26-27/1999

INHALT

Lesejahr A

Wortwirksamkeit

von Thomas Staubli

 

Bibel: «Ite, missa est!»

Dieser Titel für die Perikope stammt vom Münchner Alttestamentler Klaus Baltzer, der in Jes 40­55 (Deuterojesaja) die Vorlage für ein «Liturgisches Drama» sieht, das in nachexilischer Zeit in Jerusalem entstanden und dort, wohl aber auch in der babylonischen und ägyptischen Gola, aufgeführt worden sei, gleichsam als Werbestück der damaligen Jewish Agency für die Rückkehr der Exilierten nach Juda oder doch wenigstens für eine Wallfahrt nach Jerusalem. Das Thema wird in sechs Akten entfaltet, die jeweils durch einen Hymnus des Chores beendet werden. Der Aufbau gleicht demnach den attischen Dramen. Allerdings ist der geschriebene Text nur eine Art Libretto für den Festleiter. Mündliche Stoffe wurden in die kunstvollen Redeteile eingestreut. Sie machten die Aufführung für ein weitgehend nicht-literates Publikum zu einem Happening.
Das Finale des Dramas (Epilog) bündelt nochmals dessen zentrale Themen: Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Messias, Zion, Israel und den Völkern in einem ersten Teil (55,1­5; vgl. SKZ 18/1998), die Umkehr zu JHWH, JHWHs Erbarmen, seine Wirkmächtigkeit und Zuverlässigkeit, den neuen Exodus und die Unvergänglichkeit des göttlichen Namens in einem zweiten Teil (55,6­13). Es bildet zusammen mit dem Anfang (Kap. 40; Prolog) einen Rahmen um das ganze Stück und mündet in einen letzten enthusiastischen Aufruf ans Publikum, Gott zu suchen und ihm freudig entgegenzugehen.
«Sucht JHWH!» (JHWH dirschu; 55,6) meint daher in diesem Zusammenhang nicht bloss eine spirituelle Hinwendung zu Gott, sondern ein Hinaufziehen bzw. Pilgern nach Jerusalem (vgl. Dtn 12; Am 5,4­15). Schon bei Jeremia (Jer 29,10­14) wird dieser Aufruf mit einer Bekräftigung der Zuverlässigkeit des Wortes Gottes verbunden. Welche Bedeutung dieser Punkt für die Heimkehrer/Heimkehrerinnen besass, kann man sich vorstellen, wenn man bedenkt, dass es keine Fernseher gab, die über die Verhältnisse im Gelobten Land berichteten. Vielmehr kursierten wohl allerhand widersprüchliche, nicht unbedingt Vertrauen erweckende Gerüchte. Aber auch das Schuldbewusstsein gegenüber JHWH konnte ein Hinderungsgrund sein, hinaufzuziehen nach Jerusalem, war doch das Bekenntnis wirtschaftlicher und sozialer Rechtschaffenheit Bedingung für den Eintritt ins Heiligtum (vgl. Ps 15; 24; Jes 33). Deshalb verweist der Sprecher eigens nochmals auf die grosse Versöhnungsbereitschaft «unseres Gottes» (55,7). Diese Ansicht mochte wohl priesterlichem Legalismus widersprechen, weshalb sie durch den folgenden Vers (55,8) unterstrichen wird. Er betont, dass Gottes Gedanken nicht denen der Menschen entsprechen, ja von diesen mitunter als verworren angesehen werden (Ez 18,3­32). Die göttliche Souveränität (55,9), die, um einen Neuanfang zu ermöglichen, sogar altehrwürdige Regeln der Religion ausser Kraft setzen kann, wird mit einem berühmt gewordenen Parallelismus (55,10f.) eingeschärft, der tief in der Ökologie der Levante wurzelt und in seiner Mythologie über Jahrtausende hinweg entfaltet wurde. Die Wirksamkeit des göttlichen Wortes entspricht demnach dem Regen (vgl. SKZ 20­21/1999) bzw. Schnee, der die Erde fruchtbringende Pflanzen «gebären lässt» (holidah). Das Wort (vgl. Kasten) ist der göttliche Segen, der die Saat aufgehen lässt. Es wird im Drama zu einer Art göttlichem Boten personifiziert, der szenisch darstellbar war. Sein Attribut könnte eine Schriftrolle gewesen sein (vgl. Jer 36,1­2; Ez 3,1­3; Sach 5,2; Neh 8,1). Mit einem Entlassungswunsch (55,12) klingt das liturgische Spiel aus: «Fürwahr, mit Freude (simchah) sollt ihr ausziehen,/ und in Frieden (schalom) sollt ihr geleitet werden.» Berge, Hügel und Bäume ­ im Drama möglicherweise durch Gruppen des Chores vergegenwärtigt ­ applaudieren. Die grossartige Vegetation wird dem obigen Parallelismus entsprechend als Zeichen für JHWHs Wirksamkeit aufgefasst (55,13). Die Natur wird damit ähnlich wie in kirchlichen Chorälen einbezogen in den Ruhm Gottes im Kult, der die Form einer Prozession nach Zion angenommen hat. Entsprechend den Handschriften von Qumran ist der Schluss allerdings gegenüber EÜ wohl leicht zu ändern: «Das wird geschehen für JHWH zum Zeichen,/ zum ewigen Namen, nicht wird er getilgt werden.» Die Nicht-Tilgung passt besser zum Namen als zum Zeichen, denn die Namenstilgung als Teil der damnatio memoriae ist ein im Alten Orient verbreitetes Phänomen (vgl. auch Jes 48,19; 56,5; Jos 7,9; Rut 4,10; 1 Sam 20,16; Zef 1,4; Sach 13,2). Namen auf Monumenten können ausgemeisselt, Gräber ausgeraubt und Dynastien ausgerottet werden ­ das Spriessen der Pflanzen wird aber auf ewige Zeiten an die Wundertaten JHWHs erinnern.

