Anselm Grün: Hinter dem Verhindern von Reformen steckt oft Angst

«Versäume nicht dein Leben», ist eine zentrale Botschaft des Benediktiners Anselm Grün. Ein Gespräch übers Glücklichsein, die Versöhnung mit der eigenen Durchschnittlichkeit – und Reformbedarf in der katholischen Kirche.

Jacqueline Straub

Am Montag sprechen Sie in Zürich zum Thema «Versäume nicht dein Leben». Wenn Sie auf Ihr Leben blicken: Haben Sie etwas versäumt?

Pater Anselm Grün*: Ich schaue sehr dankbar auf mein Leben und habe nicht das Gefühl, dass ich etwas versäumt habe. Ich habe immer versucht im Augenblick zu leben und das zu tun, was gerade anstand.

Bereuen Sie eine Entscheidung in Ihrem Leben?

Grün: Als ich von 1977 bis 2013 als Cellerar für die wirtschaftliche Leitung der Abtei Münsterschwarzach tätig war, waren manche Entscheidungen rein wirtschaftlicher Art nicht immer optimal. Aber damit muss man leben, dass nicht jede Entscheidung optimal ist. Entscheidend ist, was ich daraus mache.

«Manche haben Angst, dass die Erwartungen nicht erfüllt werden.»

In einem Ihrer Bücher schreiben Sie: «Ohne Wagemut ist das Leben nicht zu haben.» Oder: «Nur wer sich auf den Weg macht und das Leben wagt, lebt es auch.» Warum haben viele das Gefühl, ihr Leben nicht richtig zu leben?

Grün: Manche haben das Gefühl, dass sie eine schlechte Lebenskarte gezogen haben. Dann verweigern sie das Leben. Sie leben nur so vor sich hin. Andere haben zu hohe Erwartungen und haben Angst, dass die Erwartungen nicht erfüllt werden. Sie trauen sich nicht das Leben anzupacken und schieben es vor sich her. Etwa wird dann der Start ins Berufsleben durch lange Auslandsreisen nach der Matura herausgezögert.

Was empfehlen Sie Menschen, die das Leben nicht wagen zu leben?

Grün: Es gibt kein Leben ohne Verletzungen und Enttäuschungen. Und es gibt keine Gewissheit. Ich muss es einfach ausprobieren.

Wir leben in einer Gesellschaft mit unzähligen Möglichkeiten. Dennoch fühlen sich viele unglücklich. Woran liegt das?

Grün: Wenn ich mich für etwas entscheide, entscheide ich mich automatisch gegen etwas anderes. Das fällt vielen Menschen schwer. Und viele sind unglücklich, weil sie Illusionen vom Leben haben. Sie denken, dass sie perfekt, erfolgreich, immer cool sein müssen. Sie merken aber, dass sie durchschnittlich sind.

Kann man lernen, glücklich zu sein?

Grün: Glücklich zu sein heisst im Einklang mit sich selbst zu sein. Das heisst auch, sich mit der eigenen Durchschnittlichkeit zu versöhnen. Wer aufhört, sich ständig mit anderen zu vergleichen und stattdessen versucht dankbar auf sein Leben zu schauen, kann Glück finden. Es gibt den Spruch: «Ich bin nicht dankbar, weil ich glücklich bin, sondern ich bin glücklich, weil ich dankbar bin.» Dankbarkeit schafft auch Glück.

«Sie müssen nicht alles nachholen, was sie versäumt haben, sondern sich aussöhnen mit dem nicht gelebten Leben.»

Welche Rolle spielt Versöhnung, um glücklich leben zu können?

Grün: Ich muss mich zuerst mit meiner eigenen Lebensgeschichte versöhnen. Viele trauern dieser nach oder schieben die Schuld für ihr missglücktes Leben den Eltern zu. Aber irgendwann muss ich für mein Leben Verantwortung übernehmen und mich aussöhnen mit meiner Lebensgeschichte. Auch die Versöhnung mit anderen Menschen ist wichtig, um glücklich leben zu können.

Was empfehlen Sie Menschen, die das Gefühl haben, ihr Leben versäumt zu haben?

