Herbert Haag Preis 2022: Gerechtigkeit für die Betroffenen – Gerechtigkeit innerhalb der Kirche

Medienmitteilung

Der Herbert Haag Preis 2022 rückt die Auseinandersetzung mit dem Machtmissbrauch in der katholischen Kirche ins Zentrum. Den Preis erhalten Menschen, die Opfer sexuellen und geistlichen Missbrauchs geworden sind, die ihre traumatischen Erfahrungen öffentlich gemacht haben und die sich persönlich für die Aufarbeitung dieses Jahrtausend-Skandals einsetzen.

Mit je 10’000 Franken oder Euro ausgezeichnet werden:

1) Matthias Katsch, der Begründer der Initiative «Eckiger Tisch» (Offenburg) sowie die Sprecher des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz (Johanna Beck, Kai Christian Moritz und Johannes Norpoth);

2) Jacques Nuoffer für die westschweizerische Opfervereinigung Sapec und Albin Reichmuth für die Deutschschweizer Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld;

3) die Theologin und Philosophin Doris Reisinger aus Frankfurt;

4) der Wiener Theologe Prof. Wolfgang Treitler.

Matthias Katsch (Eckiger Tisch), Johanna Beck, Kai Christian Moritz und Johannes Norpoth (Betroffenenbeirat): Matthias Katsch gehörte als Schüler der Berliner Jesuitenschule «Canisius Kolleg» zu den Missbrauchsopfern der 1970er Jahre. Er wandte sich im Januar 2010 an den damaligen Rektor der Schule, Klaus Mertes SJ, was diesen zur Bekanntmachung der Missbrauchsfälle veranlasste. Katsch gründete mit anderen Betroffenen die Initiative «Eckiger Tisch». Er zählt heute zu den wichtigsten Aktivisten im Kampf um die gesellschaftliche Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in Deutschland. So etwa fordert eine Petition der Initiative «Eckiger Tisch» vom Bundestag die Einsetzung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission, «die den Aufarbeitungsprozess für das jahrzehntelange systematische institutionelle Versagen in den Kirchen begleitet».
Johanna Beck, Johannes Norpoth und Kai Christian Moritz sind die drei profiliertesten Mitglieder des Betroffenenbeirats, der die Arbeit der Deutschen Bischofskonferenz im Bereich sexualisierter Gewalt kritisch begleiten soll. Ausserdem haben sie sich in viel beachteten Statements in die Online-Konferenz des Synodalen Weges vom 21. Februar 2021 eingebracht. Um andere Opfer zu ermutigen, haben sie sich als Missbrauchsopfer geoutet. So etwa wurde der Schauspieler Kai Christian Moritz als Waise von seinem Pflegevater, der Priester war, missbraucht. Zu seinem Engagement im Betroffenenbeirat sagt er: Es gehe ihm nicht um eine «beliebige Betroffenheit, die wie ein süsser Zuckerguss zumeist der Entlastung der Mitleidhabenden und der Sich-Entschuldigenden dient … Doch wir glauben an den fortlaufenden Dialog und wollen auf möglichst breiter Basis Überlebende zu Wort kommen lassen, nicht zuletzt aus dem Respekt vor denen, die in ihrem Leid zerbrochen wurden.»
             

Jacques Nuoffer (Sapec) und Albin Reichmuth (IG Missbrauchsbetroffene): Die Westschweizer Gruppe Sapec (Soutien aux personnes abusées dans une relation d’autorité religieuse) wurde im Frühjahr 2010 gegründet und ist damit die älteste Opfervereinigung in der Schweiz. Ihr Präsident, der Psychologe Jacques Nuoffer, war in seiner Jugend selbst ein Missbrauchsopfer. Der Verein versteht sich als politisch neutral und konfessionell unabhängig. Eines der Hauptziele ist es, Wiedergutmachung für die Missbrauchsopfer zu erlangen. Neben der unmittelbaren Unterstützung von Opfern, die ein Gesuch um Wiedergutmachung einreichen möchten, setzt sich der Verein für die historische Aufarbeitung der Missbräuche ein. So sorgt er dafür, dass Opfer Zugang zu den Dossiers über Täter erhalten.