Kirche: Sämann wartet auf Regen

Dass die Leseordnung den Jesajatext dem Sämannsgleichnis (Mt 13,1­23) beigesellt, könnte Anlass für Missverständnisse sein, denn es handelt sich bei Jes weder um ein Gleichnis, noch geht es um das Kommen des Gottesreiches oder um menschliche Verhaltensweisen. Ist hier vom Regen die Rede, so dort vom Säen. Einzig das Wachsen der Frucht findet sich in beiden Texten, darf aber nicht Ausgangspunkt willkürlicher Assoziation sein. Aussage und Stellung des ersttestamentlichen Textes ist zu gewichtig, als dass er en passant rhetorisch oder christlich vereinnahmt werden darf.

Welt: Beruhigend oder unverständlich?

Angesichts der Aporien, in die sich der fortschrittsgläubige Teil der Menschheit hineinwirtschaftet, mag die Gottesvergegenwärtigung bei Deuterojesaja etwas Beruhigendes haben, den technokratischen Selbsterlösungsvisionen ist sie allerdings fremd und unverständlich.

 

Literaturhinweis: Klaus Baltzer, Deutero-Jesaja (KAT 10,2), Gütersloh 1999.


Das Wort (hebr. dabar)

Die Wirkmächtigkeit, die in Ägypten und im Alten Orient dem Wort beigemessen wird, ist enorm, wie etwa der folgende Spruch aus der Lehre Merikares zeigt: «Sei gewandt in Reden, damit du die Oberhand behältst, denn die Zunge ist die Macht des Mannes, Reden erfolgreicher als jedes Kämpfen.» Das Wort wird als Schöpfungskraft verstanden (vgl. Ps 33,6; Weish 9,1). So im Denkmal memphitischer Theologie, wonach der Gott Ptah die Elemente erschafft, indem er sie ins Dasein befiehlt (vgl. Gen 1!). Nach den Kosmogonien von Sais kommt diese Rolle der Göttin Neith zu. Die Geschöpfe werden folglich als «Gottesworte» bezeichnet. Jede Namensgebung ist ein Schöpfungsakt, und Wortspiele werden keineswegs bloss als komisch aufgefasst. Nach gewissen ägyptischen Schöpfungsberichten sind Hu («Götterspruch») und Sia («Göttereinsicht») die Erstgeborenen des Schöpfergottes Atum. Noch bedeutender war Hike, die Personifikation der zauberhaften Schöpfungskraft im Wort. «Ich bin der, den der Einherr schuf, ehe noch die Zweiheit in diesem Land entstand, als er sein eines Auge aussandte und allein mit dem war, was aus seinem Munde hervorkam» Ähnliches wird in Spr 8,22ff. von chokmah, der göttlichen Weisheit, gesagt. Sia und Hu, Letzterer als Sprecher am Bug, sind wichtige Begleiter der Sonnenbarke, die dafür sorgen, dass sie die Nachtfahrt gut übersteht. Anders ausgedrückt: Worte, Befehle oder (moderne) Kommunikationsmittel waren ebenso eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Schifffahrt, den Sonnenlauf und eine persönliche Auferstehung. Über spezielle Wortgewalt verfügten Könige, als deren Diener Hu und Sia angesehen werden konnten, und Orakelpriester, also Künder göttlicher Ratschlüsse. Mesopotamische Vorstellungen sind ganz ähnlich, allerdings im Ausdruck den biblischen Texten viel näher, wie der Ausschnitt eines Hymnus für den Mond- und Rechtsgott Sin zeigt, in dem sowohl Natur als auch Recht mit der Wortschöpfungskraft Gottes erklärt wird: «Zieht dein Wort droben wie ein Wind dahin, macht es Weide und Tränke üppig,/ Lässt dein Wort sich auf der Erde nieder, wird grünes Kraut erzeugt./ Dein Wort macht Stall und Hürde fett, breitet die Lebewesen aus,/ Dein Wort lässt Recht und Gerechtigkeit entstehen, so dass die Menschen Rechtheit reden.»


