Jörg Schneider: kath.ch hat eine Watchdog-Funktion, die auch in die Gesellschaft hineinwirkt

Das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft hat die Arbeit von kath.ch, cath.ch und catt.ch evaluiert. Ein Ergebnis: kath.ch polarisiert mehr. «Viele in der kirchlichen Öffentlichkeit wünschen sich kath.ch wohl eher als sicheren Hafen in einer stürmischen Medienöffentlichkeit», sagt Jörg Schneider.

Raphael Rauch

Was unterscheidet Journalismus von kirchlicher Öffentlicheitsarbeit?

Jörg Schneider*: Mit Journalismus hat man es zu tun, wenn frei und unabhängig über das berichtet wird, was die Redaktion für relevant hält. Damit leistet Journalismus einen wichtigen Beitrag für eine lebendige Öffentlichkeit. Bei Öffentlichkeitsarbeit oder PR – Public Relations – handelt es sich um strategische Kommunikation. Die ist interessengeleitet. Es geht darum, bestimmte Themen, Interpretationen und Meinungen in die Öffentlichkeit zu bringen. Das ist durchaus legitim, aber eben im Interesse eines Auftraggebers, der in möglichst gutem Licht erscheinen will. Die Unabhängigkeit des Journalismus ist ein hohes Gut. Gerade als kirchliches Medium steht man ja schnell im Verdacht, nur ein Sprachrohr zu sein.

Kirchliche Kreise wünschen sich einen Journalismus, der auf Verständigung hin orientiert ist. Was ist damit gemeint?

Schneider: Sie können als Journalist Konflikte befeuern. Sie können aber auch die verschiedenen Konfliktparteien miteinander ins Gespräch bringen und so zur Lösung des Konflikts beitragen. Das ist es, was ich unter verständigungsorientierter Kommunikation verstehe. Verständigungsorientierung heisst eben nicht, Konflikte auszublenden oder beschönigend zu berichten. Im Gegenteil geht es darum, im Meinungsstreit einen Schritt weiterzukommen. Und wenn möglich, gemeinsam eine Lösung zu finden, auf die sich alle Beteiligten verständigen können. Journalismus sollte für diesen verständigungsorientierten Meinungsstreit eine Arena bieten. Es geht darum, zunächst einmal alles auf den Tisch zu bringen. Und manche Wahrheiten sind nun einmal sehr unangenehm.

Wir hatten vor einem Monat das Problem, dass sich niemand aus der Schweizer Liturgiewissenschaft zu einem heiklen Thema äussern wollte. Also haben wir einen Experten aus Österreich befragt, der Öl ins Feuer goss. Hat Verständigung Grenzen?

Schneider: Verständigung setzt Dialogbereitschaft voraus. Journalismus darf aber nicht als Mediation missverstanden werden. Sie als Journalist können dafür sorgen, dass alle Positionen zu Wort kommen. Im Idealfall öffnen Sie einen kommunikativen Raum, wo Argumente und Begründungen ausgetauscht werden.

Uns hat viel Kritik erreicht, weil wir kritisch über die liberale Seelsorgerin Monika Schmid berichtet haben. Wenn wir kritisch über die Piusbrüder oder Martin Grichting berichten, erhalten wir hingegen Beifall. Warum verstehen die Menschen nicht, dass sich Medienschaffende nicht mit einer Sache gemein machen dürfen – auch nicht mit einer guten Sache?

Schneider: Das Diktum von Hanns Joachim Friedrichs: Sie können als Journalist nur der Verständigung dienen, wenn Sie unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen lassen und alle Bereiche des kirchlichen Lebens kritisch beleuchten. In der Kommunikationswissenschaft wird viel von Echokammern gesprochen: Man ist in seiner eigenen Bubble und möchte seine bestehende Meinung bestätigt bekommen. Ich finde, guten Journalismus zeichnet jedoch etwas anderes aus: Es geht darum, die eigenen Framings und Interpretationen zu hinterfragen. Zu Ihrem Beispiel: Wahrscheinlich hatten Ihre User damit Mühe, weil sie gewohnt sind, dass die Progressiven gelobt und die Konservativen getadelt werden. Wenn kath.ch das mal anders macht, irritiert das.

