11/2000

INHALT

Kirche in der Schweiz

Erinnerung und Verantwortung

von Rolf Weibel

 

Ein Zeichen der Solidarität wollte die Schweizer Bischofskonferenz setzen, dass sie die Pressekonferenz nach ihrer Frühjahrssitzung im Inselspital in Bern durchführte; als eine Geste der Solidarität war auch der im Anschluss an die Pressekonferenz vom Ortsbischof Kurt Koch dem Spital abgestattete Krankenbesuch gedacht. Und so wurden diese Schritte auch von der Spitalleitung verstanden. Im Beisein der Spitalseelsorger und -seelsorgerinnen der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche dankte Prof. Hans Gerber für dieses Zeichen tätiger Nächstenliebe: es sei ermutigend für die Kranken und motivierend für das seelsorgerliche, ärztliche und pflegerische Personal; es fordere ein Universitätsspital aber auch dazu auf, den Menschen und nicht die medizinische Theorie im Focus zu behalten.
Als Informationsbeauftragter zog Nicolas Betticher im Zeichen des Jubiläumsjahres eine Verbindungslinie zwischen der Wahl des Inselspitals und der angekündigten Erklärung der Bischofskonferenz zum «Verhalten der Katholischen Kirche in der Schweiz zum jüdischen Volk während des 2. Weltkrieges und heute». Es gelte, sich zu erinnern und diese Erinnerung in Verantwortung nach vorne umzusetzen: «Jeder Fehler wird zur Dynamik.»

Dem Leben dienen

Die diesjährige Frühjahrsversammlung der Bischofskonferenz sei mit dem Beginn der Österlichen Busszeit zusammengefallen, und in der ersten Lesung des Tages der Pressekonferenz sei aus dem Buch Deuteronomium die Aufforderung zu vernehmen gewesen: «Wähle das Leben!», erinnerte Bischof Kurt Koch. In diesem Sinne wolle die Bischofskonferenz mit ihrer Arbeit dem Leben dienen; als Vizepräsident paraphrasierte er das im Amtlichen Teil dieser Ausgabe dokumentierte Pressecommuniqué, das über die an der Versammlung geleistete Arbeit zusammenfassend Auskunft gibt. Auf wichtigere Themen kam er besonders zu sprechen bzw. übergab dazu dem Generalsekretär der Bischofskonferenz, P. Roland-Bernhard Trauffer OP, das Wort.
Aus Sorge um die soziale und wirtschaftliche Zukunft des eigenen Landes habe sich die Bischofskonferenz über den Stand der Auswertung der Ökumenischen Konsultation orientieren lassen. Bis zum Ende der Eingabefrist haben sich die Stellungnahmen auf 1047 erhöht; von den angesprochenen Themen steht Kirche mit 66% an der Spitze, gefolgt von Solidarität mit einem Anteil von 52%, dem Thema Grundwerte mit 39% und Staat mit 35%.
Weil hinter dem Misstrauen und der Ablehnung des Fremden und der Fremden Angst stecke, habe die Bischofskonferenz als Motto für den Ausländersonntag das österliche Wort gewählt: «Fürchtet euch nicht». Damit werde die Angst ernst genommen und zugleich gezeigt, wie die Auferstehungsbotschaft ermögliche, mit der Angst anders umzugehen.
Dass das Gebetsapostolat die päpstlichen Gebetsintentionen mit jenen der Bischofskonferenz verbinde, ermögliche, im Gebet sichtbar zu machen, wie die Katholische Kirche lebe: sie gleiche einer Ellipse mit zwei Brennpunkten, als Orts- und Universalkirche sei sie papal und episokopal strukturiert.

