Adrian Loretan zur Kurienreform: «Das ist eine Revolution – auch eine Frau kann Staatssekretärin werden»

Der Luzerner Kirchenrechtler Adrian Loretan sieht in der Kurienreform einen «Durchbruch». Wenn eine Frau das Staatssekretariat leiten kann, könnten auch Frauen Generalvikarin werden oder in einem Domkapitel sitzen. «Für Kleriker in Rom wird das psychisch nicht einfach, diesen Schock zu verdauen.» 

Raphael Rauch

Wie bewerten Sie die neue Vatikan-Verfassung?

Adrian Loretan*: Das ist ein Durchbruch. Dass ich den in dieser Schärfe und Klarheit erleben darf, ist etwas sehr Schönes. 

Worin sehen Sie den Durchbruch?

Loretan: Der Vatikan hat endlich verstanden, dass bei Leitungsfragen die Kompetenz wichtiger ist als der Weihestatus. Bis auf wenige Ausnahmen können künftig Laien die Dikasterien leiten. Ab Pfingsten könnte eine Frau die Nummer Zwei im Vatikan werden und Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin ablösen. Denn das Amt heisst nicht mehr Kardinalstaatssekretär, sondern Staatssekretär. Das bedeutet einen Kulturwandel und hat enorme Konsequenzen für die Personalauswahl.

«Bischof Kurt Koch hat die These vertreten, dass eigentliche Leitungsämter die Priesterweihe voraussetzen.»

Ist das eine Revolution, eine Reform, eine Reorganisation?

Loretan: Für mich ganz klar eine Revolution. Wenn eine Frau das mächtige Staatssekretariat leiten darf, gibt es keinen Grund mehr, warum sie nicht auch Generalvikarin werden oder in einem Domkapitel sitzen darf. Das ist eine richtige Zeitenwende und hat auch Konsequenzen für die Ortskirchen, also auch für uns in der Schweiz. Bischof Kurt Koch hat die These vertreten, dass eigentliche Leitungsämter die Priesterweihe voraussetzen. Hier muss ab Pfingsten umgedacht werden.

Erleben wir eine kirchenhistorische Zäsur?

Loretan: Ich finde schon. Was Papst Franziskus jetzt rechtlich umsetzen will in der Kurienreform, ist keine Bagatelle, sondern Hardcore. Die Münsteraner Rechtsschule hat sich durchgesetzt, die stark vom Zweiten Vatikanischen Konzil her denkt – und die Münchner Rechtsschule erleidet gerade Schiffbruch. Joseph Ratzinger ist in dieser Rechtsschule aufgewachsen und hat wie Johannes Paul II. Weihe- und Leitungsamt stark zusammengedacht. Historisch gesehen gibt es aber Präzedenzfälle. Im Mittelalter gab es Gebietsäbtissinnen, die eine Gebietsabtei wie ein Bistum geleitet haben – so wie der Gebietsabt von Einsiedeln ohne Bischofsweihe die Gebietsabtei Einsiedeln leitet.

Muss Papst Franziskus nicht erst den Beweis liefern, dass er es ernst meint und Frauen auch wirklich in Spitzenpositionen beruft?

Loretan: Klar, aber dafür hat er jetzt die rechtliche Grundlage geschaffen. Und so ein Kulturwandel kommt nicht von heute auf morgen. Das merken Sie auch im Militär, wo seit Jahren Frauen zugelassen sind – aber das trotzdem noch von Männern dominiert wird. Aber Schritt für Schritt kann sich das System ändern. Für viele Kleriker in Rom wird das psychisch nicht einfach, diesen Schock zu verdauen. Natürlich werden sich einige querstellen.

Was bedeutet die Kurienreform für die Schweizergarde?

Loretan: Auch hier dürfte die Argumentation auf Dauer nicht haltbar sein, dass nur Männer Schweizergardisten werden dürfen. Wenn die räumlichen Verhältnisse es zulassen, dann dürften früher oder später auch Frauen zugelassen werden.

«Dieser verschachtelte Machtapparat muss aufgebrochen werden.»

Welcher Aspekt der Kurienreform erscheint Ihnen noch erwähnenswert?

Loretan: Franziskus will eine klare Amtszeitbegrenzung bei den Klerikern. Er kommt ja aus Argentinien und hat gemerkt, wie verfilzt der Vatikan ist. Dieser verschachtelte Machtapparat muss aufgebrochen werden. Von daher will er die Priester und Ordensleute nach zehn Jahren zurückschicken und auch so Macht-Blockaden brechen. Amtszeit-Begrenzung ist ein wichtiges rechtliches Instrument der Machtbegrenzung.