Starke und schonende Erziehung

von Thomas Staubli

 

Bibel: Die menschenfreundliche Pädagogik Gottes

Das grosse Geheimnis des jüdischen Volkes ist seine Andersheit unter den Völkern, theologisch gesprochen, seine Erwählung durch Gott. Was den Judenfeinden ein Ärgernis und Anlass zu antijudaistischen Mythen und Hetzschriften war, hat die jüdischen Gelehrten, speziell in einer ihnen feindlich gesinnten Umgebung, zu tiefsinnigen Meditationen über die Art und Weise, wie sich Gott in der Geschichte zeigt, veranlasst. Das Buch der Weisheit versucht das in einer Sprache und in Kategorien, die für Nichtjüdinnen und Nichtjuden verständlich und akzeptabel waren (vgl. SKZ 35/1998).
Das Motto des Weisheitsbuches, «liebt die Gerechtigkeit», wird im dritten und längsten Buchteil (11,2­19,22; vgl. SKZ 31­32/1998) in Gestalt einer hymnischen Darstellung des Exodus propagiert. Es soll gezeigt werden, wie Gott unermüdlich die Gerechten durch gnädige Natur segnete, während er die uneinsichtigen Frevler mit den zerstörerischen Launen derselben Natur bestrafte. Zwei Leitprinzipien werden der Auszugsgeschichte vorangestellt. Das erste besagt, dass dieselben Naturlemente als Strafen oder als Wohltaten wirken können, je nach Verhalten der Menschen (11,5), das zweite, dass die Art der Bestrafung der Frevler in strikter Befolgung des Tun-Ergehens-Prinzips der Art ihrer Sünde entspricht: «Wodurch jemand sündigt, damit wird er bestraft» (11,16). Daraus ergeben sich zwei Probleme, die grundsätzliche Vorüberlegungen erfordern: 1. Wie verträgt sich das Strafen mit dem Image eines menschenfreundlichen Gottes? 2. Wie kommt es, dass Menschen sich dem wahren Gott verschliessen? Dem ersten Problem widmet sich die Sonntagslesung.
Eine thesenartige Antwort auf die Frage wird dem Abschnitt vorangestellt (12,2): Das Ziel der göttlichen Pädagogik durch Züchtigungen ist Umkehr. Die Aussage wird am Beispiel der früheren Bewohner des Heiligen Landes, gemeint sind natürlich die Kanaanäer, illustriert. Wie die Wortwahl bei deren Charakterisierung zeigt, haben die Verfasser/Verfasserinnen dabei aber die in Alexandrien verbreiteten Mysterienreligionen vor Augen. Das Vorbild der deuteronomistischen Polemik gegen Fremdkulte und Magie (Dtn 12,31; 18,10) verhinderte eine differenzierte Kritik an diesen Religionen, denen schwarzweissmalend alle Greueltaten nachgesagt werden, die zum Repertoire gehässiger Religionspolemik gehören. Auch dort wo der alexandrinische Theologe Philo klug argumentiert, ist der Dualismus tonangebend: «Denn wenn diese (Mysterienreligionen wirklich) schön und förderlich sind, warum, ihr Eingeweihten, schliesst ihr euch zusammen in tiefer Finsternis ab und nützet so nur drei oder vier Menschen, statt allen zu helfen, indem ihr auf offenem Markte eure nützlichen Lehren vortragt, damit allen die freie Teilnahme an einem besseren und glücklicheren Dasein ermöglicht würde? Die Tugend darf man nämlich nicht missgünstig vorenthalten In Wahrheit kommt es aber oft vor, dass von den guten Menschen keiner sich in die Mysterien einweihen lässt, dafür aber bisweilen Räuber, Seeräuber und Haufen von verworfenen, sittenlosen Frauen, wofern sie nur den Einführenden und den Hierophanten Geld bezahlen» (Über die Einzelgesetze I,320.323). Aber selbst so hassenswerte, ja seit langem verfluchte (12,11; vgl. Gen 9,25) Menschen ­ fährt die Argumentation fort ­ wurden von Gott in seiner unendlichen Geduld und Menschenfreundlichkeit nicht mit der ihnen gebührenden Härte, sondern nur «nach und nach» (katà brachy) bestraft, damit sie Zeit zur Umkehr hatten. Illustriert wird das anhand der Wespen (EÜ: Hornissen), die als Vortrupp den Israeliten vorausgeschickt wurden (Ex 23,27­33; Dtn 7,20­24). Auch diese Argumentation findet sich ähnlich bei Philo: «Gott wollte die Bewohner des Landes mehr warnen als verderben; denn hätte er sie völlig vernichten wollen, so hätte er nicht Tiere gewissermassen als Helfer für seine Strafen gebraucht, sondern die sonst von Gott verhängten Übel, den Hunger und die Pest» (Leben Moses I,110). Im Zentrum des Abschnittes (12,12) wird Gott mit vier rhetorischen Fragen als unanklagbarer Richter, als Rechtsinstanz, die keine Rechenschaft schuldig ist, die aber ihre unumschränkte Macht nicht missbraucht, weil sie vollkommen gerecht ist, dargestellt. Dem starken Gott, der seine Geschöpfe nicht willkürlicher Gewalt preisgibt, sondern Nachsicht übt, entspricht das spätantike Herrscherbild (vgl. Kasten). Nach 12,19ff. sollte sich aber das ganze Volk Gottes darin ein Vorbild nehmen, umso mehr, als es im Bewusstsein lebte, durch ihren Gott noch mehr Milde erfahren zu haben als die Völker ringsum und damit noch mehr Gelegenheiten zur Umkehr (metánoia).

