Das Grab von Giovanni Paolo II. liegt auf Sizilien

Giovanni Paolo II. ist ein afrikanischer Flüchtling, der im Mittelmeer ertrunken ist. Wie er wirklich hiess, wissen wir nicht. Die süditalienische Bevölkerung trauert um die namenlosen Toten, die seit Jahren an ihre Ufer geschwemmt werden.

Eva Meienberg

Während für die meisten Menschen in Europa die Migrationskatastrophe Schlagzeilen sind, ist die lokale Bevölkerung in Süditalien mit handfesten Fragen konfrontiert. Was macht ein Fischer, der einen toten Menschen in seinem Netz findet? Wie werden die Toten bestattet? Wie werden die Gräber der anonymen Toten gestaltet? Welche Bestattungsrituale sind angemessen?

In den Herkunftsländern hingegen leiden die Angehörigen der Migrantinnen und Migranten an der Ungewissheit über den Verbleib der Geflüchteten. Viele von ihnen wissen nicht, ob ihre Liebsten noch am Leben sind. Vielleicht sind sie als sogenannte namenlose Tote im Mittelmeer verschollen oder ihre Überreste liegen in einem anonymen süditalienischen Grab.

Die Religionswissenschaftlerin Daniela Stauffacher beschäftigt sich mit den Themen Tod, Trauer und Bestattung. Im sizilianischen Dorf Pozzallo hat sie ethnografisch über den Umgang der lokalen Bevölkerung mit den namenlosen Toten geforscht.

Worum geht es soziologisch betrachtet bei einer Bestattung?

Stauffacher: Es geht darum, einen Menschen zu betrauern und durch die Versammlung um den Toten das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gemeinschaft zu stärken.

Warum braucht es bei einer Bestattung eine Gemeinschaft?

Stauffacher: Die Gemeinschaft signalisiert durch ihre Anwesenheit bei der Bestattung eines Menschen, dass der Verstorbene ein Teil dieser Gemeinschaft war. In einem gewissen Masse erzeugt der tote Mensch diese Gemeinschaft erst durch das Ritual. Denn an einer Bestattung kommen Menschen zusammen, die sonst oft gar nichts miteinander zu tun haben. Im Moment der Bestattung werden diese Menschen zu einer Einheit, zu einer Trauergemeinde.

«Die Menschen, die sich um die Toten kümmern, lernen sich erst kennen, wenn sie schon tot sind.»

Im Falle der Migrantinnen und Migranten, die im Meer ertrunken sind und die in Abwesenheit ihrer Familie und Freunde bestattet werden, fehlt diese Gemeinschaft.

Stauffacher: Das ist genau die Schwierigkeit. Die Menschen, die sich um die Toten kümmern, lernen sie erst kennen, wenn sie schon tot sind. Die Toten aus dem Meer gehören zu keiner Gruppe der lokalen, italienischen Bevölkerung, die sie betrauern könnten.

Die Ungewissheit über die Identität der Toten ist auch für die Angehörigen in den Herkunftsländern eine schwierige Situation.

Stauffacher: Emotional ist es wichtig, sicher zu sein, dass jemand tot ist. Diese Sicherheit bleibt aber gerade bei den Opfern der Mittelmeermigration aus. Das hat Konsequenzen: Bleibt ein Ehepartner verschollen, ist es kaum möglich wieder zu heiraten, weil der Ehepartner wieder auftauchen könnte. Auch rechtlich ist Gewissheit über den Tod wichtig, weil andernfalls eine Witwe ihre Rente nicht beziehen kann. Psychologisch gesehen muss die Hoffnung, den geliebten Menschen wieder zu sehen, sterben, um ihn zu betrauern und den gemeinsamen Lebensabschnitt zu beenden. Der tote Körper ist dafür der Garant. Nur dann kann der Verlust auch rituell abgeschlossen werden.

Wie funktioniert dieses rituelle Abschliessen?

Stauffacher: Ein Bestattungsritual oder auch ganze Ritus-Zyklen, die sich teilweise über Monate erstrecken, werden gemeinschaftlich begangen und helfen den Menschen in ihrer Trauer. Für ein Ritual gibt es Regeln, die befolgt werden können, und es gibt zeitliche Beschränkungen. Denken wir an das Leichenmahl: dort muss man nicht weinen, da kann auch gelacht werden. Am Grab hingegen sind Tränen angemessen und Lachen wäre deplatziert. Emotionen haben ihre Orte, die man aufsuchen und wieder verlassen kann.

Gibt es dennoch Initiativen der lokalen Bevölkerung in Süditalien, die Toten zu betrauern, auch wenn sie Fremde sind?

Stauffacher: Ich konnte beobachten, wie Menschen, die auf dem Friedhof Angehörige besucht haben, auch den unbekannten Gräbern einen Besuch abgestattet haben. Manchmal haben sie das Grab sogar gepflegt. Eigentlich hat der Umstand, dass der Tote unbekannt ist, dieses Engagement erst ermöglicht. Ist es doch eher unwahrscheinlich, dass man ein Grab pflegt, von dem man ausgehen kann, dass es von Angehörigen unterhalten wird.

Manchmal wurde den unbekannten Toten auch Namen gegeben, Vito zum Beispiel, oder sogar Giovanni Paolo II. Das ist der Versuch, einen Anschluss zu diesen Menschen zu finden. Gleichzeitig ist diese Namensgebung aber auch eine Vereinnahmung der Toten, eine Überstülpung einer fremden Identität.

Wer ist eigentlich für die Bergung der Toten zuständig?

Stauffacher: In den Küstengewässern liegt die Bergung in der Zuständigkeit der jeweiligen Behörden. Doch auf hoher See ist und fühlt sich niemand so richtig zuständig. Es ist interessant, dass es keine einzige NGO gibt, die solche Bergungen macht.

