Marlis Gielen: «Niemand kann sagen: Sorry, lieber Gott, Frauen wollen wir nicht»

Können Frauen leitende Funktionen in der Kirche übernehmen? Selbstverständlich, sagt die Professorin Marlis Gielen (62). In den frühen Christengemeinden hätten alle ihre Talente einbringen können – auch die Frauen, etwa die Apostelin Junia. Gielen hält am Sonntag einen Vortrag zum Juniatag.

Regula Pfeifer

Welche Leitungsfunktionen hatten Frauen zu Paulus’ Zeiten?

Marlis Gielen*: Entscheidend ist, dass wir nicht von den Ämtern ausgehen, wie wir sie heute kennen.

Die Briefe des Paulus sind in der frühesten Zeit des Christentums entstanden, von der wir überhaupt schriftliche Belege haben – etwa zwischen 50 und 60 nach Christi Geburt. Aus den Briefen lässt sich etwas Faszinierendes herauslesen: Die Gemeinden haben damals die Funktionen einfach geschaffen, die sie für ihr Gemeindeleben benötigten. Und diese standen Männern und Frauen offen.

«Die Christusgläubigen fingen bei Null an.»

Wie kommt das?

Gielen: Man muss sich vor Augen halten: Damals wurde alles im privaten Kontext organisiert. Die Christusgläubigen fingen bei Null an. Sie übernahmen nichts eins zu eins von anderswo – auch nicht von den jüdischen Synagogen. Zwar sind Anleihen an das antike Vereinswesen herauslesbar. Und trotzdem schufen die Christusgläubigen etwas Eigenes.

«Die frühen Christusgläubigen wählten offene Begriffe, etwa Diakonos.»

Woran machen Sie dieses Eigene fest?

Gielen: Die frühen Christusgläubigen übernahmen keine etablierten Bezeichnungen für religiöse oder theologische Funktionen. Sie wählten offene Begriffe wie zum Beispiel Diakonos. Das bedeutet erstmals nur, dass diese Person, die Diakonos ist, eine Beauftragung hat. Erst aus dem Kontext wird ersichtlich, um welche Beauftragung es sich handelt.

Welche Beauftragung ist es denn?

Gielen: Bei Paulus wird in schöner Regelmässigkeit beschrieben: Die Diakonos genannte Person – Mann oder Frau – ist federführend in der Verkündigung des Evangeliums tätig.

Welche Aufgaben gab es sonst?

Gielen: Es gab auch den Episkopos, wovon sich unser Begriff Bischof ableitet. Seine Aufgabe hatte aber kaum etwas mit dem heutigen Bischofsamt zu tun. Episkopos heisst Inspektor. Er hatte also eine Verwaltungsaufgabe.

«Für Paulus war offenkundig: Jeder und jede soll eigene Talente einbringen.»

Was hat das nun mit den Frauen zu tun?

Gielen: Für Paulus und seine Gemeinde ist offenkundig: Jeder und jede soll die Gaben und Talente einbringen können, die er oder sie hat. Paulus spricht von Charismen, also von Gnadengaben von Gott. Er geht davon aus, dass Gott der Gemeinde so viele Charismen – wir würden heute sagen: Berufungen – schenkt, wie sie eben zum guten Miteinander braucht. Also ist jeder und jede gefragt, sich einzubringen. Und deshalb ist das keine Frage des Geschlechts.

«Die Taufe hebt alle Unterschiede auf.»

Woher kommt diese Offenheit?

Gielen: Sie rührt vom Verständnis der Taufe her. Die Taufe ist ein Initiationsritus. Männer und Frauen werden unterschiedslos getauft, das lässt sich von Anfang an für die nachösterliche Bewegung der Christusgläubigen nachweisen. Und die Taufe selbst hebt alle bestehenden Unterschiede zwischen den Menschen auf. Ich erinnere an die alte Tauftradition im Galaterbrief: «Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht männlich und weiblich. Ihr alle nämlich seid einer in Christus Jesus.»

«In der Taufe liegt die prinzipielle Weihefähigkeit aller Getauften.»

Warum diese Gleichmachung?

Gielen: Weil die Getauften Christus angezogen haben, als Gewand. Dieses Bild besagt: Sie haben in der Taufe die Identität Christi bekommen. Deswegen darf es unter den Getauften keine Unterscheidungen mehr geben, die diese gemeinsame Identität missachten. Weitergedacht für die heutige Zeit heisst das: In der Taufe liegt die prinzipielle Weihefähigkeit aller Getauften, unabhängig vom Geschlecht.

Könnten Sie die Rolle der Apostelin Junia erklären?

Gielen: Uns prägt heute das lukanische Apostelverständnis. Das besagt, dass es zwölf Apostel gab. Aber in der frühen Zeit war der Apostelbegriff sehr viel weiter. Apostel heisst Gesandter. Es ist ein Mensch, der von einem Auftraggeber gesandt ist mit einem Auftrag. Der theologische Sinn lässt sich am ersten Korintherbrief ablesen. Demnach ist ein Apostel eine Person, die dem Auferstandenen begegnet ist. Sie hat von ihm den Auftrag bekommen, das Evangelium zu verkünden – und zwar in der gemeindegründenden Form. So eine Apostelin ist gewiss auch Junia gewesen.

«Ich denke, weitere Frauen gehörten zur Gesamtgruppe der Apostel.»

Gehen Sie von mehreren Apostelinnen aus?

Gielen: Ja, ich denke, es gibt weitere Frauen, die zur Gesamtgruppe der im ersten Korintherbrief genannten Apostel gehörten. Und auch unter den 500 «Brüdern», denen Jesus auf einmal erschien, gab es sicherlich Frauen. Nach den damaligen Sprachgepflogenheiten waren nämlich bei männlichen Gruppenbezeichnungen wie etwa «Brüdern» Frauen mitgemeint, sofern es nicht vom Kontext her ausgeschlossen war.

