26-27/1999

INHALT

Theologie in Luzern

Kirchengeschichte: Theologie mit Sinn für die Zeit

von Markus Ries

 

In der heutigen Form ist die Kirchengeschichte mit ihrem Platz im theologischen Fächerkanon ein Kind von Konfessionalisierung und Aufklärung. Die Methode ist jene der Allgemeingeschichte: Im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung untersucht jemand schriftliche, mündliche, archäologische oder kunstgeschichtliche Quellen, analysiert und interpretiert sie, um dann das Ergebnis kritisch darzustellen.

Geschichte oder Theologie?

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam die Frage ins Gespräch, ob Kirchengeschichte Teil der Theologie oder Teil der Geschichte sei. Historikerinnen und Historiker akzeptierten zwar die Beschäftigung mit geistlichen Institutionen und Themen des religiösen Lebens. Theologische Ansprüche an diese Arbeit jedoch lehnten sie ab: Wer die Kirche «heilsgeschichtlich» verstehe, ihr eine überzeitliche Wirklichkeit zuspreche, ja gar mit der Anwesenheit und dem Wirken Gottes in der Welt rechne, könne sich in einem wissenschaftlichen Kontext nicht verständlich machen. Unter Bezugnahme auf ein bestimmtes religiöses Bekenntnis getroffene Aussagen beruhten auf transzendenten Voraussetzungen und seien deshalb nicht allgemein nachprüfbar. Geschichte als Wissenschaft könne nur mit innerweltlichen Ursachen rechnen, der Wille Gottes sei keine historische Kategorie.
In unserer Zeit stellt sich dieses Problem anders dar. Möglicherweise taugt für die Diskussion zwar noch das gleiche Geschichtsverständnis, auch wenn mittlerweile anerkannt ist, dass für historische Forschung nicht nur intern begründbare Werturteile eine Rolle spielen. Für (wissenschaftliche) Theologie hingegen ist ein deutlich veränderter Begriff in Anschlag zu nehmen. Denn dass Glaubenswahrheit den Menschen nur von aussen her entgegenkomme und von ihnen angenommen werde als fern aller Orte und Zeiten unabänderlich «deponiert», gehörte zum neuscholastischen Denksystem. Dieses ist aber nicht mehr universale Norm für «die» Theologie. Inzwischen legt theologische Reflexion vielmehr mit allem Nachdruck Wert auf zeitliche und lokale Kontexte ­ Glaube hat mit Gegebenem und mit Erfahrung zu tun. Ist von Transzendenz, Offenbarung und erst recht von Kirche die Rede, dann steht eines sicher vor Augen: Theologische Sucharbeit wird nicht auf Glaubenswahrheiten an sich treffen, sondern sie wird immer Menschen begegnen, die dann und dort ihren Glauben so oder anders bezeugt, gemeinsam bekannt und praktisch gelebt haben. Und auch diese Menschen standen der Wahrheit nicht als passiv Empfangende gegenüber, sondern sie selbst wurden als Glaubende Teil davon. Die Kirche als Institution und die Kirche als Geheimnis sind weder fein säuberlich zu trennen noch zu identifizieren. Eine scharfe Grenzziehung zwischen «historisch» und «heilsgeschichtlich» ist deshalb nicht mehr möglich. Sache der Kirchengeschichte ist es, Kontexte nach Verschiedenheit der Zeiten zu beschreiben. Weil sie mit historisch-wissenschaftlicher Methode arbeitet, ist die enge Verbindung und der Austausch mit der allgemeinen Geschichte eine Selbstverständlichkeit; weil sie zur theologischen Forschung im heutigen Sinne beiträgt, kann sie sich als theologische Disziplin verstehen.

