Suizid am Stephanstag: Wenn die Not an Weihnachten besonders gross ist

Am zweiten Weihnachtsfeiertag steht der grosse Märtyrer Stephanus im Zentrum. Doch auch die persönlichen Leiden dürfen nicht vergessen werden, findet Pfarrer Mario Pinggera: «In der Seelsorge ist Weihnachten eine heikle Zeit. Nie im Jahr ist die Not grösser.»

Mario Pinggera*

Lieber Dario, am Tag des Märtyrers Stephanus bist du von uns gegangen. Deinen Abschiedsbrief hast du am Vorabend geschrieben. Wir kennen uns nicht persönlich. Möglicherweise sind wir uns einmal begegnet, ohne dass der eine vom anderen wusste. 

Was, wenn wir uns näher gekannt hätten?

Ich frage mich, lieber Dario, was geworden wäre, wenn wir uns etwas näher gekannt hätten. Vielleicht hättest du ein Gespräch gewünscht. Wie so viele Menschen, die mit dem Rücken zur Wand stehen, die nicht mehr ein und aus wissen. 

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass wohl jeder Mensch einmal an dem Punkt im Leben ankommt, wo nichts mehr zu gehen scheint. Wo man einfach nur noch gehen möchte. Gehen, aus einem Leben, das einem so nichts mehr zu geben scheint. 

Schmerzhafte Lebenserfahrungen

Im Gegenteil, der Problemhaufen wird sogar immer grösser, er wird unüberschaubar, erscheint geradezu übermächtig. Die Gründe sind so verschieden, wie die Menschen selbst. Aber immer liegt der Grund in einer tiefen Verletzung, die du von einem Menschen erfährst. 

Sei das in der Familie, in der Partnerschaft oder im Berufsleben. Derartige Erfahrungen sind schmerzhaft, ja oft unerträglich. Aber es sind Erfahrungen. Lebenserfahrungen, die durchaus auch hilfreich sein können, so schmerzhaft sie auch sind. 

Suizid an Weihnachten

Weihnachten, das Fest des Friedens, der Retter der Menschen wird geboren. In der Seelsorge eine heikle Zeit. Nie im Jahr ist die Not grösser. Auch du hast dir Weihnachten ausgesucht für deinen letzten Schritt. Und du hast ihn schon länger vorbereitet. 

Gerne hätte ich von dir eine Antwort auf die Frage, wo genau der Punkt ist, wo aus dem blossen Vorhaben, aus der Welt zu scheiden, dann der konkrete Entschluss und die Ausführung werden. Ich versuche mich in deine letzten Tage hineinzuversetzen. Wie leer muss alles scheinen, wie gross die Verzweiflung, es gibt nur noch eine Sehnsucht, nur noch ein Ziel: Schluss zu machen. Du kennst nur noch das Sterben.

«Ich steh an deiner Krippe hier»

Verstehst du jetzt, lieber Dario, dass ich darüber nachsinne, wie es ausgegangen wäre, wenn wir uns noch gesprochen hätten? Während ich diesen Text schreibe, geht mir unaufhörlich das Weihnachtslied «Ich steh an deiner Krippe hier» durch den Kopf. Kennst du es? 

Es ist eher unbekannt. Paul Gerhardt hat es geschrieben, Johann Sebastian Bach hat es vertont. Die Ich-Form nimmt dich voll ins Geschehen hinein. Du stehst vor der Krippe und betrachtest staunend. Du siehst in diesem Jesuskind alles! Jesus ist dein Leben. Und du möchtest dich ganz an ihn verschenken. Und wenn du das Leben Jesu betrachtest, weisst du worum es geht. Es geht um alles: um das wahre Leben. 