Könnten die Schweizer Bischöfe von Pfingsten an Fakten schaffen und eine Generalvikarin ernennen?

Loretan: Eigentlich schon, das Partikularrecht bietet hier Spielraum. Kardinal Marx macht es vor.

Manche sehen in München eine Alibi-Lösung: Eine Frau ist hier Amtschefin, aber es gibt immer noch einen Generalvikar.

Loretan: Momentan muss laut Kirchenrecht der Generalvikar ein Priester sein. Da kommt auch Kardinal Marx nicht dran vorbei. Aber Marx sagt: «Wie ich als Bischof mein Bistum organisiere, steht mir laut Ortskirchenrecht als Bischof zu». Von daher könnten auch hier die Schweizer Bischöfe vorangehen, einen Generalvikar ernennen – aber de facto eine Amtschefin mit den Leitungsaufgaben ausstatten. 

Was bedeutet die Kurienreform für die Frage: Können auch Frauen Diakoninnen oder Priesterinnen werden?

Loretan: Dazu äussert sich der Gesetzestext nicht. Aber wir können den Kulturwandel nicht ignorieren, der gerade eingeleitet wird. Für die Anhänger von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. steht nach wie vor fest: Nur Männer können Priester werden und das ist auf immer und ewig so. Doch selbst der frühe Kurt Koch hat gesagt: Wenn das das einzige Argument ist, dann kann ein Konzil das ja auch verändern. Nur wird das lange dauern. Ich denke, jetzt passiert gerade ein wichtiger Zwischenschritt, auf den andere Schritte folgen werden.

«Das Kardinalsamt müsste auch für Frauen und Verheiratete zugänglich werden.»

Die Apostolische Signatur, also das höchste Kirchengericht, kann auch weiterhin nur mit einem Kardinal besetzt werden. Auch der Präsident des Wirtschaftsrats muss weiterhin ein Kardinal sein, weil dieser laut Satzung unter anderem aus acht Kardinälen besteht. Wirklich Sinn macht das nicht, oder?

Loretan: Gesetzgebung und Rechtsentwicklung sind immer ein Prozess. Das kann sich auch noch ändern. Ich bin überzeugt, nun wird sich die Sichtweise durchsetzen: Es geht um die gleiche Würde aller Getauften. Wenn man das einmal verstanden hat, kann man nicht sagen: Die Frauen wollen wir nicht. Ich bleibe dabei, was ich seit Jahren sage: Das Kardinalsamt müsste auch für Frauen und Verheiratete zugänglich werden und im Konklave vertreten sein. Im Laufe der Geschichte gab es ja Kardinäle, die nicht Priester waren. 

Die Glaubenskongregation ist in der neuen Verfassung nur noch ein Dikasterium unter vielen. Wie bewerten Sie das?

Loretan: Benedikt XVI. hatte diesen Schritt bewusst nicht gemacht. Franziskus setzt hier klar andere Akzente: die Evangelisierung ist Chefsache und steht im Mittelpunkt. Aber auch bei der Auswahl von Bischöfen ist nicht nur auf die Vorschläge der Ortskirchen und der Nuntiaturen zu hören, sondern auch auf die Angehörigen des Bistums.

Was bedeutet die Kurienreform für den vatikanischen Diplomatendienst?

Loretan: Wenn es eine Staatssekretärin gibt, dann gibt es keinen Grund, warum ein Nuntius unbedingt Erzbischof sein muss. Zu einer Weltfrauenkonferenz hat der Heilige Stuhl bereits eine Frau als Vatikan-Diplomatin geschickt. Hier könnte sich also auch viel tun. In der nachkonziliaren Gesetzgebung ist Vieles relativ offen formuliert. Es lohnt sich jetzt, eine Relektüre der alten Texte vorzunehmen. 

«Die Kurienreform hat diesen Schritt begonnen.»

Warum?

Loretan: Gleiche Würde und gleiche Rechte sind im 20. Jahrhundert aufgrund der naturrechtlichen Tradition der Kirche eingeführt worden – unter anderem von Pius XII. im Jahr 1942 und im Zweiten Vatikanischen Konzil. Nun gilt es diese Anforderung auch im kirchlichen Recht umzusetzen. Die Kurienreform hat diesen Schritt begonnen.

* Adrian Loretan (62) ist Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Uni Luzern.


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