4/2000 | |
INHALT |
Leitartikel |
Ernst Zahn, einer der heute vergessenen, damals aber sehr erfolgreichen
Schweizer Schriftsteller der ersten Jahrhunderthälfte, schrieb 1901
den historischen Roman «Albin Indergand». Zahn, Hotelier in
Göschenen und Urner Landrat, heftig gelesen, von der Fachwelt aber
mit Missachtung gestraft, verwendete wohl tief zurückreichende Erinnerungen
seines Tales, um in «Albin Indergand» eine kunstvolle Synthese
eines realen politischen Geschehens, des Einfalls der französischen
Revolutionsheere in die Urschweiz um das Jahr 1798, mit einem klassischen
Romanthema, dem Umgang der Gemeinschaft mit dem Outlaw, dem Verachteten
und Abtrünnigen, zu erstellen. Was uns diesen Roman wertvoll macht
und was ihn zur Relecture empfiehlt, ist die Darstellung der katholischen
Kirche und ihres Vertreters im Werk. Ein Stück angewendetes Evangelium
tritt ganz überraschend zutage.
Der «Pfarrherr», wie er von den Dorfbewohnern genannt wird,
hat keinen Namen, gibt aber doch dem ganzen Roman Struktur und Aufbau. Mit
seinem Kommen in das fiktive Dorf Anderhalden (das aufgrund der geographischen
Beschreibung aber Wassen sein muss) mitten im Winter beginnt er, mit seinem
Tod endet er. Wir erfahren von ihm nur, dass er «weiland Pater Cölestin
vom heiligen Orden der Kapuziner» war und «jetzt Weltgeistlicher
geworden durch Gnade meines Herren Oberen» (beides S. 17)<1> ist. Er wird als bescheiden und körperlich
eher schwach dargestellt; sein Credo lässt ihn Zahn wie folgt beschreiben:
«Ich bin nur der Pfarrer, der einem Häuflein Bauern das Heil
ihrer Seelen hüten helfen soll» (S.18).
Geistig erreicht er ein hohes Niveau, wie er den 15-jährigen Sohn eines
hingerichteten Wilderers und Mörders ins Pfarrhaus aufnimmt, ja geradezu
adoptiert. Albin Indergand, der Held des Buches, der später die Urner
im Kampf gegen die Franzosen anführen wird und schliesslich zum bedeutendsten
Mann des Dorfes aufsteigt, entspricht aber in keiner Art und Weise den moralischen
Ansprüchen seiner Umwelt, für die er als Krimineller von Anfang
an stigmatisiert ist. Dies alles kulminiert, wie der etwa 18-Jährige
mit einem jungen Zigeunermädchen durchbrennt und mit ihr in wilder
Ehe den Winter in einer entlegenen Alphütte verbringt: Auch er gibt
sich auf: «Pfarrherr...ich bin doch schlecht Ihr habt doch den
Glauben an mich verloren...» Der aber repliziert: «Weisst Du
nichts mehr vom verlorenen Sohn, mein Bub?» (beides S. 184) und widersteht
auch den Dorfgewaltigen ins Gesicht, die ihm drohen: «Es müsste
im Dorf einen sonderbaren Eindruck machen, wenn sich der Pfarrherr die lebendige
Sünde ins Haus nähme!» (S. 191). Indergand erhält von
ihm einen abgelegenen verrufenen Hof, auf dem er sich durch die Jahre und
Wirren hindurch Anerkennung, Reichtum und (natürlich!) ein Mädchen
aus gutem Haus als Frau erarbeitet. Am Sterbebett des Pfarrers stehend,
bekommen die Hauptpersonen des Romans dessen Schlussworte zu hören:
«Es tut wohl, an das Gute zu glauben und das, woran man geglaubt hat,
siegen zu sehen» (S. 305).
Ein seltsam berührendes Werk. In seiner leichten Sentimentalität
uns etwas fremd, in seiner Schilderung eines Kirchenmannes, der gerade nicht
Moral und Ordnung predigt und Verurteilungen ausspricht, sondern bereit
ist, über vieles hinweg zu sehen, meilenweit entfernt von den Erfahrungen,
die viele seit vielen Jahrzehnten mit der Kirche machen. Mir scheint, in
Zahns Werk lebe etwas Subversives, das so gar nicht zur Entstehungszeit
des Werkes passt.
1 Alle Zitate aus der in der Reihe «Frühling der Gegenwart. Der Schweizer Roman 18901950» (herausgegeben von Charles Linsmayer, Zürich 1981) erschienenen Ausgabe.