11/2000

INHALT

Leitartikel

Radikale Entwicklungshilfe

von Rolf Weibel

 

Jede Hunderternote, jede Begegnung, jedes Gebet kann Elend vermindern ­ vorausgesetzt, die Wurzeln der Verarmung werden auch angepackt. Zu diesen Wurzeln gehört die Verschuldung.» So antwortet Christoph Stückelberger, Zentralsekretär von Brot für alle, auf die Frage, ob Entwicklungshilfe angesichts der Tatsache, dass es nach jahrzehntelangen Anstrengungen immer noch so viel Armut gibt, überhaupt sinnvoll sei.<1> So packen die Hilfswerke, und nicht zuletzt die kirchlichen Hilfswerke, die Wurzeln der Verarmung denn auch ihren Möglichkeiten entsprechend an.
Vor zehn Jahren führten sie die Kampagne «Entwicklung braucht Entschuldung» durch, die der Fastenaktion von Fastenopfer/Brot für Brüder/Partner sein 1990 einen nachhaltigen entwicklungspolitischen Akzent verlieh. Die Petition mit 250000 Unterschriften verlangte zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft 700 Millionen Franken für kreative Entschuldung und die Bildung von Gegenwertfonds im Dienste der Entwicklung. Die 700 Millionen wurden vom Parlament gesprochen: 400 Millionen (und weitere 100 Millionen aus einem früheren Kredit) für Entschuldung und 300 Millionen für Umweltschutzprojekte. Von internationalem Interesse wurde vor allem das von den Hilfswerken entwickelte Konzept der «kreativen Entschuldung»: Die durch den Schuldenerlass der ursprünglichen Exportkredite eingesparten Gelder müssen von der Schuldner-Regierung teilweise in der Landeswährung in einen so genannten Gegenwertfonds einbezahlt werden, und daraus werden Projekte für die ärmere Bevölkerung finanziert. In der Schweiz werden diese Gegenwertfonds vom Staatssekretariat für Wirtschaft, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und der Arbeitsgemeinschaft Swissaid/Fastenopfer/Brot für alle/Helvetas und Caritas gemeinsam erarbeitet und begleitet.<2>
Im Rahmen der diesjährigen Fastenaktion setzen die kirchlichen Hilfswerke einen weiterführenden entwicklungspolitischen Akzent: Sie fordern ein Insolvenzrecht für hoch verschuldete Staaten, welches den Schuldnerstaaten ein Existenzminimum gewährt. Vorbild dafür ist das Konkursrecht: Wer als Privatperson seine Schulden nicht mehr zahlen kann, kann seine Zahlungsunfähigkeit erklären lassen; dies schützt den Schuldner davor, so weit gepfändet zu werden, dass das Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist. Für überschuldete Staaten gibt es ein solches Konkursrecht noch nicht ­ abgesehen vom Insolvenzschutz für Gebietskörperschaften in den USA. Zur Eröffnung der diesjährigen Fastenaktion haben Fastenopfer und Brot für alle deshalb zu einem Symposium zum Insolvenzrecht eingeladen. Bemerkenswert waren dabei die Berührungspunkte von Befürwortern und Skeptikern eines Insolvenzrechts bzw. -verfahrens. Jürgen Kaiser, Koordinator der Erlassjahr-2000-Kampagne in Deutschland, schlug als Missverständnisse ausschliessende Sprachregelung vor, von einem «fairen und transparenten Schiedsverfahren» zu sprechen. Matthias Meyer, Exekutivdirektor bei der Weltbank in Washington, äusserte einerseits Bedenken im Blick auf ein durch ein Insolvenzrecht ermöglichtes unseriöses Verhalten von Regierungen («moral hazard»), gab anderseits unumwunden zu, dass zahlreiche Entwicklungsländer heute insolvent sind und somit auf einen Ansatz angewiesen sind, «welcher den Interessenausgleich zwischen Gläubigern und Schuldnern mit einem fairen und transparenten Verfahren und im Rahmen gleichgewichtiger Beziehungen ermöglicht».
Die Hilfswerke wissen: «Die Realisierung eines internationalen Insolvenzverfahrens kann letztlich nur dann erfolgreich sein, wenn der Wille dazu breit abgestützt ist. Eine Sensibilisierung der Gesellschaft für die negativen Auswirkungen der Schuldenkrise auf die menschliche und soziale Entwicklung in den Entwicklungsländern ist deshalb unerlässlich.»
Mit der Förderung der Solidarität für eine gerechte und transparente Lösung des Schuldenproblems packen die Hilfswerke die Wurzeln der Verarmung an, und damit leisten sie radikale Entwicklungshilfe. Für die kirchlichen Hilfswerke ist dies indes nur eine Dimension ihres Aufrufs zu «anders weiter».


Anmerkungen

1 Im ANNEX zur Reformierten Presse 7/2000, S. 3.

2 Informationen über das schweizerische Entschuldungsprogramm finden sich in der Broschüre «Entschuldung braucht neue Wege», Süd-Magazin 9/1999, zu beziehen bei der Entschuldungsstelle der Arbeitsgemeinschaft, Postfach 6735, 3001 Bern (Fr. 3.­ in Briefmarken beilegen).


© Schweizerische Kirchenzeitung - 2000