Erinnern

Die Erklärung zum «Verhalten der Katholischen Kirche in der Schweiz zum jüdischen Volk während des 2. Weltkrieges und heute», die ein Schwerpunkt der Beratungen in der Frühjahrsversammlung war, soll am 14. April 2000 veröffentlicht werden; bis dahin sollen die Änderungswünsche und Verbesserungsvorschläge eingearbeitet sein, erklärte Bischof Kurt Koch. Dann erinnerte er daran, dass am kommenden ersten Fastensonntag Papst Johannes Paul II. vor aller Welt bekennen werde, «dass die Katholiken im Verlauf der Geschichte nicht nur Gutes getan haben, sondern auch Versäumnisse und Sünden gegen Mitmenschen (Andersgläubige, Juden usw.) begangen haben. Der Papst wird Gott um Vergebung bitten und alle Glieder der Kirche zur Besinnung und Umkehr einladen. Auch die Schweizer Bischofskonferenz bekennt, dass die Katholische Kirche in unserem Land dem jüdischen Volk gegenüber während der mörderischen Herrschaft der Nationalsozialisten (1933­1945) Versäumnisse einzugestehen hat. Es wurde zu wenig zur Rettung von Leben und Würde verfolgter Menschen getan.»
In einem ersten Teil werde die Erklärung eine kurze Zusammenfassung heutiger Forschung bieten; hier «geben die Bischöfe Hinweise, bei welchen Autoren und in welchen Werken man sich über das Versagen unseres Landes und unserer Kirche den jüdischen Flüchtlingen gegenüber sachgerecht informieren kann. Sie erinnern auch an bereits vorliegende bischöfliche und synodale Erklärungen gegen den Antijudaismus. Die Bekämpfung der Judenfeindschaft bleibt ein dringendes seeelsorgerliches Anliegen.» Bischof Kurt Koch nannte die Studien der Bergier- und Volcker-Kommission, aber auch die gemeinsam mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund 1992 erlassenen Erklärung «Antisemitismus ­ Sünde gegen Gott und die Menschlichkeit» wie die entsprechenden Texte der Synode 72.
Sodann würden die Bischöfe erwähnen, «dass es während des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz auch eine Reihe christlicher Familien und Bildungsinstitutionen gegeben hat, die Flüchtlinge aufgenommen und gerettet haben. ÐNoch heute trifft man immer wieder dankbare Jüdinnen und Juden.ð»
Im zweiten Teil ­ Versäumnisse in der Schweiz ­ werde festgehalten: «Leider gab es während dieser Zeit auch keine Zurücknahme antijüdischer Texte in der Liturgie. Im Karfreitagsgottesdienst wurde während der ganzen Zeit des Nationalsozialistischen Ungeistes betend von den Ðperfidi Judaeið gesprochen, was gewöhnlich als Ðtreulose Judenð verstanden wurde.
Der dritte Abschnitt der Erklärung ­ ÐRassismus, Antisemitismus und die Verbrechen gegen das jüdische Volkð ­ hat nichts an Aktualität verloren. Heute darf nicht mehr nur vom traditionellen Antijudaismus gesprochen werden. Die Ermordung von ca. sechs Millionen Juden durch die Nazis (Schoa, Holocaust) war ein Verbrechen, das das ganze 20. Jahrhundert verdüstert. Wir heutige Christinnen und Christen dürfen daran nicht vorbeisehen. Unsere Busse muss sich in der Bereitschaft äussern, bedrohte Menschen vor Folter, Unterdrückung, Vertreibung und Mord zu schützen und zu bewahren ­ also aus der Geschichte zu lernen, die Verantwortung angesichts heutiger Herausforderungen wahrzunehmen.
Die Schweizer Bischofskonferenz unterstreicht im Zusammenhang mit dem unvergleichlichen Verbrechen des Holocaust, dass Ðauch nichtjüdische Verteidiger der Rechte der Juden ihrem tödlichen Schicksal...nicht entgingen...Wir Bischöfe gedenken zusammen mit der christlichen und der nichtchristlichen Öffentlichkeit in der Schweiz der sechs Millionen jüdischer Ermordeter, aber auch der christlichen und aller während der Nazizeit Terrorisierten. Wir gedenken auch der vielen vom stalinistischen Terrorregime Umgebrachten.ð Speziell werden die 3000 katholischen Geistlichen erwähnt, die von den Nazis umgebracht worden sind.
Die Bischöfe kommen dann auf heutige Tendenzen der Vertuschung zu sprechen, als ob die berechtigten Forderungen nach Wiedergutmachung von der heutigen schweizerischen Bevölkerung abgelehnt werden könnten: ÐErinnerung an das Geschehen und Übernahme von Verantwortung...ist eine nachzuholende Pflicht der Gerechtigkeit und des Glaubens an Gottes Wirken im Judentum und im Christentumð.»
Ein besonderer Schwerpunkt der Erklärung sei der vierte Abschnitt ­ Kirche und Judentum ­, weil hier die Bischöfe die christliche Auffassung von Erwählung im Horizont der Erwählung des jüdischen Volkes darlegen. «Die verschiedenen Formen des christlichen Antijudaismus werden erst dann verschwinden, wenn es uns gelingt, unseren Glauben ohne Feindschaftsideologien gegen Juden oder Andersgläubige weiter zu geben. Das jüdische Volk steht in der Gemeinschaft des Bundes mit Gott Ðder zuverlässig in seinem Bund ist und beständig in seinem Wortð. Durch Christus ist die Kirche in den gnädigen und barmherzigen Bund Gottes mit Israel hineingenommen worden. ÐUngekündigter Bund und ungekündigte Erwählung gehören zum zentralen Glaubens- und Existenzbewusstsein des jüdischen Volkes...Bund und Erwählung sind auch Grundlagen der Kirche, der christlichen Existenz und des christlichen Dienstes.ð Wir Christen müssen leider akzeptieren, dass wir jüdischerseits nicht als Bundesgemeinschaft anerkannt sind. Als Begründung für diese Ablehnung wird die christliche Judenfeindschaft angegeben.»
Im fünften Teil, den Schlussfolgerungen sollen Motivationen zur Sprache kommen, «die allen Formen von Antisemitismus und Fremdenhass den Boden entziehen sollen. Im Gleichnis vom barmherzigen Samaritan (Lk 10,25­37) lehrt uns Jesus, dass wir an keiner menschlichen Not vorübergehen dürfen. Die Erklärung ÐNostra aetate Nr. 4ð des Zweiten Vatikanischen Konzils muss zum christlichen Allgemeingut werden.»
Die die Pressekonferenz abschliessende Fragerunde konzentrierte sich auf die Erklärung zum «Verhalten der Katholischen Kirche in der Schweiz zum jüdischen Volk während des 2. Weltkrieges und heute». Bischof Kurt Koch räumte als eine Schwierigkeit bei der Beurteilung der Vergangenheit ein, dass nur erforscht werden kann, was schriftlich dokumentiert ist, und dass das Leben komplexer war als die vorhandenen Belege.
Die Erwählungslehre verdeutlichte er so, dass er sich gegen die Substitutionstheorie aussprach: Der Neue Bund ersetzt den Alten nicht, beide stehen vielmehr in einer Bundesgemeinschaft, so dass die Trennung von Kirche und Synagoge die erste «Kirchenspaltung», der «Urriss der Catholica» (Hans Urs von Balthasar) ist. Der Antisemitismus stehe einem Dialog über diese Bundesgemeinschaft indes immer noch im Weg.
Ob Entschuldigung, Schuldbekenntnis oder Vergebungsbitte, erläuterte Bischof Kurt Koch: Wir bekennen vor Gott, dass wir in der Glaubensgemeinschaft der Kirche nicht getan haben, was wir hätten tun können, und wir verpflichten uns, aus dieser Geschichte zu lernen. Einerseits gebe es keine Kollektivschuld, nur eine Solidarität mit der Kirche in ihrer Glaubensgeschichte und in ihrer Schuldgeschichte; anderseits müssten wir die toten Opfer um Vergebung bitten. Schliesslich bedauerte Bischof Kurt Koch neue Tendenzen des Antisemitismus und Antijudaismus und insbesondere, dass in theologischen Veröffentlichungen von neuem ein Markionismus in Erscheinung trete.