In der deutschsprachigen Schweiz hat Albin Reichmuth 2019 eine Selbsthilfe-Gruppe ins Leben gerufen und in der Folge auch einen Förderverein gegründet, die Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld. Albin Reichmuth war neun Jahre alt, als sich der Pfarrer zum ersten Mal an ihm verging. Das Martyrium des Knaben dauerte während sechs Jahren an. Nach Jahrzehnten des stummen Leidens ging der heutige 74-Jährige 2018 zum ersten Mal in die Öffentlichkeit. Zugleich begann er, sich aktiv für die Opfer des kirchlichen Machtmissbrauchs einzusetzen. Auf der einen Seite will die IG die unmittelbare Betreuung von Missbrauchsopfern unterstützen, andererseits soll der Aufarbeitungsprozess der Schweizer Kirche kritisch begleitet werden. Und schliesslich will sie bei der Präventionsarbeit gestaltend mitwirken.

Doris Reisinger (geb. Wagner), Theologin, promovierte Philosophin und Autorin war ehemaliges Mitglied der Geistlichen Familie «Das Werk». Nach acht Jahren verliess sie das Kloster. Sie brachte als Betroffene bzw. Überlebende den sexuellen und spirituellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche ab 2014 in die Öffentlichkeit. Zu nennen sind ihre Publikationen, die auf grosse Resonanz stiessen: Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau, Knaur 2014; Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Herder 2019. Mit dem deutsch-britischen Regisseur Christoph Rühl veröffentlichte sie vor kurzem das Buch: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger (Piper 2021). Autorin und Autor zeigen darin auf, dass der frühere Papst die routinemässig gepflegte Vertuschungspraxis der Kirche nicht nur schweigend geduldet, sondern sie als Teil einer klerikalen Ideologie selbst praktiziert und gefördert hat, und zwar als Chef der Glaubenskongregation wie auch als Papst. – In Büchern, Interviews, Aufsätzen und Vorträgen engagiert sich die international anerkannte Fachfrau, weil sie «etwas bewirken möchte»: Die Zeit von Vertuschen und Verschweigen ist vorbei, und die Zeit des Handelns ist gekommen.

Der Wiener Theologe Wolfgang Treitler hat kürzlich (zusammen mit Gunter Prüller-Jagenteufel) unter dem Titel «Verbrechen und Verantwortung» einen umfangreichen Sammelband zum sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Einrichtungen herausgegeben (Verlag Herder, Freiburg 2021). Der Professor für Theologische Grundlagenforschung war als Schüler eines katholischen Gymnasiums selbst Opfer des Missbrauchs durch einen Lehrer geworden. Nachdem er den Missbrauch öffentlich gemacht hatte, reflektierte er seine Erfahrungen auch theologisch und beschäftigte sich in Lehre, Forschung und Publizistik mit dem kirchlichen Missbrauch. Es gebe im katholischen Christentum so etwas wie eine dogmatisch abgesicherte, systematische Kollaboration mit Missbrauchsverbrechen. Grund dafür sei eine «platonisierende Denkweise», die sich in der fatalen Unterscheidung von körperlicher Existenz auf der einen Seite und hehrem geistlichen Leben auf der anderen Seite zeige. –

Das Leid, das den Opfern des Missbrauchs durch die Kirche zugefügt wurde, kann kein Preis aufwiegen. Die Preisverleihung formuliert jedoch ein klares kirchenpolitisches und theologisches Statement: Im Zentrum stehen die Opfer und die Überlebenden kirchlichen Missbrauchs, nicht die Interessen der Institution.

Zugleich wollen wir mit dem Preis das Engagement der Preisträgerinnen und Preisträger würdigen. Wir verstehen den Preis als Zeichen des Respekts und der Unterstützung für ihr Engagement. Und schliesslich: Es geht um Gerechtigkeit für die Betroffenen und um Gerechtigkeit innerhalb der Kirche.    

Die Preisverleihung findet am Sonntag, 13. März 2022, 15.30 Uhr in der Lukaskirche, Morgartenstrasse 16, Luzern, statt.

Luzern, 27. September 2021 / Odilo Noti

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