Historischer Beitrag

Kirchengeschichtliche Arbeit leistet einen grösseren Beitrag zum Ganzen der Theologie, seit sich in den vergangenen Jahrzehnten ihr Blickwinkel erweitert hat. War ihr Gegenstand traditionell die (meist konfessionell einseitig betrachtete) Geschichte der «Institution Kirche», so öffnete sie sich seit den sechziger Jahren neuen Arbeitsfeldern: Nach dem Vorbild der allgemeinen Geschichtsschreibung nahm sie sich sozial-, gesellschafts- und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen an. Das Interesse erweiterte sich von kirchlichen Einrichtungen, Persönlichkeiten und Ereignissen hin zur Religiosität und zum religiös motivierten Handeln christlich glaubender Menschen, zu ihren spezifischen Mentalitäten und zum Einfluss der Religion auf die soziale Wirklichkeit. Standen einst Bischöfe und Päpste, Klöster und kirchliche Vereine allein im Mittelpunkt, so richtet sich heute das Augenmerk auch auf die Glaubenden insgesamt: Wie wurden sie religiös erzogen und sozialisiert, wie bestimmte ihr Glaube das Verhalten als einzelne und als Gemeinschaft, mit welchen Symbolen verständigten sie sich innerhalb und ausserhalb der Liturgie, wie nahmen sie sich selbst und andere wahr, welches waren die Verhältnisse der sozialen Gruppen und der Geschlechter zueinander, wie waren die Eliten zusammengesetzt? Wer die Kirche als «kommunikative Einheit der Glaubenden» (Medard Kehl) versteht und es akzeptiert, dass diese Glaubenden auch geschichtliche Wesen sind, wird die Relevanz kirchenhistorischer Arbeit für die Theologie leicht erkennen; wer sich in den anderen theologischen Disziplinen umschaut, kann sich darin bestätigt finden.
Die Ausrichtung auf neue Fragestellungen war in der allgemeinen Geschichte inspiriert von französischen Schulen, ihnen folgten später auch Historikerinnen und Historiker in anderen Ländern. Für die Kirchengeschichte in der Schweiz hat die Akzentverschiebung seit 1980 einen bedeutenden Stellenwert, und die hier geleistete Arbeit findet entsprechende Resonanz: Urs Altermatts Buch über «Katholizismus und Moderne» (1989) erfuhr breite Beachtung und wurde ins Französische, Italienische, Polnische und Ungarische übersetzt; auch Arbeiten zur religiösen Geschichte der Menschen in unserem Land wie etwa die neue St. Galler Bistumsgeschichte von Franz Xaver Bischof und Cornel Dora (1997) oder die zahlreichen vergleichenden Studien von Victor Conzemius machten diese wissenschaftliche Orientierung in einer Weise fruchtbar, die als beispielhaft zu gelten hat.

Beziehung zur Seelsorge?

Die Glaubenden in ihrer alltäglichen Praxis und die Seelsorgenden in ihrer vielfältigen Arbeit werden aus Kirchengeschichte kaum direkten Profit schlagen. Kenntnisse, die über das Hier und Heute und über die naheliegenden Zusammenhänge hinausreichen, sind meist in der Verkündigungsarbeit nicht unmittelbar «nutzbringend» zu verwenden. Im Gegenteil: Auch ohne vertieftes Wissen und ohne Sinn für Entwicklung und Veränderung kann man sich offenbar in unserer Kirchenlandschaft durchaus erfolgreich bewegen. Mitunter ist zu hören, Kirchengeschichte leide seit dem Konzil unter Nachfragemangel. Das liegt vielleicht daran, dass historische Bildung auch beunruhigt und Probleme ins Bewusstsein hebt, die ohne Nachdenken diskret verborgen blieben.
Kirchliches Handeln allerdings, das nicht zum Selbstzweck verkommen will, ist auf Gesellschaften und auf die Welt bezogen. Von jenen, die Impulse geben und Richtungen weisen, ist eine Verständnisniveau zu fordern, das dem Vergleich mit entsprechenden weltlichen Umfeldern standhält. Wer sich diesem Anspruch unkritisch verschliesst, muss es mit verantworten, wenn das kirchliche Leben in der Gesellschaft seinen Platz verliert und nur mehr als Ausdruck eines rückständig-magischen Weltverständnisses wahrgenommen wird. Der Dienst am Evangelium verlangt auch kulturelle Dialogfähigkeit, und zu dieser gehört ein bewusster Umgang mit individuellen und kollektiven Erfahrungen allemal. Ziel des Kirchengeschichtsstudiums ist deshalb ein zeitlich vertieftes Blickfeld. Seelsorge bedarf der Weite des Herzens und der Weite des Horizontes.