Sie haben mit einem Fischer gesprochen, der Angst hat, seine Netze auszuwerfen, weil sich darin ein toter Körper verfangen könnte.

Stauffacher: Ja, die Fischer fürchten die Toten. Einerseits ist es für sie emotional belastend, plötzlich eine Leiche oder Leichenteile in den Händen zu haben. Andererseits müssen sie mit polizeilichen Abklärungen und rechtlichen Konsequenzen rechnen, die ihren Betrieb beeinträchtigen und zu Erwerbsausfällen füllen.

Gibt es Überlegungen zu den Religionszugehörigkeiten der toten Menschen aus dem Mittelmeer?

Stauffacher: Ja, diese Überlegungen werden gemacht und lösen Unsicherheit aus. Man will die Toten ja nicht falsch behandeln. Als die Vermutung aufkam, es handle sich bei den Toten um Muslime, wurde ein Imam beigezogen, um in Bestattungsfragen zu beraten.

«Ein Friedhofsgärtner hat in den nassen Zement der namenlosen Gräber ein Kreuz gezeichnet.»

Ich weiss von einem Dorf, wo Bettlaken gesammelt wurden, um Menschen zu bestatten, die für Musliminnen und Muslime gehalten wurden. Offenbar war bekannt, dass diese nicht in einem Sarg bestattet werden sollten.

Und ich habe mit einem Friedhofsgärtner gesprochen, der in den nassen Zement der namenlosen Gräber ein Kreuz gezeichnet hat. Als er plötzlich realisiert hat, dass die Toten vielleicht gar keine Christinnen und Christen sind, hat er damit aufgehört, weil er Angst hatte, etwas falsch zu machen.

Wer ist für die Organisation der Bestattungen zuständig?

Stauffacher: Der Staat ist für die Bestattung der Toten zuständig. Die Toten müssen einzeln bestattet werden und die sterblichen Überreste dürfen nicht kremiert werden, damit ihre Identität auch zu einem späteren Zeitpunkt noch festgestellt werden könnte. Eigentlich müsste die DNA der Toten erfasst und zentral verwaltet werden. Das funktioniert aber oft nicht. Ausserdem gibt es keine einheitlichen Regelungen, wie die Toten und ihre Gräber jeweils verzeichnet werden. Das kann dazu führen, dass Informationen über Tote von ihrem Weg vom Hafen bis zu ihrer letzten Ruhestätte verloren gehen, weil man nicht mehr weiss, um welchen Toten aus welcher Bergungsaktion es sich eigentlich handelt.

Ein Bestattungsritual für die namenlosen Toten ist also nicht vorgesehen?

Stauffacher: Nein, aber lokal gibt es Gruppen, die sporadisch zusammenkommen, um der Toten zu gedenken.

«Der Arzt sagte, er könne nicht gut schlafen, wenn kein Priester kommen würde, um den toten Menschen zu segnen.»

Welche Rolle spielen die katholischen Priester?

Stauffacher: Ich weiss zum Beispiel, dass ein Hafenarzt jeweils den Priester benachrichtigt, wenn ein toter Mensch im Hafen ankommt. Der Arzt sagte, er könne nicht gut schlafen, wenn kein Priester kommen würde, um den toten Menschen zu segnen. Im staatlich vorgeschriebenen Prozedere bei der Ankunft im Hafen muss sich der Priester regelrecht eine Lücke suchen, um den Toten segnen zu können.

Und wie verhalten sich höhere Würdenträger?

Stauffacher: Der Bischof ist dann in Erscheinung getreten, als es eine grössere Feier gab.

Gibt es andere Rituale, die für die namenlosen Toten durchgeführt werden?

Stauffacher: In Pozzallo gibt es Gedenkfeiern für die Toten aus dem Meer. Priester aus verschiedenen Dörfern nehmen daran teil. Interessant ist, dass diese Anlässe sehr stark emotionalisiert werden: Verstörende Bilder und dramatische Musik begleiten den Abend. Das scheint notwendig zu sein, um das Publikum einzubinden. Trauer für eine unbekannte Anzahl von unbekannten Toten zu erzeugen, ist rituell eine Herausforderung.

In Lampedusa wird jährlich am 3. Oktober an das Schiffsunglück des Jahres 2013 erinnert. Damals kamen 366 Menschen ums Leben. Dieses Ritual hat etwas Spektakuläres, Hunderte nehmen daran teil, auch prominente Personen. Dieser Anlass wird unter anderem von der EU unterstützt. Das ist ambivalent, denn die Politik der EU ist die Ursache für das Sterben der Migrantinnen und Migranten.

Gleichzeitig hat das Ritual durch die jährliche Wiederholung einen normalisierenden Effekt. Die Menschen gewöhnen sich an die Situation. Menschen sterben und einmal im Jahr wird ihrer gedacht. Dadurch entsteht eine Tradition. Das kann aber nicht das Ziel sein. Es muss sich etwas ändern.

Das Meer ist für manche Menschen der Ort, an dem sie bestattet werden wollen. Kann man das Meer auch im Fall der unbekannten Toten als Grab verstehen?

Stauffacher: Es gibt dazu verschiedene Meinungen. Seefahrende wollen beispielsweise häufig keine Bergung, wenn ein Mensch ertrinkt. Für sie ist das Meer ein Ort der Ruhe, ein Friedhof. Andere Stimmen wie beispielsweise diejenige des Internationalen Roten Kreuzes sagen aber, die toten Menschen müssten geborgen werden, um ihre Identität zu bestimmen. Das ist vor allem für die Hinterbliebenen der Toten wichtig.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/das-grab-des-giovanni-paolo-ii/