Kloster im Abseits – und mitten in der Welt

Eine Gemeinschaft von neun Salesianerinnen lebt heute im Visitantinnenkloster in Freiburg. Eine von ihnen ist Schwester Marie-Dominique. Heiraten wollte sie nie, eigene Kinder hätte sie gern gehabt. 69 Jahre hat sie schon im Kloster verbracht. Sie ist überzeugt, dass sie wirklich «hierher gehört».

Vera Rüttimann

Das Kloster der Visitantinnen befindet sich an der Murtengasse 18 in Freiburg. Es liegt direkt hinter dem Tinguely-Museum und dem Kunstmuseum. Dennoch muss man es suchen. Von aussen deutet nichts auf ein Kloster hin. Nur eine Tür, ein Namenschild und ein Klingelbrett an einem Haus an einer vielbefahrenen Strasse.

Die Visitantinnen, auch Salesianerinnen genannt, kamen 1635 aus Besançon. Sie flohen vor dem Dreissigjährigen Krieg und suchten in der Schweiz Asyl. Gefunden hatten sie es in Freiburg zuerst in einem Gebäude ausserhalb der Stadtmauern. Später zogen sie in ein Haus einer Patrizierfamilie in der Murtengasse.

Eine von ihnen ist Schwester Marie-Dominique. Die 90-Jährige zeigt der Besucherin zunächst die prächtige Kirche, die 1653 nach den Plänen von Jean-François Reyff errichtet wurde. «Sie zählt zu den bedeutendsten Bauten aus jener Zeit», sagt sie stolz. Prächtig ist das Innere der Kirche. Deren Grundriss erinnert an das Wappen des Ordens der Visitantinnen. Die Seitenaltäre zeigen den Heiligen Franz von Sales und die Heilige Johanna von Chantal, die den Orden gründeten.

69 Jahre hier – «eine sehr lange Zeit»

1953 trat Schwester Marie-Dominique ins Kloster der Visitantinnen ein – fünf Wochen nach dem Abschluss ihrer Ausbildung als Kindergärtnerin bei den Ursulinerinnen im Pensionat St-Agnes in Freiburg. Die gebürtige Lachenerin wollte erst dort eintreten. Noch stärker aber habe sie ein geschlossenes Kloster angezogen. «Jetzt bin ich seit 69 Jahren hier. Das ist eine sehr lange Zeit», sagt sie lachend.

Die 90-jährige Salesianerin weiss um die bewegte Gründergeschichte ihres Ordens: Johanna Franziska von Chantal war Mutter von sechs Kindern. 1601 starb ihr Ehemann an den Folgen eines Jagdunfalls. Am 5. März 1604 begegnete die Savoyerin dem Genfer Bischof Franz von Sales. Zwischen den beiden entwickelte sich eine spirituelle Freundschaft. Als Franz von Sales einen Frauenorden gründen wollte, dachte er dabei auch an Johanna Franziska, die seit dem Tod ihres Ehemannes den Wunsch hatte, in ein Kloster einzutreten.

Am 6. Juni 1610 gründete Johanna Franziska schliesslich zusammen mit Franz von Sales den Orden der Schwestern von der Heimsuchung Mariens, bekannt als Salesianerinnen.  

Johanna Franziska starb dort am 13. Dezember 1641. Sie wurde in der Heimsuchungskirche neben ihrem Ordensmitbegründers Franz von Sales beigesetzt. Johanna Franziska von Chantal wurde 1767 heiliggesprochen

Beten für die Kinder der Welt

Von Beginn an sei sie angezogen gewesen vom kontemplativen Ansatz dieses Klosters. «Wir sind im Gebet da für Gott und für die Menschen», sagt Schwester Marie-Dominique. Flüchtlinge und Strassenkinder liegen ihr besonders am Herzen. «Es ist unsere Aufgabe, dass wir sie mit ins Gebet nehmen.» Vielleicht wäre sie Kindergärtnerin in Freiburg geworden, so aber könne sie im Kloster im Gebet Kinder überall auf der Welt erreichen.

Franz von Sales habe dieses Kloster gegründet für Leute, die gesundheitliche Probleme hatten und nicht in ein hart geführtes geschlossenes Kloster gehen konnten. Zudem stand es auch «Quereinsteigerinnen» offen. Mit der heiligen Chantal habe ja eine Frau das Kloster der Visitation gegründet, die als Witwe in ein Kloster eingetreten sei, so Schwester Marie-Dominique. «Als ich hier eintrat, waren um mich drei Witfrauen mit im Kloster. Sie alle waren vorher verheiratet und hatten Kinder», sagt sie.  Diese drei Frauen hätten den anderen Schwestern im Kloster viel gegeben, «weil sie Erfahrungen aus der Welt von draussen hineingebracht haben.»

Holzrätsche als Wecker

Bis heute ist der Alltag der noch immer vitalen Ordensfrau durchgetaktet mit verschiedenen Gebets-, Meditations- und Stille-Zeiten. Noch vor Jahren mussten die Schwestern für ihre Gebetszeit um fünf Uhr morgens aufstehen. «Eine Schwester weckte uns mit einer Holzrätsche», erzählt die 90-Jährige.