«Gott ist die Liebe»

Betend und liebend füreinander da zu sein. Vergessen wir nicht: Gott ist die Liebe, und es ist nur die Liebe, die uns Menschen wirklich zu Menschen macht! Deshalb geht es darum, das Leben wirklich zu leben. Wir haben nur eines auf dieser Erde. Jesus, der Gott so ins Spiel gebracht hat, wie niemand zuvor, nämlich als die Liebe selbst – er liegt vor dir in der Krippe. Als hilfloses Kind. Der aber etwas zu sagen haben wird, und der es auch tut! 

Der die Menschen entsetzt mit seinem radikalen Einsatz für Gerechtigkeit, Wahrheit, das Leben und die Liebe. 

Jesu Einsamkeit am Ölberg

Der den Saturierten in Religion und Gesellschaft den Spiegel vorhält und der damit zum Ärgernis wird, das liquidiert werden muss und auch wird. Der sogar von den seinen verraten und im Stich gelassen wird und am Ölberg betend und weinend in völliger Einsamkeit auf seine Mörder wartet.

Ja, es muss eine schier unerträgliche Einsamkeit für Jesus gewesen sein, wohlwissend, dass das Ende nahe ist. Wie viele Tränen wird er wohl vergossen haben, da war kein Trost – niemand, der die Tränen abgetrocknet hat von seinen Wangen. (…)

«Gott war dir nahe»

Lieber Dario, auch du warst in Gottes Hand, ganz besonders am 26. Dezember. Du hattest dich für diesen Weg entschieden. Aber Gott war dir nahe, sehr nahe. Vielleicht hast du es nicht wahrnehmen können. 

Aber er war dir nahe, da er dich mit weit geöffneten Armen in Empfang genommen hat. Das Lied spricht ja auch von der tiefsten Todesnacht, die uns alle irgendwann einmal erreichen wird. Aber das ist nicht das letzte Wort, nicht das Ende: Jesus ist meine Sonne, die unendlich hell strahlt, wie es im Lied weiter heisst. Oder wie es in der Offenbarung des Johannes unvergleichlich tröstlich heisst:

«Und ich hörte eine grosse Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Stuhl sass, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht zu mir: Schreibe; denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!»

Tiefste Todesnacht

Dario, wir stehen immer noch vor der Krippe und betrachten Jesus. Aber wir betrachten damit auch unser Leben, das so ganz und gar durchdrungen ist von ihm. Mit Ängsten und Hoffnungen, mit Freud und Leid, mit Leben und Tod.

Lieber Dario, die tiefste Todesnacht, von der das Lied spricht, war für dich vom 25. auf den 26. Dezember. Du weisst jetzt mehr. Und du kennst jetzt die ganze Fülle der Liebe Gottes. Du kannst jetzt mit dem Psalmisten aus Psalm 126 beten, der nach grösster Not und deren Überwindung konstatiert: «so werden wir sein, wie die Träumenden», erlöst von allem Leid, von allem Leid. 

Gebet für die Angehörigen

Darf ich dich an dieser Stelle noch um etwas bitten, lieber Dario: Deine Familie hier, deine Angehörigen, sie sind so verzweifelt. Können zwar irgendwie nachvollziehen, was Dich bewegt hat, aber es ist kaum zu verstehen. Sie brauchen jetzt göttlichen Beistand. 

Ich versuche Ihnen, soweit als möglich mit meinen bescheidenen Mitteln beizustehen. Aber schliesse sie bitte ins Gebet ein. Sende ihnen Kraft. Sie brauchen sie dringend, da ihr Lebensauftrag noch nicht vollendet ist. Wenn wir alles hier hinter uns und überwunden haben, dann werden wir uns wiedersehen. Für jetzt gilt für uns, die wir noch hier sind, das Licht des neugeborenen Jesuskindes zu so vielen Menschen, wie irgend möglich zu tragen.

Sei in Gott geborgen, lieber Dario. Amen.

* Mario Pinggera ist Pfarrer von Richterswil ZH. Der Gastbeitrag ist eine leicht gekürzte Traueransprache. Der Name des Verstorbenen ist geändert.


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