26-27/1999 | |
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Theologie in Luzern |
In der heutigen Form ist die Kirchengeschichte mit ihrem Platz im theologischen Fächerkanon ein Kind von Konfessionalisierung und Aufklärung. Die Methode ist jene der Allgemeingeschichte: Im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung untersucht jemand schriftliche, mündliche, archäologische oder kunstgeschichtliche Quellen, analysiert und interpretiert sie, um dann das Ergebnis kritisch darzustellen.
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam die Frage ins Gespräch,
ob Kirchengeschichte Teil der Theologie oder Teil der Geschichte sei. Historikerinnen
und Historiker akzeptierten zwar die Beschäftigung mit geistlichen
Institutionen und Themen des religiösen Lebens. Theologische Ansprüche
an diese Arbeit jedoch lehnten sie ab: Wer die Kirche «heilsgeschichtlich»
verstehe, ihr eine überzeitliche Wirklichkeit zuspreche, ja gar mit
der Anwesenheit und dem Wirken Gottes in der Welt rechne, könne sich
in einem wissenschaftlichen Kontext nicht verständlich machen. Unter
Bezugnahme auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis getroffene Aussagen
beruhten auf transzendenten Voraussetzungen und seien deshalb nicht allgemein
nachprüfbar. Geschichte als Wissenschaft könne nur mit innerweltlichen
Ursachen rechnen, der Wille Gottes sei keine historische Kategorie.
In unserer Zeit stellt sich dieses Problem anders dar. Möglicherweise
taugt für die Diskussion zwar noch das gleiche Geschichtsverständnis,
auch wenn mittlerweile anerkannt ist, dass für historische Forschung
nicht nur intern begründbare Werturteile eine Rolle spielen. Für
(wissenschaftliche) Theologie hingegen ist ein deutlich veränderter
Begriff in Anschlag zu nehmen. Denn dass Glaubenswahrheit den Menschen nur
von aussen her entgegenkomme und von ihnen angenommen werde als fern aller
Orte und Zeiten unabänderlich «deponiert», gehörte
zum neuscholastischen Denksystem. Dieses ist aber nicht mehr universale
Norm für «die» Theologie. Inzwischen legt theologische
Reflexion vielmehr mit allem Nachdruck Wert auf zeitliche und lokale Kontexte
Glaube hat mit Gegebenem und mit Erfahrung zu tun. Ist von Transzendenz,
Offenbarung und erst recht von Kirche die Rede, dann steht eines sicher
vor Augen: Theologische Sucharbeit wird nicht auf Glaubenswahrheiten an
sich treffen, sondern sie wird immer Menschen begegnen, die dann und dort
ihren Glauben so oder anders bezeugt, gemeinsam bekannt und praktisch gelebt
haben. Und auch diese Menschen standen der Wahrheit nicht als passiv Empfangende
gegenüber, sondern sie selbst wurden als Glaubende Teil davon. Die
Kirche als Institution und die Kirche als Geheimnis sind weder fein säuberlich
zu trennen noch zu identifizieren. Eine scharfe Grenzziehung zwischen «historisch»
und «heilsgeschichtlich» ist deshalb nicht mehr möglich.
Sache der Kirchengeschichte ist es, Kontexte nach Verschiedenheit der Zeiten
zu beschreiben. Weil sie mit historisch-wissenschaftlicher Methode arbeitet,
ist die enge Verbindung und der Austausch mit der allgemeinen Geschichte
eine Selbstverständlichkeit; weil sie zur theologischen Forschung im
heutigen Sinne beiträgt, kann sie sich als theologische Disziplin verstehen.