Finden Sie kath.ch boulevardesk?

Schneider: Unsere Studie zeigt, dass der überwiegende Teil der Beiträge sicher nicht boulevardesk ist. Aber einzelne Beiträge spielen eindeutig mit boulevardesken Stilmitteln, wenn Sie zum Beispiel reisserische Überschriften wählen oder stark Personen in den Mittelpunkt stellen. Im Vergleich mit Ihren Kolleginnen und Kollegen aus Lausanne und Lugano verfolgen Sie offensichtlich eine andere publizistische Strategie. Sie wollen nicht nur das innerkirchliche Milieu erreichen und mit Infos versorgen, sondern eine Watchdog-Funktion einnehmen, die auch in die Gesellschaft hineinwirkt. Dazu nutzen Sie mitunter Mittel, die man aus dem Boulevard kennt. Viele in der kirchlichen Öffentlichkeit wünschen sich kath.ch wohl eher als sicheren Hafen in einer stürmischen Medienöffentlichkeit. Darum hat man eine andere Sensibilität und reagiert empfindlicher angesichts von Kontroversen und boulevardesken Stilmitteln.

«Viele schätzen die kritische, investigative Berichterstattung von kath.ch.»

Wir wurden strenger beurteilt als die Medienzentren in Lausanne und Lugano. Liegt das an der alten Leserbrief-Regel: Man schreibt nur einen Leserbrief, wenn man total begeistert oder empört ist?

Schneider: Da ist was dran! kath.ch polarisiert mehr als cath.ch und catt.ch. Und das meine ich wertfrei. Polarisierung hat auch einen positiven Aspekt: kath.ch bewegt die Menschen. kath.ch hat ja viele Befürworterinnen und Befürworter, die vor allem die kritische, investigative Berichterstattung schätzen. An der offenen Befragung zu kath.ch haben deutlich mehr Menschen teilgenommen als bei cath.ch und catt.ch. Daran zeigt sich, dass kath.ch die Menschen nicht kalt lässt.

An Journalistenschulen lernt man, wie wichtig das Mittel der Personalisierung ist. Trotzdem kritisieren viele Leserinnen und Leser, kath.ch personalisiere zu stark.

Schneider: Personalisierung ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits dient es der Vermittlung. Komplexes wird anschaulich, wenn man es über einen Menschen erzählt. Ein Bistum ist abstrakt. Aber wenn man das Bistum über den Bischof illustriert, wird’s konkret und greifbar. Personen stehen für einen bestimmten Kurs, fällen Entscheidungen, tragen Verantwortung. Personen vereinfachen komplizierte Strukturen. Die Kehrseite ist, dass über einzelne Personen manchmal die Komplexität verloren geht. Manche Sachverhalte und Vorgänge kann man nicht nur an einer Person festmachen.

An Journalistenschulen lernt man auch, dass gute Kommentare scharf sind – eben keine ausgewogene Erörterung mit Pro- und Contra-Argumenten. Wie sehen Sie das?

Schneider: Ich sehe das wie Sie! Ein guter Kommentar lebt davon, dass klar Position bezogen wird. Vom sorgfältigen Abwägen wie in einem Schulaufsatz sind wir schnell gelangweilt. Wir möchten eine klare Meinung lesen, der man zustimmen oder an der man sich abarbeiten kann. Wichtig finde ich, dass verschiedene Meinungen zu Wort kommen. Deswegen haben wir beispielsweise vorgeschlagen, dass über Doppel-Interviews verstärkt konträre Positionen zu Wort kommen.

«Nicht jede Wasserstandsmeldung ist wirklich relevant.»

Zum Journalismus gehören auch Themen-Karrieren: dass man an einem Thema dranbleibt und die Entwicklung weiterverfolgt. Nicht alle finden es gut, wenn wir das machen – zum Beispiel bei einem Priester, der seiner Sekretärin ein Penis-Foto geschickt hatte.

Schneider: Themen-Karrieren gehören zum Journalismus. Wenn man merkt, eine Geschichte entwickelt sich weiter, gehört es zur journalistischen Pflicht, dranzubleiben. Entscheidend finde ich die Relevanz. Nicht jedes Thema verdient es, weitergezogen zu werden. Themen können auch aufgebauscht werden. Nicht jede Wasserstandsmeldung ist wirklich relevant. So manche Themen-Karriere erübrigt sich, wenn man im Vorfeld gründlich recherchiert. Dann hat man alle Infos zusammen und kann sie beleuchten. Das geht aber nicht für alle Themen. Dort, wo’s brennt, können Sie als Journalist nicht lange warten.