Welche Erkenntnisse ziehen Sie daraus für die Kirche von heute?

Gielen: Alle Ämter, wie wir sie heute in der Kirche kennen, haben sich von Anfang an geschichtlich entwickelt. Und alles, was sich geschichtlich entwickelt, kann und muss sich weiterentwickeln, wenn sich die Bedürfnisse der Gemeinden ändern.

«Streng genommen dürften wir auch keine Männer als Priester haben.»

Was ist mit der Priesterinnenfrage?

Gielen: Oft wird gesagt, es gebe keine Frauen als Priester im Neuen Testament. Darauf antworte ich: Stimmt, es gibt keine Frauen im Neuen Testament, die Priesterinnen sind. Aber es gibt eben auch keine Männer, die Priester sind. Legt man also dieses Argument gegen Frauen im Priesteramt als Massstab an, dann dürften wir streng genommen auch keine Männer als Priester haben.

«Im frühen Christentum gibt es keine Vorsteherfunktion.»

Und die Leitungsfrage?

Gielen: Christliche Gottesdienste, also auch die Herrenmahlfeiern, fanden im privaten Rahmen statt. Dabei gab es im frühen Christentum noch keinerlei Vorsteherfunktion. Möglicherweise haben die Personen, die ihr Haus für die Versammlung zur Verfügung stellten, auch organisatorische Aufgaben übernommen. Aber es gibt keinen Hinweis auf eine liturgische Leitungsfunktion. Auch das hat sich erst entwickelt.

«Das Beispiel Junia zeigt, dass Frauen damals gleichberechtigt eingebunden waren.»

Was lässt sich von der Apostelin Junia ableiten?

Gielen: Ihr Beispiel zeigt auf, dass Frauen in der damaligen Zeit vollkommen gleichberechtigt eingebunden waren.

Wieso ist das heute nicht mehr so?

Gielen: Unsere Erfahrungen als Getaufte in der Kirche und unsere Erfahrungen in Kultur und Gesellschaft bedingen sich wechselseitig. Die Gesellschaft zur Römerzeit war patriarchal geprägt. Die Pastoralbriefe aus dem 2. Jahrhundert zeigen auf, dass die christlichen Gemeinden damals ihre Strukturen an die Gesellschaft anpassten. Dabei wurden die Frauen zunehmend aus aktiven Gemeindefunktionen herausgedrängt.

Die Lehre daraus ist, dass die Menschen eine Unvereinbarkeit von gesellschaftlichen und kirchlichen Erfahrungen auf Dauer nicht durchhalten können.

«Die Kirche muss sich die Talente auch heute zunutze machen.»

Muss sich die Kirche also der Gesellschaft anpassen?

Gielen: Ich würde nicht sagen anpassen. Die Kirche kann sich ändern, indem sie zurückschaut auf ihre eigenen Anfänge. Aber nicht, indem sie schaut, ob es damals die heutigen Ämter so schon gab. Denn die gab es noch nicht. Die Kirche sollte vielmehr daraus lernen, wie die ersten Christusgläubigen die Talente ganz selbstverständlich genutzt haben – also die Charismen, die Gott schenkt mit der Taufe, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Diese Begabungen muss die Kirche auch heute annehmen und sich zunutze machen. Da kann niemand sagen: Sorry, lieber Gott, aber dieses Geschenk nehmen wir nicht an, Frauen wollen wir nicht.

«Da ist eine Angst, die Macht teilen zu müssen.»

Weshalb wehren sich gewisse Kreise in der katholischen Kirche vehement dagegen, Diakoninnen und Apostelinnen im frühen Christentum anzuerkennen? Können Sie das nachvollziehen?

Gielen: Schwierig. Oft kommen solche Äusserungen von Männern, die die Macht in der Kirche haben, etwas zu verändern. Ich glaube, da spielt das Standesbewusstsein eine Rolle, sowie die Angst, die Macht teilen zu müssen. Mit dem Amt verbunden ist eine geistliche Macht, die über die Sakramentenspendung ausgeübt wird. Aber es gibt auch Frauen, die Bedenken haben. Sie vertreten, würde ich sagen, ein doch etwas überkommenes Frauenbild.

Wie sollte die katholische Kirche die Frauenfrage angehen?

Gielen: Die katholische Kirche muss lernen, als globale Gemeinschaft Ungleichzeitigkeiten auszuhalten. In Europa sind wir offensichtlich ein Stück weiter als anderswo, was die Stellung der Frau in der Gesellschaft betrifft. Hier werden Frauen – zu Recht, finde ich – ungeduldig und sagen: «Ja, aber ich fühle mich berufen. Warum darf ich das nicht machen?»

«Zuerst muss man sich theologisch verständigen: Ist das möglich?»

Da muss man sich zuerst grundsätzlich theologisch verständigen: Ist das möglich? Ich denke, es sprechen sehr gute Argumente dafür. Aber dann darf nicht jede Ortskirche verpflichtet werden, das sofort umzusetzen. Die Entwicklung wird fortschreiten. Dies, weil die Spannungen zwischen gesellschaftlichen und kirchlichen Realitäten auf Dauer nicht bestehen können.

* Professorin Marlis Gielen spricht am Juniatag per Zoom über «Frauen in Leitungsfunktionen zur Zeit des Apostels Paulus». Der Anlass der «#Juniainitiative» findet am Sonntagnachmittag in Effretikon ZH statt. Hier geht’s zum Programm.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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