Kirchengeschichtliche Arbeit leistet einen grösseren Beitrag zum
Ganzen der Theologie, seit sich in den vergangenen Jahrzehnten ihr Blickwinkel
erweitert hat. War ihr Gegenstand traditionell die (meist konfessionell
einseitig betrachtete) Geschichte der «Institution Kirche»,
so öffnete sie sich seit den sechziger Jahren neuen Arbeitsfeldern:
Nach dem Vorbild der allgemeinen Geschichtsschreibung nahm sie sich sozial-,
gesellschafts- und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen an. Das Interesse
erweiterte sich von kirchlichen Einrichtungen, Persönlichkeiten und
Ereignissen hin zur Religiosität und zum religiös motivierten
Handeln christlich glaubender Menschen, zu ihren spezifischen Mentalitäten
und zum Einfluss der Religion auf die soziale Wirklichkeit. Standen einst
Bischöfe und Päpste, Klöster und kirchliche Vereine allein
im Mittelpunkt, so richtet sich heute das Augenmerk auch auf die Glaubenden
insgesamt: Wie wurden sie religiös erzogen und sozialisiert, wie bestimmte
ihr Glaube das Verhalten als einzelne und als Gemeinschaft, mit welchen
Symbolen verständigten sie sich innerhalb und ausserhalb der Liturgie,
wie nahmen sie sich selbst und andere wahr, welches waren die Verhältnisse
der sozialen Gruppen und der Geschlechter zueinander, wie waren die Eliten
zusammengesetzt? Wer die Kirche als «kommunikative Einheit der Glaubenden»
(Medard Kehl) versteht und es akzeptiert, dass diese Glaubenden auch geschichtliche
Wesen sind, wird die Relevanz kirchenhistorischer Arbeit für die Theologie
leicht erkennen; wer sich in den anderen theologischen Disziplinen umschaut,
kann sich darin bestätigt finden.
Die Ausrichtung auf neue Fragestellungen war in der allgemeinen Geschichte
inspiriert von französischen Schulen, ihnen folgten später auch
Historikerinnen und Historiker in anderen Ländern. Für die Kirchengeschichte
in der Schweiz hat die Akzentverschiebung seit 1980 einen bedeutenden Stellenwert,
und die hier geleistete Arbeit findet entsprechende Resonanz: Urs Altermatts
Buch über «Katholizismus und Moderne» (1989) erfuhr breite
Beachtung und wurde ins Französische, Italienische, Polnische und Ungarische
übersetzt; auch Arbeiten zur religiösen Geschichte der Menschen
in unserem Land wie etwa die neue St. Galler Bistumsgeschichte von Franz
Xaver Bischof und Cornel Dora (1997) oder die zahlreichen vergleichenden
Studien von Victor Conzemius machten diese wissenschaftliche Orientierung
in einer Weise fruchtbar, die als beispielhaft zu gelten hat.
Die Glaubenden in ihrer alltäglichen Praxis und die Seelsorgenden
in ihrer vielfältigen Arbeit werden aus Kirchengeschichte kaum direkten
Profit schlagen. Kenntnisse, die über das Hier und Heute und über
die naheliegenden Zusammenhänge hinausreichen, sind meist in der Verkündigungsarbeit
nicht unmittelbar «nutzbringend» zu verwenden. Im Gegenteil:
Auch ohne vertieftes Wissen und ohne Sinn für Entwicklung und Veränderung
kann man sich offenbar in unserer Kirchenlandschaft durchaus erfolgreich
bewegen. Mitunter ist zu hören, Kirchengeschichte leide seit dem Konzil
unter Nachfragemangel. Das liegt vielleicht daran, dass historische Bildung
auch beunruhigt und Probleme ins Bewusstsein hebt, die ohne Nachdenken diskret
verborgen blieben.
Kirchliches Handeln allerdings, das nicht zum Selbstzweck verkommen will,
ist auf Gesellschaften und auf die Welt bezogen. Von jenen, die Impulse
geben und Richtungen weisen, ist eine Verständnisniveau zu fordern,
das dem Vergleich mit entsprechenden weltlichen Umfeldern standhält.
Wer sich diesem Anspruch unkritisch verschliesst, muss es mit verantworten,
wenn das kirchliche Leben in der Gesellschaft seinen Platz verliert und
nur mehr als Ausdruck eines rückständig-magischen Weltverständnisses
wahrgenommen wird. Der Dienst am Evangelium verlangt auch kulturelle Dialogfähigkeit,
und zu dieser gehört ein bewusster Umgang mit individuellen und kollektiven
Erfahrungen allemal. Ziel des Kirchengeschichtsstudiums ist deshalb ein
zeitlich vertieftes Blickfeld. Seelsorge bedarf der Weite des Herzens und
der Weite des Horizontes.
