«Wer spürt das Reich Gottes noch nicht?»: Julia Enxing hinterfragt die Kirche

Julia Enxing ist Theologieprofessorin in Dresden – der «absoluten Diaspora», wie sie sagt. Sie freut sich, wenn ihr Funke überspringt. Mit dem Glauben ist sie erst als 16-Jährige konfrontiert worden – in den USA. Einblicke ins Leben der Herbert-Haag-Preisträgerin.

Regula Pfeifer

Eine zierliche Frau sitzt im sonst leeren Restaurant an diesem Sonntagmorgen. Ihr Blick geht auf das Luzerner Wahrzeichen, die Kapellbrücke. Dann wendet sie sich freundlich lächelnd der Ankommenden zu. Es ist Julia Enxing (40).

Die Dresdner Professorin für Systematische Theologie erhält an diesem Nachmittag den Herbert-Haag-Preis. Die gleichnamige Stiftung zeichnet jedes Jahr Menschen und Organisationen aus, die sich für «Freiheit in der Kirche» einsetzen. Ebenso ausgezeichnet wird die Redaktion «Feinschwarz.net», in der Enxing mitwirkt.

Themen mit Freiheit angehen

Inwiefern setzt sie sich für Freiheit in der Kirche ein, geht die Frage an die Theologin. «Ich versuche die Themen, die mich theologisch interessieren, mit Kreativität und Freiheit anzugehen», antwortet Julia Enxing – und spricht dabei so schnell, dass Notieren unmöglich ist.

Die deutsche Theologin und Philosophin beschäftigt sich mit Gerechtigkeit und dem Reich Gottes auf Erden. Dabei fragt sie sich: «Wer spürt das Reich Gottes noch nicht, wer die Gerechtigkeit noch nicht?»

Aktuell studiert Julia Enxing die Ausbeutung der Schöpfung und die Theologie der Tiere. Auch feministische und Gender-Themen sind bei ihr auf dem Radar. «Mich interessieren alle, die nach Freiheit streben und zwar die gleiche Würde, aber noch nicht die gleichen Rechte haben.»

Aufhören mit Marginalisierung

Die Kirche verschliesse sich noch vor vielem, sagt sie – und klappt beide Hände vor sich zu. Dabei müsse sie sich öffnen, fordert sie mit angenehmer Stimme. Vor allem müsse sie aufhören mit der Marginalisierung von Menschen – also etwa von Frauen oder behinderten, schwarzen oder homosexuellen Menschen. «Es geht um unser Verständnis von Menschsein überhaupt», ist sie überzeugt.

Und auch unser Kirchenverständnis müsse dringend überdacht werden. Das hat sie in ihrer 2017 veröffentlichten Habilitationsschrift über die Schuld der Kirche dargelegt. Diese habe sie begonnen, als die ersten Missbrauchsfälle bekannt wurden, erzählt Julia Enxing. Hinter den beiden Skandalen – der Gewalt durch Missbrauch und dem Schweigekartell – entdeckte sie eine weitere Problematik: «Die Kirche blendet aus, was nicht sein darf.»

«Was für ein Kirchenverständnis haben wir denn? Das einer unbefleckten, heiligen Institution?»

Julia Enxing

Da fragte sie sich: «Wieso das? Was für ein Kirchenverständnis haben wir denn? Das einer unbefleckten, heiligen Institution?» Das ist für Julia Enxing nicht nachvollziehbar. Denn die Kirche sei ja «die Gemeinschaft des Volkes – und da sind eben Menschen dabei, die gesündigt haben.»

Deshalb versteht die Professorin die Kirche als eine Institution, die «in der Spannung zwischen Heiligkeit und Sünde lebt, zwischen Himmel und Erde, zwischen angebrochen, aber noch nicht vollendet, zwischen unvollkommen und vollkommen».

Julia Enxing denkt und spricht schnell. Ihre Antworten kommen rasch. Manchmal beginnt sie an einem Punkt ihrer Argumentation, um dann zum entscheidenden Satz zu gelangen. Ihre Worte sind überlegt, aber niemals professoral überheblich. Oft stellt sie Fragen, besonders wenn sie Kritik anbringt.

Bischof Bode lobend erwähnt

«Mein Gott, ich schäme mich», sagt sie unvermittelt. Sie hat sich eben erinnert, dass sie in jener Schuld-Studie den Osnabrücker Bischof Bode als Musterbeispiel eines ehrlichen Kirchenmanns erwähnt hat. Dies, weil er als erster ein Schuldbekenntnis abgelegt hat. Und nun ist tags zuvor sein Rücktritt als Bischof bekannt geworden. Das anerkenne sie zwar, sagt sie. «Es kommt aber viel zu spät.»

Ihre Habilitationsschrift stiess einem deutschen Bischof auf. «Er äusserte sich besorgt, dass ich ein schlechtes Licht auf die Kirche werfen würde», sagt Julia Enxing. Dabei habe der Missbrauchsskandal das schlechte Licht geworfen, nicht sie. Offenbar habe das jener Bischof damals nicht realisiert.

Lob und Kritik nach TV-Auftritten

Die Professorin tritt teilweise auch vor einem Millionenpublikum auf – als Wort-zum-Sonntag-Sprecherin beim deutschen Fernsehsender ARD. Danach erhält sie jeweils Lob und Kritik – dazwischen gebe es kaum etwas.