Jubiläum und Expo.02

Nachdem der Generalsekretär der Bischofskonferenz einige Schwerpnkte («accents forts») der Erklärung in französischer Sprache herausgestellt hatte, erinnerte er an die Pressekonferenz des Informationsbeauftragten der Bischofskonferenz zum Jubiläumsjahr, an bereits durchgeführte Wallfahrten nach Rom und ins Heilige Land, und es werde noch viele Gesten und Zeichen geben. Die Bischofskonferenz habe bereits im Vorfeld gezeigt, wie man auch heute mit dem Angebot des Ablasses gut umgehen könne; allerdings bedürfe er authentischer und verifizierbarer begleitender Gesten. Ein Akzent dabei sei ein besonderes Engagement für Völker in Kriegs- und Unrechtssituationen; so habe die Bischofskonferenz stets eine grosse Aufmerksamkeit für Gäste, die aus solchen Ländern berichten kommen, und sie mache sich für deren Anliegen auch gerne zum Sprachrohr.
Für die Schweizer Katholikinnen und Katholiken werde das Jubiläumsjahr mit dem Schweizer Tag in Rom einen Höhepunkt erreichen; jetzt stehe fest, dass Papst Johannes Paul II. trotz seines dichten Terminplanes für eine Audienz Zeit haben werde.
An der expo.01 hatte die Bischofskonferenz nicht besondere Freude, sie war namentlich mit der Art und Weise, wie die Kirchen ­ die sich zur ESE.01 zusammengeschlossen hatten ­ behandelt wurden, nicht zufrieden. Inzwischen hätten sich die Dinge wirklich verbessert, erklärte P. Trauffer. Das christliche Projekt «Un ange passe» könne jetzt überzeugen; es bringe christliche, allgemein religiöse Themen auf eine Weise zur Sprache, die auch Fernstehende ansprechen könne. Zudem sei es von einem anfänglich interreligiösen Projekt zu einem christlichen Projekt weiter entwickelt worden, das für andere Religionen offen sei. Zusätzlich zu diesem Expo.02-Projekt würden die Kirchen durch ESE.02 für weitere Ereignisse besorgt sein.
Abschliessend berichtete P. Trauffer über das Gespräch mit dem Päpstlichen Nuntius bei den Vereinten Nationen und den Internationalen Organisationen in Genf, Erzbischof Giuseppe Bertello. Die Interventionen des Heiligen Stuhls brächten andere Kriterien ins Spiel als Macht und Interessen.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2000