4/2000 | |
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Berichte |
Thomas von Aquin am Schnittpunkt von Recht und Theologie. Die Bedeutung
der Thomas-Renaissance für die Moderne»: Zu dieser Thematik sprach
an der Thomas-Akademie der Theologischen Fakultät der Universitären
Hochschule Luzern Kurt Seelmann, Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie
an der Universität Basel und, wie Dekan Adrian Loretan in seiner Begrüssung
herausstellte, ein durch Veröffentlichungen ausgewiesener Kenner der
europäischen Rechtsgeschichte und der spanischen Spätscholastik.
Die Thomas-Renaissance ist nämlich das neue und verstärkte Interesse
an Thomas und seiner Rechtslehre im 16. Jahrhundert, die über die Spätscholastik
im 17. Jahrhundert die modernen Vernunftrechtssysteme mit grundgelegt hat.
Ausgelöst wurde die Thomas-Renaissance in Paris durch den Lehrbuchwechsel
von den «Sentenzen» des Petrus Lombardus zur «Summa Theologiae»
des Thomas von Aquin. Nötig geworden war dieser Wechsel, weil im 16.
Jahrhundert neue ethische und rechtliche Probleme zu lösen waren. Die
theoretische Nähe von Thomas zu Aristoteles mit dem Ideenrealismus
dürfte vernunftorientierte Lösungen ethischer Probleme versprochen
haben. Zudem dürften die Differenzierungsbedürfnisse des «forum
internum» die hergebrachten Beichtsummen obsolet gemacht haben. Anderseits
waren die neuen Probleme Begegnung mit neu entdeckten Kulturen, Konfessionsstreit,
postfeudaler wirtschaftlicher Umbruch nicht nur moraltheologische,
sondern ebenso juristische Probleme.
Diese Verschränkung von Recht und Theologie ist indes älter als
die Thomas-Renaissance, älter auch als Thomas selber. Die westliche
Christenheit nicht aber die östliche hat bereits im 11.
und 12. Jahrhundert eine Juridifizierung (Verrechtlichung) ihrer Theologie
erlebt. Die Gregorianischen Reformen die Durchsetzung des päpstlichen
Primats gegenüber den Ortskirchen und im Sinne einer Machtteilung auch
gegenüber dem Kaisertum hatten die Westkirche verwaltungsorganisatorisch
juridifiziert. Die Kirche als nun eigenständiger Machtfaktor brauchte
juristisch geschulte Verwaltungsfachleute. Im Zusammenhang dieser kirchenpolitischen
und kirchenadministrativen Zentralisierungstendenzen der «päpstlichen
Revolution» (Harold Berman) kam es in Bologna zu einer Renaissance
des Römischen Rechts und zur Systematisierung des Kirchenrechts. Juristisch-organisatorisches
Können brauchte es ferner für die «ein Massenphänomen»
gewordene Beichte. Die Moraltheologie wurde deshalb durch juristische Zurechnungslehren
inhaltlich verrechtlicht.
Im 13. Jahrhundert stand dann Thomas in dieser Tradition der Juridifizierung
der Theologie und entwickelte in der Konsequenz dieser Tradition eine philosophische
Naturrechtslehre. Als wichtigste Merkmale dieser Lehre nannte Prof. Seelmann:
Thomas trennt erstens iustitia von caritas und ermöglicht so die Berechenbarkeit
obrigkeitlicher Macht; er befreit zweitens staatliche Herrschaft vom Makel
des Sündenfalls, so dass das Recht nicht länger «sub specie
naturae corruptae», sondern als an sich als nötig und sinnvoll
verstanden wird, und drittens kämpft er für eine profane Vernunft,
die allen Menschen unmittelbar einleuchtend ist. Thomas macht das Naturrecht
so nicht von einem göttlich Willen abhängig, erliegt in der Regel
aber auch nicht der gegenteiligen Naturteleologie.
Als ebenso wichtig wie die Begründung einer rationalen Naturrechtslehre
hält Prof. Seelmann die erst von Thomas vorgenommene Freisetzung positiver
Gesetzgebung; er gesteht dem Menschen ausdrücklich die Gesetzgebungskompetenz
zu, was sich bis in die Sprache hinein ablesen lässt.
Wirkungsgeschichtlich mächtig wurde Thomas dann im 16. Jahrhundert.
Die Spätscholastik war indes nicht ausschliesslich von ideenrealistischem
Gedankengut geprägt, die Traditionslinie des Scotistischen Voluntarismus
war auch noch lebendig (Dun Scotus Grundgedanke: Gott hätte, wenn er
gewollt hätte, die Welt ganz anders ordnen können). Von den Quellen
her interpretierte Prof. Seelmann das Rechtsverständnis der Spätscholastik
als «eine durchaus originelle und innovative Kombination von Vernunftoptimismus
und Scotistischer Normativität». Der Scotistische Gedanke des
Spätmittelalters, dass Normen ein Produkt des Willens sind, finde sich
ansatzweise bereits bei Thomas so wie ein Syntheseversuch zum ersten
Mal im 15. Jahrhundert bei Nikolaus von Kues sichtbar werde, Elemente einer
Synthese aus Vernunftorientierung und Systematisierung über Willenskriterien
aber schon bei Thomas angelegt seien. Diese Kombination mache Recht nach
normativen Kriterien systematisierbar und schaffe die Voraussetzungen für
Gesellschaftsvertragslehren ebenso wie für die Tradition der Menschenrechte
und für moderne, über subjektive Rechte gegliederte Rechtsordnungen.
So sei nicht nur die westliche Theologie aus dem Geist der Jurisprudenz
entstanden, sondern auch die moderne Jurisprudenz aus dem Geist der Theologie.
Recht und Theologie die Universität der Zukunft werde solche
Schnittstellen noch weit aufmerksamer erfassen müssen. Ob die Universitäre
Hochschule Luzern zu ihrer Theologischen Fakultät bald auch eine Juristische
Fakultät erhalten wird, entscheidet das Luzerner Volk noch dieses Jahr.