Die einen sagten, zitiert Enxing: «Ihre Worte motivieren mich, wieder in die Kirche einzutreten. Oder: Dank Menschen wie Sie hat die Kirche Zukunft.» Die anderen jedoch meinten erzürnt: «Sie verraten das Evangelium. Oder: Sie sollten vom Teufel geholt werden.»

Nach solch einer Kritik muss Julia Enxing erstmal durchatmen. «Man lernt, damit umzugehen, das Unsachliche auszublenden und die sachliche Kritik zu überdenken.» Oft hilft es ihr dabei, mit gut befreundeten Menschen das Gespräch zu suchen oder einfach nur den Kopf beim Joggen freizulaufen.

«Ich verstehe mich als Theologin und gleichzeitig als gläubige Christin.»

Trotz ihrem kritischen Blick auf die katholische Kirche sagt Julia Enxing: «Ich verstehe mich als Theologin und gleichzeitig als gläubige Christin. Ich kann nicht von der Hoffnung des Glaubens erzählen, wenn ich keinen Glauben habe.» An diesem Morgen hat sie den Sonntagsgottesdienst in der Jesuitenkirche besucht, wenige Schritte vom Restaurant entfernt.

Kindheit ohne Glaubensprägung

«Ich bin nicht in einem christlichen Elternhaus gross geworden», erzählt die Katholikin freimütig. Sie habe also keine kindliche Glaubensprägung erlebt. Mit 16 Jahren verbrachte sie ein Jahr in den USA – bei einer «sehr freikirchlichen Familie», wie sie sagt.

Deren ganzes Leben sei von Glaubenspraxis durchdrungen gewesen. «Sie haben mich ganz stark mit Glaubensfragen konfrontiert und gefragt, ob ich mich endlich zu Jesus bekennen würde.»

So begann sie, sich damit verstärkt auseinanderzusetzen. Katholisch sozialisiert wurde sie schliesslich durch die christliche Studentengruppe an der Universität. Nach zwei Jahren Veterinärmedizin in Leipzig wechselte sie auf katholische Theologie, Pädagogik und Philosophie in Mainz.

«Ganz frühe, ganz tiefe grosse Liebe für Tiere»

Die Studienwahl Veterinärmedizin ist ihrer «ganz frühen, ganz tiefen grossen Liebe für Tiere» geschuldet. Diese dauere weiter an. «Ich habe eine Hündin», sagt sie. Mit ihr geht sie spazieren, manchmal auch auf Trekking-Touren. «Aber am liebsten würde ich auf einem Lebenshof wohnen – inmitten vieler Tiere.» Deshalb stört sie sich daran, dass Tiere in der Theologie oft vergessen gehen.

Und wie bringt sie ihre Anliegen an die Studierenden? Sie lehre an einem kleinen Institut in Dresden, «absolute Diaspora», sagt sie lächelnd. Weniger als vier Prozent der Stadtbevölkerung sei katholisch.

Theologie als «das tollste Fach»

Da unterrichtet sie vorwiegend angehende Religionslehrerinnen und -lehrer. Denen gebe sie das Rüstzeug mit, um Religion zu unterrichten. Und sie versuche aufzuzeigen, dass Theologie «das tollste Fach ist, um mit Kindern und Jugendlichen an ganz existenzielle Fragen zu kommen.»

Immer wieder springe dann der Funke über, das freut sie. Da behandle dann eine Studentin beim Staatsexamen etwa die Frage, ob das Gebot der Nächstenliebe auch auf Tiere zu übertragen sei oder ein Student, wie es um die Ethik des Fleischkonsums stehe.

Freiwillige bei Obdachlosen-Angebot

Und wie hält sie es persönlich mit Offenheit? Diese übt sie in der katholischen Gemeinde ihres Quartiers in Dresden, in St. Martin. Sie sei «total lebendig und bunt». Da gebe es Menschen, die sich Geflüchteten annehmen, andere machten Gefängnisbesuche.

Weitere Freiwillige betreuen das Nachtcafé – auch Julia Enxing, die damit das Leben jenseits der universitären Blase kennenlernt. Einmal pro Woche öffnet die Pfarrei ihre Tür den Obdachlosen – von abends 18 Uhr bis morgens 8 Uhr. Da gibt es Dusch-, Essens- und Schlafgelegenheiten.

«Es ist nicht nur mein eigener Verdienst, dass ich da bin, wo ich bin.»

Die Erfahrung mit den weniger privilegierten Menschen mache sie «ein Stück demütig», sagt Julia Enxing. Sie empfinde Dankbarkeit «für das, was mir zuteil wird». «Es ist nicht nur mein eigener Verdienst, dass ich da bin, wo ich bin», relativiert sie ihre bisherige Leistung. Sie habe Glück gehabt und immer wieder Unterstützung durch andere erlebt. Bei den weniger privilegierten Menschen sieht sie: «Es kann schnell abwärts gehen.»

«Ich hoffe, dass ich die Hoffnung auf die Hoffnung aufrechterhalten kann», sagt sie, befragt nach ihrem Wunsch für ihre persönliche Zukunft. Und dass sie dabei aus ihrer Glaubensgewissheit schöpfen könne. «Es gibt genügend Gründe, langsam zu resignieren und abzustumpfen.» Sie aber hofft, ihre Lebensfreunde bewahren zu können.

Nach einem kurzen Fotoshooting muss sie weiter – zur Preisvergabe.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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