Bischof von Osnabrück: Ich bin blind gewesen für das Leiden der Betroffenen

Das Bistum Osnabrück lässt seinen Missbrauchskomplex aufarbeiten. Eine erste Studie spricht von Vertuschung und Pflichtverletzungen. Statt «Erschütterungsgetöse» und «Scham-Kaskaden» fordern Opfervertreter «individuelle Verantwortungsübernahme».

Roland Juchem

Osnabrücks Bischof Franz-Josef Bode ist der am längsten amtierende katholische Ortsbischof in Deutschland. Seit 1995 ist er für die nordwestdeutsche Diözese verantwortlich. Zugleich gilt Bode als jemand, der frühzeitig kirchliches Versagen im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch benannt hat. Auch daher wurde die am Dienstag vorgestellte Studie zu sexualisierter Gewalt für sein Bistum mit Spannung erwartet.

«Sehr flache» Lernkurve mit Blick auf Betroffene

Entsprechen die ersten Ergebnisse zur Rolle von Verantwortungsträgern dem Image? Haben der Bischof und seine Mitarbeiter in den vergangenen 27 Jahren tatsächlich dazugelernt? Das Ergebnis ist differenziert. DieForschenden der Universität Osnabrück attestieren Bode und der Bistumsleitung eine durchaus steigende Lernkurve. Dies gelte aber eher für Massnahmen gegen «gefährliche Priester».

Mit Blick auf die Rechte Betroffener sei die Kurve noch «sehr flach», so Projektleiter Hans Schulte-Nölke. Verzögern und Abwehren sei eine häufige Strategie gewesen. Weswegen die 600 Seiten starke Studie aucheinen ausführlichen Katalog zu den Rechten Betroffener und den Pflichten von Bistümern enthält.

Bode handelte «nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig»

Die Bischöfe Helmut Hermann Wittler (1957–1987) und Ludwig Averkamp (1987–1994), so Schulte-Nölke, hätten «schwere Fehler» gemacht. «Damit ermöglichten sie, dass weitere kriminelle Taten erfolgten». Auch Bode habe anfangs Priester in Ämtern belassen oder versetzt. Seine Amtspflichtverletzungen seien aber «nicht vorsätzlich, sondern fahrlässig», so der Jurist. Spätestens ab 2010 seien Beschuldigte schnell aus ihren Positionen entfernt worden.

Allerdings gebe es zu wenig Controlling, ob Sanktionen eingehalten würden und was die Betreffenden dann machten. «Da müsste das Bistum noch nachlegen», fordert die zweite Projektleiterin, die Historikerin Siegrid Westphal. Einen möglichen Grund sieht Projektkoordinator Jürgen Schmiesing in einer teils ungenügenden Aktenführung. So gebe es teils ausführliche Fallakten zu Beschuldigten; die aber würden von den allgemeinen Personalakten getrennt aufbewahrt und geführt.

Rechtliche und moralische Pflichtverletzungen

Westphal sieht rückblickend die Bischöfe im Umgang mit Straftaten sexualisierter Gewalt als überfordert. Erschwerend komme ein Rollenkonflikt hinzu – als Vorgesetzter, Richter und väterlicher Fürsorger für Priester. Dabei seien die Betroffenen schnell aus dem Blick geraten.

Die Studie ist der erste Teil einer auf drei Jahre angelegten Forschung. Sie basiert zum grossen Teil auf 16 ausführlichen Fallanalysen beschuldigter Geistlicher. Diese sind teils mehrfach mit Tabellen von Kriterien zu möglichen rechtlichen und moralischen Pflichtverletzungen des Bistums versehen. Je nach ergriffenen oderunterlassenen Massnahmen sind diese farblich rot, gelb, orange oder grün markiert.

Biografische und strukturelle Details

Für Karl Haucke, einen von drei Betroffenen in der Steuerungsgruppe des Projekts, liegt die Stärke des Osnabrücker Ansatzes im «Zusammenbringen einzelner biografischer und struktureller Details». Das biete die Chance auf ein Gesamtbild von «Rechtsverständnis, Amtsauffassung und moralischer Ausrichtung» der Institution. Aufarbeitung bestehe eben nicht in der Suche nach prekärer Schuld, sondern in der «Suche nach Lehren aus der Geschichte für alle Seiten».

Dass dabei die Einordnung und Bewertung früherer Entscheidungsprozesse aus heutiger Sicht nicht einfach ist, deutet Westphal an: «Wir sind vorsichtig mit konkreten Anschuldigungen, ob jemand vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat.» Dazu müsse der jeweilige Kontext besser bekannt sein. «Im Nachhinein kann man etwas als Vertuschung bezeichnen, was sich in der Situation anders darstellte», so die Historikerin.

«Blind für das Leiden und die Perspektiven der Betroffenen»

Diese Einschätzung wollen Haucke und die anderen Betroffenen der Steuerungsgruppe noch in der Pressekonferenz nicht unwidersprochen lassen. Es müsse schon klar gesagt werden, was Unrecht gewesen sei und wo Pflichten verletzt worden seien.

Auf ausdrücklichen Wunsch der Universitätsleitung und zur Wahrung der Unabhängigkeit war bei der Vorstellung der Studie kein Bistumsvertreter anwesend. In einer ersten Stellungnahme erklärte Bischof Bode später, es beschäftige ihn sehr, «wie blind wir eigentlich gewesen sind und wie blind ich gewesen bin für das Leiden und die Perspektiven der Betroffenen».

«Wir haben die Scham-Kaskaden längst durchschaut»

Mit seinen Mitarbeitenden werde er «beraten, wie der weitere Weg aussehen wird». Ausführlich Stellung beziehen will Bode in einer eigenen Pressekonferenz am Donnerstag.

Für die Reaktion des Bischofs verbittet Haucke sich bereits jetzt «das bei Klerikern beliebte Erschütterungsgetöse». Es brauche «keine Scham-Kaskaden, die wir längst durchschaut haben.» «Sprechen Sie als Ich», so der Sozialpädagoge in Richtung Kirchenvertreter, «wir brauchen individuelle Verantwortungsübernahme». (kna)


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