Theologe Georg Essen zu den Volksverhetzungsprozessen gegen Geistliche

Der Berliner Theologe Georg Essen erwartet nicht, dass die katholische Kirche ihre lehramtliche Position zu Homosexualität in naher Zukunft ändert: «Ich glaube, dass das römische Lehramt noch lange bei seiner harten Linie bleiben wird.»

Michael Althaus

In zwei Fällen standen Geistliche wegen mutmasslicher Volksverhetzung vor Gericht. Sie hatten sich abwertend über Homosexualität geäussert. Das Landgericht Bremen sprach den evangelischen Pastor Olaf Latzel in zweiter Instanz frei. Das Amtsgericht Köln stellte das Verfahren gegen den polnischen Priester Dariusz Oko und den emeritierten Theologieprofessor Johannes Stöhr ein – gegen Zahlung eines vierstelligen Betrages. Der Berliner Theologe Georg Essen, der zum Religionsverfassungsrecht forscht, ordnet die Prozesse ein.

Wie beurteilen Sie den Ausgang der beiden Verfahren?

Georg Essen*: Ich habe erwartet, dass es nicht zu Schuldsprüchen kommt. Die rechtlichen Hürden, um jemanden wegen Volksverhetzung zu verurteilen, sind sehr hoch. Es genügt nicht, jemanden hart anzugehen oder zu beleidigen. Es muss einen öffentlichen Aufruf zum Hass und eine Gefährdung des öffentlichen Friedens geben – und das muss gerichtsverwertbar klar sein. Das war in beiden Verfahren nicht der Fall.

Man könnte das jetzt so lesen, dass homosexuelle Menschen problemlos diskriminiert werden dürfen, solange es im religiösen Kontext geschieht.

Essen: Man darf nicht aus dem Blick verlieren, wie begrenzt die Möglichkeiten einer juristischen Konfliktaustragung sind – insbesondere, wenn Grundrechte ins Spiel kommen wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte. Im juristischen Kontext geht es in beiden Fällen nicht um Wahrheitsfindung und auch nicht darum, ob jemand unter Berufung auf seinen Gott andere beleidigen darf. Es geht nur um einen Konflikt in der Wahrnehmung verschiedener Grundrechte. Das wird leider häufig missverstanden.

Dass gleich zwei solcher Fälle auftauchen, deutet das auf ein systemisches Problem hin?

Essen: Das deutet auf mehrere Probleme hin. Wir befinden uns in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation. Seit etwa zehn Jahren gibt es eine verstärkte Debatte über den Zugang zur Ehe für Homosexuelle und über die Bedeutung von «queer». Traditionelle Lebensformen und Geschlechteridentitäten sind im Fluss. Es wäre seltsam, wenn es da nicht zu Verwerfungen und Konflikten kommen würde.

Und welche Probleme sehen Sie noch?

Essen: Der weltanschaulich neutrale Staat versucht um der Freiheit willen Pluralismus zu schützen und zu ermöglichen. Das ist eine Situation, die konservative religiöse Menschen schwer ertragen können. Sie müssen es aushalten, dass das, was sie für wahr empfinden, in der pluralen Gesellschaft nur eine relative Geltung beanspruchen kann. Das hat zur Folge, dass sich das konservative Milieu noch stärker radikalisiert – wie man auch am Beispiel der AfD sieht. Die Grenze des Sagbaren wird von Vertreterinnen und Vertretern dieses Spektrums bewusst immer weiter verschoben. Das Dilemma ist, dass dieser Konflikt nur bedingt vor Gericht ausgetragen werden kann.

Und gibt es auch im kirchlich-theologischen Bereich ein grundsätzliches Problem, was die Position zu Homosexualität angeht?

Essen: Ja. Allerdings muss man zwischen verschiedenen theologischen und kirchlichen Positionen unterscheiden.

Pastor Latzel beruft sich mit seiner Auffassung, dass Homosexualität Sünde sei, auf die Bibel, wo es zum Beispiel im Buch Levitikus heisst: «Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Gräuel.» Das klingt eindeutig. Gibt es da überhaupt theologischen Interpretationsspielraum?

