«Crossroads»: Weihnachten und das Ende der Heiligen Familie

Von wegen Heilige Familie: Wenn die Weihnachtszeit in einer modernen Erzählung auftaucht, hat das oft mit Brüchen und schmerzhaften Erfahrungen zu tun. So auch bei Jonathan Franzens neuestem Familienroman «Crossroads». Er verarbeitet Erfahrungen in einer evangelischen Pfarrersfamilie.

Charles Martig

«Crossroads» ist der Name einer kirchlichen Jugendgruppe, die sich in den 1970er-Jahren in einer Vorstadtgemeinde Chicagos trifft. Die Gruppe wächst rasant. Der Jugendleiter ist auf der Höhe der Zeit. Mit seiner weltoffenen, beziehungsorientierten Theologie geht Ambrose auf die jungen Menschen zu und begeistert sie. Gott ist Beziehung! «Crossroads» ist als Gruppe mit Gitarre, Marihuana und Erfahrungshunger auf der Überholspur unterwegs.

Verzehrender Neid

Pfarrer Russ Hildebrandt kann sich über diesen Erfolg nicht freuen. Seitdem ihm Ambrose in der Jugendgruppe den Rang abgelaufen hat, ist er zutiefst enttäuscht und verbittert. Das sind Gefühle, die Pfarrer Hildebrandt nicht haben will. Und doch verzehrt ihn der Neid auf seinen Arbeitskollegen.

Russ stammt aus einer mennonitischen Gemeinde, war als junger Mann ein strenger Wiedertäufer. Erst allmählich hat er sich aus seinem Elternhaus und der religiösen Gemeinschaft gelöst. Er hat sich der calvinistischen Theologie zugewandt und ist in der wohlhabenden Vorstadtgemeinde von Chicago gelandet.

Risse im Familienleben

Russ Hildebrandt ist existentiell verzweifelt. Ihm gelingt wenig in der Arbeit. Die Freude am Predigen hat er verloren. Die Beziehung zu seiner Frau ist ausgekühlt. Und die Kinder sind von ihrem Vater entfremdet. Das gute Familienleben gehört bei den Hildebrandts in die Vergangenheit.

Am 23. Dezember des Jahres 1971 scheint es, als sei das Bild der Heiligen Familie nur noch ein Mahnmal. Marion Hildebrandt, die Pfarrersfrau, besucht heimlich eine Psychologin, um mit ihrer Depression fertig zu werden. Russ Hildebrandt hat die Hoffnung für seine Beziehung zu Marion bereits aufgegeben. Mit Leidenschaft kümmert er sich um eine junge Witwe aus seiner Kirchgemeinde. Da ist mehr als nur Seelsorge im Spiel.

Kurz vor dem Absturz

Der älteste Sohn Clem kehrt kurz vor Weihnachten mit einer Nachricht von der Uni zurück, die Familienvater Russ Hildebrandt vor eine schwere Prüfung stellt. Becky bricht aus ihrer Rolle als vorbildhafte Tochter und Star der Highschool aus. Sie wendet sich der weltlichen Rockmusik zu, statt im Kirchenchor zu singen. Ihr jüngerer Bruder Perry, ein hyperintelligenter und frühreifer Möchtegern-Philosoph, dealt in der siebten Klasse mit Drogen. Er ist stets kurz vor dem nächsten Absturz und überfordert damit seine Eltern.

In den USA der 1970er-Jahre führt das explosive Gemisch aus dem christlichen Anspruch einer Pfarrersfamilie und einer sich rasant verändernden Gesellschaft zu abgrundtiefen Konflikten. Jonathan Franzen erzählt den Familienroman aus verschiedenen Perspektiven. Damit bietet die vielschichtige Erzählung ein Panorama der modernen amerikanischen Gesellschaft in Zeiten der sexuellen Befreiung, der Antikriegs-Demonstrationen gegen Vietnam, der Gegensätze zwischen Arm und Reich, der Suche nach neuen (Drogen-)Erfahrungen und der spirituellen Sehnsucht nach mehr als blossem Konsum.

Das Ende der Heiligen Familie

Die Hildebrandts versuchen auf je eigene Weise mit der Krise umzugehen. Dass sie sich mit ihrem Drang nach neuen Freiheiten – die der gesellschaftliche Aufbruch propagiert – gegenseitig überfordern, ist keiner der Figuren bewusst. Die Erzählung von der heilen und damit Heiligen Familie gibt es so nicht mehr.

Das Pfarrer-Ehepaar hat sich so weit entfremdet, dass die beziehungsmässige Orientierung nach aussen der nächste logische Schritt bedeutet. Was Russ und Marion damit in ihrer Familie anrichten, realisieren sie erst viel zu spät. Die Kinder geraten in ihrem Prozess des Erwachsenwerdens aus der Bahn, hassen sich dafür und entfremden sich voneinander. Die Freiheit, die alle Figuren anstreben, hat ihren Preis.

Weihnachten als Ort des Heils

Bezeichnenderweise spielt der grösste Teil von «Crossroads» am Vorabend des Heiligen Abends. Je mehr sich die Lesenden auf dieses Erzähluniversum einlassen, desto deutlicher wird der Verlust von Weihnachten als Ort des Heils. So durchlaufen wir in diesem Roman tiefste menschliche Abgründe und höchste religiöse Erweckungserlebnisse. Nach dieser Achterbahn der Gefühle gelingt dem Romancier Franzen ein Sprung in einen zweiten Teil, der mit «Ostern» betitelt ist. Der grosse christliche Spannungsbogen ist eröffnet.

Dieser Familienroman ist zwischen der Geburt Jesu und seiner Kreuzigung und Auferstehung angesiedelt. Das ist menschlich, allzu menschlich, und herausragend erzählt. Die Brüche in dieser Familienkonstellation sind bewegend. In der modernen Literatur müssen wir lange suchen, um ein derartig gekonntes, theologisch konzipiertes Gesellschaftsdrama zu finden. «Crossroads» ist erst der Anfang einer neuen Roman-Trilogie von Jonathan Franzen.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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