Kirche: Strafen können die Falschen treffen

Mit dem Gleichnis vom Unkraut (Mt 13,24­43) steuert Jesus einen weiteren bedenkenswerten Gedanken zum Thema «Umgang mit dem Feind» bei: Die Bestrafung des Feindes könnte auch die Kirche der Armen in Mitleidenschaft ziehen. Er vertraut darauf, dass der Zeitpunkt eines den Taten entsprechenden Urteils so oder so kommt.

Welt: Wie lernen die Völker Gerechtigkeit?

Die Grossmächte massen sich an, wie Götter im Namen der Gerechtigkeit (des Marktes und der Demokratie) ins Weltgeschehen einzugreifen. Doch weder am Golf, noch in Jugoslawien entsprachen ihre pädagogischen Mittel den oben skizzierten, da sie mit Übermacht zuschlug, bevor ein Prozess der Umkehr einsetzen konnte. Damit wird sie zu einem Vorbild, das Frieden und Gerechtigkeit stärker in Frage stellt als festigt, weil sie den Feind nicht mehr menschenwürdig behandelt.

 

Literaturhinweis: Armin Schmitt, Alttestamentliche Traditionen in der Sicht einer neuen Zeit. Dargestellt am Buch der Weisheit: Communio Sanctorum (FS P.-W. Scheele) Würzburg 1988,34­52.


Menschenliebe (gr. philanthropia)

Hellenistische Herrscherspiegel verlangen vom König die Nachahmung Gottes zur Realisierung einer gerechten Herrschaft. Dazu gehörte insbesondere eine in den göttlichen Qualitäten Grossmut, Huld und Gerechtigkeit wurzelnde Menschenliebe, wie sie auch in der juristischen Theorie und Praxis der Ptolemäer (griechische Herrscher in Ägypten im 3. bis 1. Jh. v. Chr.) teilweise zum Zuge kam: Eroberungskriege wurden in Frage gestellt, der Diplomatie und Vertragskunst wurde der Vorzug gegeben, es gab gerichtliche Berufungsinstanzen, die Strafen waren ­ im Gegensatz zu den späteren römischen ­ durch Milde gekennzeichnet. Ähnlich wie heute die Demokratie in aller Leute Munde ist, erfreute sich damals die Philanthropie der Herrscher grosser Beliebtheit. Götter und Helden wie der Feuerbringer Prometheus, der Götterbote Hermes oder Eros hatten dabei Vorbildfunktion. Die Liebe des Letzteren vermochte sogar die Zornesblitze des Zeus zu brechen. Historische Gestalten wie der Perserkönig Kyros, Sokrates oder der Spartanerkönig Agesilaos II. galten als Menschen, die in exemplarischer Weise theophilos und philanthropos waren. Bei Aristoteles und Stoikern bildete sich schliesslich die Lehre einer umfassenden Menschheitsfamilie heraus, verbunden durch die gemeinsame Natur. In hellenistischer Zeit wurde deshalb ­ ganz im Gegensatz zur römischen Ära ­ auch von Soldaten kaum dem Kriegsgott Ares geopfert, sondern Aphrodite und Eros.


© Schweizerische Kirchenzeitung - 1999