Essen: Durchaus. Aus meiner Sicht ist es nicht möglich, einen mehrere Tausend Jahre alten Text wörtlich zu nehmen und ihm universelle Geltung zu verleihen. Es ist die Aufgabe der Theologie, diese Texte zu kontextualisieren. Unser heutiges Wissen, dass auch homosexuelle Menschen in authentischen Liebesbeziehungen leben, ist eine Erkenntnis der letzten 150 Jahre – die nichts mit dem zu tun hat, was in den biblischen Texten über Homosexualität gesagt wird.

Im Katechismus der katholischen Kirche heisst es, homosexuelle Handlungen seien «in keinem Fall zu billigen», homosexuell veranlagten Männern und Frauen sei jedoch «mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen». Das entspricht nicht unbedingt den Erkenntnissen der modernen Humanwissenschaften.

Essen: Es gibt einen Konflikt zwischen weiten Teilen der universitären Theologie und dem römisch-katholischen Lehramt. Das Lehramt ignoriert über weite Stellen moderne humanwissenschaftliche Erkenntnisse und vertritt ideologische Positionen. Dahinter steht die katholische Lehre des Naturrechts – also die Auffassung, dass es eine bestimmte Vorstellung dessen gibt, was natürlich ist und damit als gut gilt. Alles was als naturwidrig angesehen wird, ist verboten. Wenn man das ernst nimmt, wäre Homosexualität in der Tat eine Sünde. Aber stimmt diese Denkfigur überhaupt? Dann wäre ja jede Rasur eines Mannes sündhaft, da es seiner «Natur» widerspräche, bartlos zu sein.

Und jemandem, der sündigt, soll aber nach lehramtlicher Auffassung trotzdem mit Barmherzigkeit begegnet werden?

Essen: Genau. Meiner Ansicht nach ist diese Unterscheidung zwischen Sünde und Sünder inhuman. Sexualität gehört zur Identität einer Person.

Glauben Sie, dass sich in absehbarer Zeit an dieser offiziellen römisch-katholischen Position etwas ändern wird?

Essen: Ich glaube, dass die Pluralität innerhalb der Kirche immer weiter zunimmt. In den öffentlichen Äusserungen vieler deutscher Bischöfe ist ein ernsthaftes Umdenken erkennbar – auch ausgelöst durch den Synodalen Weg. Zugleich sehen wir, dass dieser Reformprozess scharf attackiert wird, zum Beispiel aus dem konservativen Milieu in den USA. Ich glaube, dass das römische Lehramt noch lange bei seiner harten Linie bleiben, aber sich gegenüber den einzelnen Bischöfen kaum noch durchsetzen können wird.

So wird es eine Liberalisierung in der Akzeptanz von schwulen, lesbischen, queeren Menschen in den Pfarrgemeinden geben. Und die Bischöfe werden, wenn sie öffentlich dazu positiv sprechen, faktisch in den Dissens gehen zum römischen Lehramt. Ich würde auch, wie der Freiburger Theologe Magnus Striet, diagnostizieren, dass wir uns in der katholischen Kirche auf ein faktisches internes Schisma zubewegen.

Auf der anderen Seite könnte es aber weiterhin Konservative geben, die sich unter Berufung auf das Lehramt mit scharfen Äusserungen hervortun und dann ähnlich wie in den beiden aktuellen Fällen vor Gericht landen?

Essen: Eindeutig. Ich glaube, dass die Radikalisierung noch zunehmen wird. Das gilt für beide Seiten: Verhärtet sich das liberale Milieu, verhärtet sich auch das konservative – und umgekehrt.

Könnte es sein, dass sich die staatliche Rechtsprechung irgendwann dahin wandelt, dass nicht nur Hassrede, sondern auch die sachliche Äusserung der theologischen Position, dass Homosexualität Sünde sei, zu einer Verurteilung führt?

Essen: Ja. Zwischen den Zeilen hat das Gericht in Bremen das bereits angedeutet. Rechtsprechung entwickelt sich immer weiter und nimmt dabei gesellschaftliche Entwicklungen auf. In Deutschland scheint es so zu sein, dass die Rechtsprechung tendenziell religionsneutraler wird und damit folgerichtig distanzierter gegenüber religiösen Bekenntnissen – wie das Kruzifix-Urteil von 1995 zeigt. In den USA erleben wir den gegenläufigen Trend, zum Beispiel beim Thema Abtreibung.

* Georg Essen ist Direktor des Zentralinstituts für Katholische Theologie Berlin und lehrt dort Systematische Theologie.


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