Markus Ries ist ordentlicher Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universitären Hochschule Luzern.
Seit Beginn der 1980er Jahre trat die Bedeutung der Konfessionen in den Mittelpunkt. Mit den Begriffen Modernisierung und Milieu wurden zwei gesellschaftsgeschichtliche Modelle in ihrer Anwendung auf den Katholizismus diskutiert.<1> Weit stärker als das Modernisierungsmodell hat der Milieubegriff die Katholizismusforschung befruchtet. Die definitorische Festlegung des katholischen Milieus ist dabei immer eine historische Konstruktion, die der Wirklichkeit übergestülpt wird. Im Modernisierungsmodell und in der Milieutheorie erscheinen die Katholiken als eine mehr oder weniger geschlossene gesellschaftliche Gruppe neben anderen. «Dass ein solcher Katholizismusbegriff eine Verengung nicht nur des ursprünglich qualitativen Begriffs des Katholischen, sondern der tatsächlichen Fakten bedeutet, wird nicht gesehen.»<2>
Die Sozialhistoriker haben ein zunehmendes Interesse an konfessionellen
Themen, zum Beispiel den katholischen Frömmigkeitsformen und ihrer
Funktion innerhalb der Gesellschaft. Es ist ebenfalls festzustellen, dass
vermehrt konfessionsübergreifend religionsgeschichtliche Untersuchungen
an die Seite der konfessionellen Kirchengeschichte treten. «Zum gegenwärtigen
Zeitpunkt sehen sich die allgemeine Zeitgeschichtsschreibung sowie die Zeitgeschichtsschreibung
der Protestanten und Katholiken vor der Herausforderung, die Tugend der
thematischen und methodischen Integrationsfähigkeit zu bewähren.»<3> Diese gegenseitige Wahrnehmung und Erweiterung
des Blickfeldes ist für die allgemeine Zeitgeschichtsschreibung und
die Kirchengeschichte eine Bereicherung. Albrecht Beutel zeigt auf, dass
der kritische Umgang mit Kirchengeschichte zu theologischer Bescheidenheit
mahnt, zu historischer Bildung verhilft und zu christlichem Handeln befreit.
«Aus der Einsicht in die historische Bedingtheit der eigenen theologischen
Situation kann gegenüber anderen theologischen Situationen Respekt
und Interesse erwachsen.»<4>
In den letzten Jahrzehnten wurden in der Kirchengeschichte auch frauengeschichtliche
Themen entdeckt. Bahnbrechend war zum Beispiel die umfassende Studie «Gottes
selbstbewusste Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum?»
von Anne Jensen.<5> Gegenwärtig erlebt
die Erforschung mittelalterlicher Mystikerinnen geradezu einen Boom.
Frauen werden in die Geschichte zurückgeschrieben beziehungsweise integriert
und so eine männlich einseitige Sicht von Geschichte korrigiert. Dieser
kompensatorische Ansatz versucht, weibliche Beiträge zur Geschichte
sichtbar zu machen und Ðberühmte Frauenð der Geschichte zu
addieren. Grundsätzlich wird zuwenig aufgezeigt, wie es dazu kam, dass
die Frauen in der Kirchengeschichte bis vor kurzem mehrheitlich unsichtbar
geblieben sind. Geschlechtspezifische Besonderheiten in der Geschichte der
Frauen heben sich erst im Vergleich mit der gleichzeitigen Situation der
Männer ab. «Das Ziel solcher Untersuchungen zur Geschlechtergeschichte
sind Kenntnisse über die Bedingtheiten der Geschlechtsidentität
und ihre Verknüpfung mit kirchlichen und theologischen Kontexten.»<6> Hedwig Meyer-Wilmes fordert in diesem
Zusammenhang eine feministisch theologische Hermeneutik, das heisst «eine
Interpretationspraxis, die Einschluss bzw. Ausschluss von Frauen aufgrund
ihres Geschlechtes in Bildern, Texten, kirchliche Praxis und Geschichte
des Christentums aufzeigt und gegebenenfalls überwinden möchte».<7>