 

Markus Ries ist ordentlicher Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universitären Hochschule Luzern.


Kirchengeschichte heute

von Brigitte Glur-Schüpfer

 

Seit Beginn der 1980er Jahre trat die Bedeutung der Konfessionen in den Mittelpunkt. Mit den Begriffen Modernisierung und Milieu wurden zwei gesellschaftsgeschichtliche Modelle in ihrer Anwendung auf den Katholizismus diskutiert.<1> Weit stärker als das Modernisierungsmodell hat der Milieubegriff die Katholizismusforschung befruchtet. Die definitorische Festlegung des katholischen Milieus ist dabei immer eine historische Konstruktion, die der Wirklichkeit übergestülpt wird. Im Modernisierungsmodell und in der Milieutheorie erscheinen die Katholiken als eine mehr oder weniger geschlossene gesellschaftliche Gruppe neben anderen. «Dass ein solcher Katholizismusbegriff eine Verengung nicht nur des ursprünglich qualitativen Begriffs des Katholischen, sondern der tatsächlichen Fakten bedeutet, wird nicht gesehen.»<2>

Aktuelle Fragen

Die Sozialhistoriker haben ein zunehmendes Interesse an konfessionellen Themen, zum Beispiel den katholischen Frömmigkeitsformen und ihrer Funktion innerhalb der Gesellschaft. Es ist ebenfalls festzustellen, dass vermehrt konfessionsübergreifend religionsgeschichtliche Untersuchungen an die Seite der konfessionellen Kirchengeschichte treten. «Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehen sich die allgemeine Zeitgeschichtsschreibung sowie die Zeitgeschichtsschreibung der Protestanten und Katholiken vor der Herausforderung, die Tugend der thematischen und methodischen Integrationsfähigkeit zu bewähren.»<3> Diese gegenseitige Wahrnehmung und Erweiterung des Blickfeldes ist für die allgemeine Zeitgeschichtsschreibung und die Kirchengeschichte eine Bereicherung. Albrecht Beutel zeigt auf, dass der kritische Umgang mit Kirchengeschichte zu theologischer Bescheidenheit mahnt, zu historischer Bildung verhilft und zu christlichem Handeln befreit. «Aus der Einsicht in die historische Bedingtheit der eigenen theologischen Situation kann gegenüber anderen theologischen Situationen Respekt und Interesse erwachsen.»<4>
In den letzten Jahrzehnten wurden in der Kirchengeschichte auch frauengeschichtliche Themen entdeckt. Bahnbrechend war zum Beispiel die umfassende Studie «Gottes selbstbewusste Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum?» von Anne Jensen.<5> Gegenwärtig erlebt die Erforschung mittelalterlicher Mystikerinnen geradezu einen Boom.
Frauen werden in die Geschichte zurückgeschrieben beziehungsweise integriert und so eine männlich einseitige Sicht von Geschichte korrigiert. Dieser kompensatorische Ansatz versucht, weibliche Beiträge zur Geschichte sichtbar zu machen und Ðberühmte Frauenð der Geschichte zu addieren. Grundsätzlich wird zuwenig aufgezeigt, wie es dazu kam, dass die Frauen in der Kirchengeschichte bis vor kurzem mehrheitlich unsichtbar geblieben sind. Geschlechtspezifische Besonderheiten in der Geschichte der Frauen heben sich erst im Vergleich mit der gleichzeitigen Situation der Männer ab. «Das Ziel solcher Untersuchungen zur Geschlechtergeschichte sind Kenntnisse über die Bedingtheiten der Geschlechtsidentität und ihre Verknüpfung mit kirchlichen und theologischen Kontexten.»<6> Hedwig Meyer-Wilmes fordert in diesem Zusammenhang eine feministisch theologische Hermeneutik, das heisst «eine Interpretationspraxis, die Einschluss bzw. Ausschluss von Frauen aufgrund ihres Geschlechtes in Bildern, Texten, kirchliche Praxis und Geschichte des Christentums aufzeigt und gegebenenfalls überwinden möchte».<7>