35 Jahre lang arbeitete Schwester Marie-Dominique viele Stunden am Tag in der klostereigenen Wäscherei. Die Wäsche kam aus Hotels, Kirchen und Schulen der Stadt Freiburg. Bügeln, dämpfen, zusammenfalten – die Arbeit sei oft hart und schweisstreibend gewesen. «Gerade im Sommer war es enorm heiss. Wir waren oft komplett durchnässt», erinnert sie sich.

«Wir waren die ersten Schwestern in der Westschweiz, die die Gitter an der Pforte entfernt haben.»

Das Leben in diesem Kloster sei nicht immer leicht gewesen. «Es hat auch Tage gegeben, wo man nicht so gut drauf war», gesteht Schwester Marie-Dominique offen. Dennoch habe sie nie fundamental tiefe Krisen im Kloster erlebt. «Das ist eine Gnade.» Als Kind sei sie nämlich nicht besonders fromm gewesen. «Ich ging eher mit den Jungs», sagt sie lachend. Den Wunsch zu heiraten aber, den habe sie nie gehabt. Eigene Kinder hingegen, die hätten ihr sehr gefehlt.

Der Zahnarzt kam ins Haus

In ihrer Zeit als Salesianerin hat Schwester Dominique unterschiedliche Phasen erlebt. So auch die «langsame Öffnung unseres Klosters in die Welt», wie sie sagt. «Wir waren die ersten Schwestern in der Westschweiz, die die Gitter an der Pforte entfernt haben.» Viele Jahre empfing sie an der Pforte selbst Gäste und erfreute sie mit ihrer herzlichen und humorvollen Art.

Als Schwester Marie-Dominique eintrat, war daran nicht zu denken. Die Pforte war vergittert, die Schwestern traten kaum einen Schritt vor die Tür. «Der Zahnarzt musste uns von aussen besuchen, wenn eine Schwester Schmerzen hatte», erzählt Schwester Marie-Dominique.

Stalins Tochter beherbergt

Noch lebhaft erinnern kann sich Schwester Marie-Dominique an einen besonderen Gast. 1967 war das, als Swetlana, die Tochter von Josef Stalin, hier beherbergt wurde. Sie wollte bei den Salesianerinnen für einige Wochen Exerzitien machen und ging in die Klausur. Zuerst war die Schwestern nichts Aussergewöhnliches aufgefallen. Immer wieder fragten Frauen für Exerzitien im Kloster an.

«Das ist eine komische Dame, sagte mir eine Mitschwester einmal.»

«Seltsam kam uns vor, dass man uns sagte, dass man an sie keine Fragen stellen soll», erinnert sich Schwester Marie-Dominique. Sie sei ab und zu in die Messe gekommen, habe aber immer alleine gegessen. «Das ist eine komische Dame, sagte mir eine Mitschwester einmal. Erst später erfuhren wir, dass Swetlana die Tochter Stalins ist», schildert die betagte Salesianerin. «Später schrieb sie ein Buch, worin sie festhielt, dass die Zeit im Kloster der Salesianerinnen die schönste Zeit in ihrem Leben gewesen sei, weil sie hier ihre Ruhe hatte», weiss Schwester Marie-Dominique.

Spaziergänge an der Sarine

Seit einigen Jahren leben die Schwestern nicht mehr so eingeschlossen. Sie besuchen die Sonntagsmesse in der Kirche und pflegen Kontakte nach aussen. «Wir begannen, die Leute, die die Messe besuchten, bei uns im ersten Stock zu einem Café einzuladen. Dadurch haben wir ringsum Freunde gefunden», erzählt sie.

«Man kann kein Kloster mit nur alten Schwestern erhalten.»

Auch sonst verlassen die Salesianerinnen gern mal das Kloster, um frische Luft zu schnappen. Der Verkehr an der Murtengasse habe stark zugenommen. «Wir machen Spaziergänge entlang der Sarine und Ferien in unserem Chalet im Greyerzerland. Das tut uns sehr gut», sagt Schwester Marie-Dominique. Wenn Salesianerinnen aus dem Ausland zu Besuch kamen, habe sie ihnen zudem oft die herrliche Altstadt von Fribourg gezeigt.

Keine Zukunft fürs Kloster

Das Kloster werde wohl in einigen Jahren schliessen müssen, sagt Schwester Marie-Dominique. Die Jüngste, Oberin Schwester Colette, ist 67 Jahre alt. «Man kann kein Kloster mit nur alten Schwestern erhalten», sagt Schwester Dominique traurig, aber auch gefasst. Leider sei die Überalterung der Klostergemeinschaften in Europa nicht aufzuhalten.

Nun ist Zeit für das Mittagsgebet in der Kirche. Schwester Marie-Dominique geniesst es, wenn die Sonne durch die Kuppel scheint und Strahlen sich am Boden abzeichnen. Sie schaut hoch zur Decke und sagt: «Je älter ich werde, umso mehr erkenne ich, dass ich wirklich hierher gehört habe.»


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/kloster-im-abseits-und-mitten-in-der-welt/