Als Informationsquelle für die Geschichte der Kirche und des christlichen Glaubens in der Schweiz ist das reichhaltig illustrierte Werk «Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz» zu empfehlen, das auch in französischer Sprache erschienen ist.<8> Einen guten Einstieg in die Arbeitsweise der Kirchengeschichte bietet das «Arbeitsbuch Kirchengeschichte» von Christoph Markschies.<9> Es handelt sich um eine ausführliche Darstellung der historischen Arbeitstechniken mit wertvollen Hinweisen auf Quellen und deren Erschliessung. Eine übersichtliche Einführungslektüre in die Geschichte der Kirchen aus ökumenischem Blickwinkel ist die Studienausgabe von «Kirchengeschichte-ökumenisch».<10>
Im deutschsprachigen Raum findet ein guter Austausch in der Forschung
statt. Die in Deutschland erscheinende «Zeitschrift für Kirchengeschichte»
ist die älteste allgemeine kirchengeschichtliche Zeitschrift (seit
1876). Die kirchenhistorischen Fachzeitschriften in der Schweiz sind heute
den neueren Fragestellungen verpflichtet, nämlich in Freiburg die «Zeitschrift
für Schweizerische Kirchengeschichte» (seit 1907), in Zürich
die «Zwingliana» (seit 1974) und in Lugano der «Bollettino
dell' Associazione per la storia del movimento cattolico nel Ticino»
(seit 1982).
Die internationale Vernetzung der Kirchengeschichte über Sprachgrenzen
und Kontinente hinweg ist zurzeit nur vereinzelt gewährleistet. «Angesichts
der Tatsache, dass zu den wesentlichen Charakteristika des Katholizismus
seine Internationalität (urbi et orbi) gehört, ist man nicht selten
erstaunt, wie exklusiv nationale Territorien beackert werden.»<11>
Dipl. theol. Brigitte Glur-Schüpfer ist Assistentin für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universitären Hochschule Luzern.
1 Otto Weiss, Religiöse Geschichte oder Kirchengeschichte? Zu neuen Ansätzen in der deutschen Kirchengeschichtsschreibung und Katholizismusforschung Ein Forschungsbericht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 17 (1998) 289312, hier 297.
2 Ebd. 312.
3 Kurt Nowak, Allgemeine Zeitgeschichte und kirchliche Zeitgeschichte. Überlegungen zur Integration historiographischer Teilmilieus, in: Anselm Doering-Manteuffel/Kurt Nowak (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (= Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte 8), Stuttgart-Berlin-Köln 1996, 6078, hier 60.
4 Albrecht Beutel, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997) 100101.
5 Anne Jensen, Gottes selbstbewusste Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum, Freiburg i. Br. 1992.
6 Ute Gause, Geschlecht als historische Kategorie. Was leistet eine feministische Perspektive für die Kirchengeschichte? Ein Diskussionsbeitrag, in: Anselm Doering-Mateuffel/Kurt Nowak, (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (= Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte 8), Stuttgart-Berlin-Köln 1996, 164179, hier 177.
7 Hedwig Meyer-Wilmes, Zwischen lila und lavendel. Schritte feministischer Theologie, Regensburg 1996, 54.
8 Lukas Vischer/Lukas Schenker/Rudolf Dellsperger (Hrsg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Freiburg-Basel 1994; Histoire du christianisme en Suisse. Une perspective oecuménique. Sous la direction de Lukas Vischer, Lukas Schenker et Rudolf Dellsperger, et Olivier Fatio pour l'édition française, Genève-Fribourg 1995.
9 Christoph Markschies, Arbeitsbuch Kirchengeschichte (= Uni-Taschenbücher 1857), Tübingen 1995.
10 Herbert Gutschera/Joachim Maier/Jörg Thierfelder, Kirchengeschichte-ökumenisch (Überarbeitete Studienausgabe), Mainz 1995.
11 Peter Hersche, Ein Streifzug durch die internationale kirchengeschichtliche Zeitschriftenlandschaft, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 90 (1996) 213227, hier 224.