Orientierungsmöglichkeiten

Als Informationsquelle für die Geschichte der Kirche und des christlichen Glaubens in der Schweiz ist das reichhaltig illustrierte Werk «Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz» zu empfehlen, das auch in französischer Sprache erschienen ist.<8> Einen guten Einstieg in die Arbeitsweise der Kirchengeschichte bietet das «Arbeitsbuch Kirchengeschichte» von Christoph Markschies.<9> Es handelt sich um eine ausführliche Darstellung der historischen Arbeitstechniken mit wertvollen Hinweisen auf Quellen und deren Erschliessung. Eine übersichtliche Einführungslektüre in die Geschichte der Kirchen aus ökumenischem Blickwinkel ist die Studienausgabe von «Kirchengeschichte-ökumenisch».<10>

Vernetzung

Im deutschsprachigen Raum findet ein guter Austausch in der Forschung statt. Die in Deutschland erscheinende «Zeitschrift für Kirchengeschichte» ist die älteste allgemeine kirchengeschichtliche Zeitschrift (seit 1876). Die kirchenhistorischen Fachzeitschriften in der Schweiz sind heute den neueren Fragestellungen verpflichtet, nämlich in Freiburg die «Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte» (seit 1907), in Zürich die «Zwingliana» (seit 1974) und in Lugano der «Bollettino dell' Associazione per la storia del movimento cattolico nel Ticino» (seit 1982).
Die internationale Vernetzung der Kirchengeschichte über Sprachgrenzen und Kontinente hinweg ist zurzeit nur vereinzelt gewährleistet. «Angesichts der Tatsache, dass zu den wesentlichen Charakteristika des Katholizismus seine Internationalität (urbi et orbi) gehört, ist man nicht selten erstaunt, wie exklusiv nationale Territorien beackert werden.»<11>

 

Dipl. theol. Brigitte Glur-Schüpfer ist Assistentin für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universitären Hochschule Luzern.


Anmerkungen

1 Otto Weiss, Religiöse Geschichte oder Kirchengeschichte? Zu neuen Ansätzen in der deutschen Kirchengeschichtsschreibung und Katholizismusforschung ­ Ein Forschungsbericht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 17 (1998) 289­312, hier 297.

2 Ebd. 312.

3 Kurt Nowak, Allgemeine Zeitgeschichte und kirchliche Zeitgeschichte. Überlegungen zur Integration historiographischer Teilmilieus, in: Anselm Doering-Manteuffel/Kurt Nowak (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (= Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte 8), Stuttgart-Berlin-Köln 1996, 60­78, hier 60.

4 Albrecht Beutel, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997) 100­101.

5 Anne Jensen, Gottes selbstbewusste Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum, Freiburg i. Br. 1992.

6 Ute Gause, Geschlecht als historische Kategorie. Was leistet eine feministische Perspektive für die Kirchengeschichte? Ein Diskussionsbeitrag, in: Anselm Doering-Mateuffel/Kurt Nowak, (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (= Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte 8), Stuttgart-Berlin-Köln 1996, 164­179, hier 177.

7 Hedwig Meyer-Wilmes, Zwischen lila und lavendel. Schritte feministischer Theologie, Regensburg 1996, 54.

8 Lukas Vischer/Lukas Schenker/Rudolf Dellsperger (Hrsg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Freiburg-Basel 1994; Histoire du christianisme en Suisse. Une perspective oecuménique. Sous la direction de Lukas Vischer, Lukas Schenker et Rudolf Dellsperger, et Olivier Fatio pour l'édition française, Genève-Fribourg 1995.

9 Christoph Markschies, Arbeitsbuch Kirchengeschichte (= Uni-Taschenbücher 1857), Tübingen 1995.

10 Herbert Gutschera/Joachim Maier/Jörg Thierfelder, Kirchengeschichte-ökumenisch (Überarbeitete Studienausgabe), Mainz 1995.

11 Peter Hersche, Ein Streifzug durch die internationale kirchengeschichtliche Zeitschriftenlandschaft, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 90 (1996) 213­227, hier 224.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 1999