Grün: Die Frage ist, welche Lebensspur sie noch in den nächsten Jahren eingraben möchten. Sie leben jetzt. Sie müssen nicht alles nachholen, was sie versäumt haben, sondern sich aussöhnen mit dem nicht gelebten Leben. Dann werden sie eine Spur von Hoffnung, Zuversicht und Milde eingraben und dann ist ihr Leben wertvoll.

«Immer wieder sich selbst annehmen, sich nicht bewerten.»

Wie lebt man jetzt schon richtig?

Grün: Im Augenblick leben. Immer wieder sich selbst annehmen, sich nicht bewerten. Viele sind unglücklich, weil sie immer ständig alles bewerten, was sie tun. Ein erfülltes Leben habe ich dann, wenn ich es wage zu leben.

Was sagen Sie Menschen, die mit Blick auf die momentane Kirchensituation die Hoffnung verloren haben?

Grün: Dass die Kirche momentan so ist, wie sie ist, darf betrauert werden. Aber die Frage ist, wofür könnte ich auch dankbar sein. Etwa für den Reichtum an der liturgischen oder spirituellen Tradition. Ich darf nicht alles abhängig machen von der Institution Kirche, sondern ich frage mich: Wie lebe ich meinen Glauben und wie finde ich Menschen, mit denen ich den Glauben vertiefen kann.

Wie beurteilen Sie den Synodalen Weg in Deutschland?

Grün: Ich spüre Hoffnung. Es kommt einiges in Bewegung. Die Erneuerung der Kirche braucht immer zwei Pole, die parallel gehen müssen: Strukturelle und spirituelle Erneuerung. Der Synodale Weg versucht die Strukturen zu wandeln, um eine lebendige Kirche zu sein.

Glauben Sie, dass die Kirche sich ändern kann?

Grün: Ich spreche lieber von Verwandlung statt von Veränderung. Verändern heisst, dass man alles anders machen muss, weil es bisher nicht gut war. Verwandlung heisst, ich würdige erstmal, was geworden ist, aber wir sind noch nicht die, die wir sein sollten und sein könnten. Natürlich muss die Kirche sich wandeln. Der Schweizer Psychiater C. G. Jung sagte: «Leben heisst Wandlung. Wer der Wandlung verweigert, der verstarrt.» Und die Kirche darf nicht erstarren, sondern muss lebendig bleiben, sich wandeln. 

«Hinter dem Bremsen steckt oft eine Angst.»

Wenn Sie im Gespräch mit konservativen Personen sind, die keine Wandlung der Kirche zulassen, was sagen Sie diesen?

Grün: Ich würde sie zuerst fragen, welche Angst sie haben. Denn hinter dem Bremsen steckt oft eine Angst. Wenn man dann über die Ängste spricht, kann man vielleicht auch vernünftiger darüber sprechen, ob es einen Sinn hat, sich nur von der Angst treiben zu lassen. Manche versuchen mit dem Bremsen das Bisherige als die Hochform des Glaubens zu sehen. Doch was ist Glaube? Glaube heisst auch immer, sich auf den Weg zu machen.

«Die Kirche ist ein Stück stehen geblieben in der ganzen Moralvorstellung.»

Sie plädieren dafür, das Leben jetzt zu leben. Viele Menschen konnten lange nicht zu dem stehen, wie sie sind. Wie sollte die Kirche mit Randgruppen umgehen, etwa mit jenen, die sich bei der Aktion Out in Church geoutet haben?

Grün: Die kirchliche Spiritualität ist weit und offen, aber die kirchliche Moral ist sehr zeitbedingt. Die Kirche ist ein Stück stehen geblieben in der ganzen Moralvorstellung, vor allem zur Einstellung von Sexualität und geschlechtlicher Identität. Da hat die Kirche ein sehr starres Bild. Aber auch die Moral ist immer in Bewegung. Die Kirche darf sich nicht auf eine veraltete Moral festbeissen.

* Pater Anselm Grün (77) ist Benediktinermönch in Unterschwarzach und Bestsellerautor. Am Montag, 21. Februar 2022 spricht er um 19 Uhr in der Zürcher Liebfrauen-Kirche zum Thema: «Versäume nicht dein Leben». Einen Live-Stream gibt es hier.


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