Die Ergebnisse Ihrer Untersuchung wurden in einem Workshop diskutiert. Ein SRF-Journalist meinte, die Privatwirtschaft wäre auf kath.ch neidisch. Uns ist es gelungen, die Klickzahlen zum Teil zu verdreifachen und das Alter der User zu verjüngern.

Schneider: Unser Auftrag war es insbesondere, die Inhalte der sprachregionalen Portale vergleichend zu analysieren. Dabei hat sich gezeigt, dass insgesamt eine gute journalistische Qualität geboten wird. Ausserdem haben wir eine Befragung der Leserschaft gemacht und mit Expertinnen und Experten gesprochen. So haben wir unterschiedliche Perspektiven auf die Angebote gehabt. Die reinen Klickzahlen sind nur ein Indikator unter vielen. Aber natürlich sprechen die Zahlen für kath.ch. Es bringt ja nichts, wenn Sie qualitativ gut unterwegs sind – Sie damit aber niemanden erreichen.

«Wer ist eigentlich das Zielpublikum? Darauf müssen Sie eine Antwort geben.»

Was sollten wir künftig stärker berücksichtigen?

Schneider: Wir haben immer wieder die Frage gestellt: Wer ist eigentlich das Zielpublikum? Darauf müssen Sie eine Antwort geben. Schreiben und produzieren Sie für gebundene, distanzierte und/oder ausgetretene Katholikinnen und Katholiken? Oder für eine breite interessierte Öffentlichkeit? Eher für theologisch Gebildete oder ein Laienpublikum? Das scheint unklar zu sein.

Mariano Tschuor, der ehemalige RTR-Chefredaktor, war bis letztes Jahr Präsident der Medienkommission der Bischofskonferenz. Er hat einmal gesagt: «Geht bis an die Grenzen dessen, was erlaubt ist. Schiesst lieber darüber hinaus, und dann justiert man hinterher. Wer immer im lauwarmen Wasser bleibt, wird öde und uninteressant.» Hat er recht?

Schneider: Ja, wobei es auf eine kluge Mischung ankommt. Sie können nicht dauernd übers Ziel hinausschiessen und nachjustieren. Am Ende geht es nicht um eine Kontroverse um der Kontroverse willen, sondern um gute Geschichten, die etwas deutlich machen und letztlich einen konstruktiven Beitrag liefern. Konflikte dürfen dabei nicht unter den Teppich gekehrt, sondern müssen sichtbar gemacht werden.

«Über Meta-Kommunikation könnten Sie erläutern, warum Ihre Themen-Auswahl keine Wohlfühl-Oase ist.»

Ein neuer Trend in den Medien ist Meta-Kommunikation. Die «NZZ am Sonntag» erklärt beispielsweise ihren Leserinnen und Lesern, warum sie so berichtet, wie sie berichtet.

Schneider: Das halte ich auch für den kirchlichen Kontext für wichtig. Denn hier gibt es ja oft Unverständnis gegenüber angeblich zu kritischer Berichterstattung. Über Meta-Kommunikation könnten Sie erläutern, warum ein Thema journalistisch relevant ist und Ihre Themen-Auswahl keine Wohlfühl-Oase ist. Unsere Analyse hat gezeigt, dass kath.ch kritischer berichtet als cath.ch und catt.ch, aber eben auch mit einem anderen thematischen Fokus. Wenn Sie den Leserinnen und Lesern auf einer Meta-Ebene solche Sachverhalte erklären, stärkt das Ihre Glaubwürdigkeit.

* Jörg Schneider forscht am «fög», dem Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich. Im Auftrag der Fachgruppe 2 der Schweizer Bischofskonferenz und der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz hat das «fög» im Jahr 2021 die publizistischen Inhalte von kath.ch, cath.ch und catt.ch analysiert, deren Leserinnen und Leser befragt und die Einschätzung von Expertinnen und Experten evaluiert.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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