25: «... per offrire così al mondo segno evidente che non gli uomini, ma Dio stesso conduce misteriosamente e pur realmente l'umanità e la Chiesa.»

7 Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 27.

8 M. Chinigo, Johannes XXIII. Vermächtnis seines Pontifikats, München 1965, 13­14, Zitat 14.

9 Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 27.

10 Ebd. 316.

11 Vgl. Enz. «Ad Petri Cathedram» vom 29. Juni 1959; dazu auch Chinigo, Johannes XXIII. (Anm. 8) 12.

12 Chinigo, Johannes XXIII. (Anm. 8) 7.

13 Beide Zitate: Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 250.

14 Chinigo, Johannes XXIII. (Anm. 8) 15. Das Gespräch fand am 5. März 1963 statt.

15 Vgl. Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 251.

16 Johannes XXIII., Leben und Werke (Anm. 5) 15.

17 Chinigo, Johannes XXIII. (Anm. 8) 6.

18 Vgl. Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 318.

19 Persönliche Mitteilung von R. Kirchschläger. Die Audienz fand im Frühjahr 1961 statt.

20 «Ich bin aus der Armut und den kleinen Verhältnissen von Sotto il Monte hervorgegangen; ich habe immer versucht, mich niemals davon zu entfernen»: Johannes XXIII., Leben und Werke (Anm. 5) 13.

21 Dieser Gedanke an die eigene geistliche und leibliche Gebrechlichkeit durchzieht die persönlichen Aufzeichen von früher Jugend bis zu seinem Tod. Vgl. Geistliches Tagebuch u.a. 27, dann 321­322.

22 Bei der Besitzergreifung der Lateranbasilika als römischer Bischofskirche am 23. November 1958: Johannes XXIII. Leben und Werke (Anm. 5) 9; vgl. der Sache nach auch Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 321­322, sowie ebd. 326: Es «verbreitete sich die Meinung, ich würde ein Papst des provisorischen Übergangs sein».

23 G. Alberigo, Geschichte I (Anm. 5) 11.

24 Es scheint erwiesen, dass Johannes XXIII. die Idee zumindest mit Kardinal Tardini, dem Staatssekretär besprochen hatte. Die Einschätzung von dessen Reaktion reicht von «voller und befreiender Zustimmung» (Alberigo, Geschichte I [Anm. 5] 14) bis zu Verzögerung «der Konzilsvorbereitungen» durch «ÐDienst nach Vorschriftð»: So O. H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, Würzburg 1993, 24. Überdies gibt es Indizien, dass im Konklave Kardinal Ottaviani das Thema «Konzil» angeschnitten hatte und dies auch während einer Audienz mit Kardinal Ruffini am 2. November 1958 zur Sprache kam ­ in beiden Fällen freilich mit einer gänzlich anderen Zielsetzung. Vgl. dazu ebd. 44­45; Alberigo, Geschichte I (Anm. 5) 2­3.14; des weiteren H. Reuter, Das II. Vatikanische Konzil, Köln 21966, 9­10.

25 G. Alberigo, Geschichte I (Anm. 5) 1. Vgl. dazu auch Pesch, Konzil (Anm. 24) 46­47.

26 Tatsächlich reichten die Reaktionen von scharfer Kritik bis zu unkritischer Polemik; im Überblick bei Pesch, Konzil (Anm. 24) 52­54, ausführlicher bei G. Alberigo, Geschichte I (Anm. 5) 20­36.

27 Vgl. eine Zusammenstellung der verschiedenen Aussagen bei G. Alberigo, Geschichte I (Anm. 5) 7­8, dazu auch Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 350.

28 G. Alberigo, Geschichte I (Anm. 5) 14. Zur Zeitanalyse im Überblick vgl. Pesch, Konzil (Anm. 24) 22­23.

29 Text in: Acta synodalia Sacrosancti concilii oecumenici Vaticani II, Vol. I Pars I, Vatikan 1970, 166­175. Zu Analyse und Textfassungen vgl. jetzt G. Alberigo, Geschichte II (Anm. 5), Mainz 2000, 17­21 (Lit.). Zu der dieser Ansprache von Johannes XXIII. selbst zugewiesenen Bedeutung vgl. Geistliches Tagebuch (Anm. 2) 346; vgl. des weiteren Pesch, Konzil (Anm. 24) 75­77; H. Vorgrimler, Vom «Geist des Konzils»: Das Konzil war erst der Anfang. Hrsg. v. K. Richter, Mainz 1991, 25­52, hier 31­33.

30 Die im Folgenden vermerkten Zahlen in Klammern beziehen sich auf die oben (Anm. 29) angegebene Ausgabe der Ansprache «Gaudet Mater Ecclesia».

31 Vgl. dazu noch immer wegweisend K. Rahner, Das Konzil ­ ein neuer Beginn. Vortrag zum Abschluss des II. Vatikanischen Konzils, Freiburg 21966.

32 Vgl. als gegensätzliche Analysen dazu J. Ratzinger, Zur Lage des Glaubens, München 1985, und als Antwort darauf F. König, Der Weg der Kirche, Düsseldorf 1986, bes. 28­29.124­125. Neuerdings vor allem H. Krätzl, Im Sprung gehemmt. Was mir nach dem Konzil noch fehlt, Mödling 41999. Des weiteren Pesch, Konzil (Anm. 24) 361­379, sowie K. Richter im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Buch: Das Konzil war erst der Anfang (Anm. 29) 7­9.

33 Vgl. G. Alberigo, Geschichte I (Anm. 5) 46­47.

34 Chinigo, Johannes XXIII. (Anm. 8) 169.

35 Nachzulesen im Nachruf von Kardinal Joseph Frings, in: Die Friedensenzyklika Papst Johannes' XXIII., Freiburg i.Br. 1963, 7­10, hier 7.

36 Privatdruck zum 8. Todestag Johannes' XXIII. Hrsg. v. L. Capovilla, Rom 1971, 41­42.

37 Vgl. dazu Krätzl, Im Sprung gehemmt (Anm. 32) 197­215: «Was der Kirche wieder auf die ÐSprüngeð helfen kann».


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