Die Missbrauchs-Ökumene ist kein Grund für katholische Schadenfreude

Auch in der evangelischen Kirche gibt es Missbrauch in erschütterndem Ausmass. Dies zeigt eine heute veröffentlichte Studie. Kirchen müssen ihre «täterschützenden Strukturen» endlich anpacken, schreibt Annalena Müller. «Nur so können wir bewahren, was bewahrenswert ist: die christliche Lehre von Liebe und Mitmenschlichkeit».

Annalena Müller

Wer die Präsentation der evangelischen Missbrauchsstudie aus der Schweiz verfolgte, dürfte ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt haben. Viele der Beobachtungen, welche die Forschenden der Uni Zürich im September tätigten, wiederholten sich heute in Hannover.

Verantwortungsdiffusion und reaktive Aufarbeitung

Die systemischen Probleme, die in der katholischen Kirche Missbrauch und Vertuschung ermöglichen, gibt es auch in der evangelischen Kirche. Dazu gehört die systematische Verantwortungsdiffusion genauso wie die reaktive Missbrauchsaufarbeitung, die nur durch externen Druck stattfindet.

Auch in der evangelischen Kirche sind die Täter meist männlich, sie nehmen vielfach religiöse Autoritätspositionen ein oder nutzten den Zugang zu Schutzbefohlenen im Kontext von Betreuungseinrichtungen. Auch in Hannover sprachen die Forschenden heute «von der Spitze des Eisbergs». Diese Spitze beträgt in Deutschland laut Hochrechnung 9’355 Missbrauchsbetroffene und 3’497 Beschuldigte.

Hohe Zahlen

Die Zahlen scheinen mit denen der Schweiz vergleichbar, wo bisher 921 Betroffene und 510 Beschuldigte identifiziert wurden. Da Deutschland zehnmal mehr Einwohner hat als die Schweiz, sehen wir zwei durchaus vergleichbare Eisbergspitzen.

Das ist zuallererst erschütternd. Denn es geht hier nicht um Statistiken, sondern um Menschen. Menschen, die zum Teil unvorstellbares Leid erfahren haben und die jahre- und jahrzehntelang auf taube Ohren gestossen sind. Wo sie dieses Leid erfahren haben – in einem katholischen oder protestantischen Umfeld – ist dabei egal.

Vergleichbare Strukturen

Nicht egal sind die systemischen und strukturellen Gegebenheiten, die Missbrauch und dessen Vertuschung begünstigen. Wer glaubt, dass die evangelische Studie beweisen würde, dass Missbrauch kein kirchliches, sondern ein gesellschaftliches Problem sei, der denke nochmals nach.

Viele der Strukturen, die in der katholischen Kirche Missbrauch begünstigen, existieren auch in den protestantischen Schwesterkirchen. Dazu gehören:

In Anbetracht der Missbrauchs-Ökumene sollte man weder in neuerliche Verantwortungsdiffusion verfallen («bei denen ist es genauso schlimm»), noch in heimliche Schadenfreude («endlich sind die auch mal dran»). Die Haupterkenntnis der über 800-seitigen Studie betrifft die katholische wie die evangelische – und vermutlich auch die reformierte – Kirche.

Bischöfin Kirsten Fehrs hat diese Erkenntnis heute auf den Punkt gebracht: «Es ist klar, wir haben täterschützende Strukturen.» Dass es diese Strukturen hüben wie drüben gibt, mindert keineswegs die Dringlichkeit, mit der wir diese Strukturen anpacken und reformieren müssen. Nur so können wir bewahren, was bewahrenswert ist: die christliche Lehre von Liebe und Mitmenschlichkeit.

Korrektur: Die Zahlen basieren auf einer Hochrechnung der Forschenden. Wir haben das präzisiert. 26.01.2024, 14:58 (am)


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/die-missbrauchs-oekumene-ist-kein-grund-fuer-katholische-schadenfreude/