Franziskus' Mann für Flüchtlinge in Genf war am 9/11 in Washington

Am 11. September 2001 haben Dschihadisten nicht nur New York angegriffen, sondern auch Washington. An diesem Tag sollte Robert Vitillo der US-Bischofskonferenz Bericht erstatten. Heute arbeitet er für Papst Franziskus als Flüchtlingsexperte in Genf und pflegt einen intensiven Dialog mit Muslimen.

Raphael Rauch

Welche Erinnerungen haben Sie an den 11. September 2001?

Robert Vitillo: Ich war damals Direktor eines Programms zur Armutsbekämpfung der US-Bischofskonferenz. Ich hatte am Hauptsitz der Bischofskonferenz in Washington eine Verwaltungsratssitzung mit etwa 30 Bischöfen. Ich wartete vor dem Saal darauf, dass man mich aufrief, über unser Programm zu berichten. Plötzlich sagte einer der Sekretäre, dass es im World Trade Center eine Explosion gegeben habe. Jemand rannte los, um einen kleinen Fernseher zu holen, und wir waren schockiert, als wir die Trümmer sahen – zu diesem Zeitpunkt war die Ursache für die Explosion im ersten Gebäude noch nicht bekannt. Dann sahen wir tatsächlich, wie das zweite Flugzeug in das zweite Gebäude einschlug. Später hörten wir dann von dem Flugzeugangriff auf das Pentagon in Washington und schliesslich von dem Absturz eines Flugzeuges im nahegelegenen Bundesstaat Pennsylvania.

Wie hat die US-Bischofskonferenz darauf reagiert?

Vitillo: Die Bischöfe haben rasch eine Presseerklärung formuliert und ihr Programm geändert. Eigentlich hätte ich beim Gottesdienst predigen sollen. Wegen der vielen Bischöfe hatte ich meine Predigt extra sorgfältig vorbereitet. Doch die Anschläge haben alles verändert. Die Bischöfe feierten eine grosse Messe. Ich blieb mit meinen Mitarbeitern zurück. Wir haben dann eine kleine Votivmesse für Frieden und Gerechtigkeit gefeiert.

«Ich rief natürlich nicht zur Rache auf, sondern zu diplomatischen Lösungen.»

Haben Sie für den Gottesdienst die richtigen Worte gefunden?

Vitillo: Statt der vorbereiten Predigt sprach ich nun über das Unglück, das viele Menschen täglich ausgesetzt sind: Krieg, Konflikte und Verfolgung. Und nun war diese Angst im eigenen Land. Ich rief natürlich nicht zur Rache auf, sondern zu diplomatischen Lösungen. Die Ideologie hat nichts mit grossen religiösen Traditionen und schon gar nichts mit dem Evangelium Jesu zu tun. Und schliesslich habe ich für die Seelen der Opfer gebetet, für den Trost der Trauernden, die Heilung der Verwundeten und die Entschlossenheit von uns allen, für Frieden und Versöhnung zu arbeiten.

Und dann?

Vitillo: Die meisten Bischöfe wollten sofort in ihre Heimatdiözesen zurückkehren, aber der Flugverkehr war für mehrere Tage unterbrochen. Der damalige Kardinal von Los Angeles mietete sich ein Auto und fuhr 3000 Meilen weit, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Wie weit waren Sie vom Pentagon entfernt, als der Anschlag auf das Pentagon passierte?

Vitillo: Etwa zwölf Kilometer. Ich kenne einen Priester, der als Seelsorger im US-Senat diente. Er wurde zusammen mit den Mitgliedern des Senats und des Repräsentantenhauses sowie mit vielen wichtigen Mitarbeitern in einen sicheren und geheimen Bunker evakuiert. Es dauerte viele Stunden, bis er uns telefonisch erreichen konnte, um uns zu versichern, dass er am Leben und wohlauf ist.

War Ihnen bewusst, dass sich ein Kampf der Kulturen anbahnen würde?

Vitillo: Mir war klar, dass die Welt voller ideologischer Extreme ist und die wahre Religion instrumentalisiert und verzerrt wird, um Gewalt zu rechtfertigen. Aber ich war mir nicht bewusst, dass es diesen Extremisten gelingen könnte, solch gut geplante gewalttätige Anschläge in den USA zu verüben. Leider hat sich diese Gewalt später wiederholt – in anderen Teilen der Welt, einschliesslich Europa.

«Wir brauchen den langsamen Aufbau von Vertrauen und Respekt vor der Würde aller Menschen.»

Hat der Westen mit der Intervention in Afghanistan versagt?

Vitillo: Eine westlich geprägte Kultur und Demokratie in alteingesessenen, traditionellen Gesellschaften zu installieren – das kann nicht aufgezwungen werden. Wir brauchen den langsamen Aufbau von Vertrauen und Respekt vor der Würde aller Menschen – und die Hoffnung auf eine Änderung der gewalttätigen und ungerechten Verhaltensweisen.

Welche Impulse für den Frieden zwischen den Religionen waren für Sie wichtig?

Vitillo: Zwischen 2009 und 2016 hatte ich das Privileg, bei der Koordinierung von vier Gipfeltreffen zwischen christlichen und muslimischen Religionsführern mitzuwirken, an denen auch Beobachter aus dem Judentum teilnahmen. Natürlich kannte ich die gemeinsamen Werte dieser abrahamitischen Religionen. Aber erst durch den Dialog und die persönlichen Begegnungen habe ich den Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit verstanden, der alle Teilnehmer motivierte. Aus dieser Erfahrung heraus habe ich tiefe und dauerhafte Beziehungen zu einigen muslimischen und jüdischen Führungspersönlichkeiten entwickelt. Und eine meiner engsten Freundschaften, die aus den Dialogen hervorging, ist die mit einem schiitischen muslimischen Gelehrten. Er wurde von der franziskanischen Spiritualität zutiefst inspiriert. Franziskus’ Besuch beim Sultan vor etwa 800 Jahren ist also immer noch lebendig unter Menschen, die von der Gnade Gottes erfüllt sind.

Ihre Organisation ist in vielen Ländern aktiv. Was denken Sie über die Krise in Afghanistan?

Vitillo: Schon lange vor meinem Dienstantritt als Generalsekretär der Internationalen Katholischen Migrationskommission (ICMC) haben wir uns in Afghanistan engagiert. Wir haben uns auf Witwen und Waisenkinder konzentriert, die zu den schwächsten Mitgliedern der afghanischen Bevölkerung gehören. Wenn ich Programmberichte lese, bin ich sehr beeindruckt von dem Mut unserer ausländischen und einheimischen Mitarbeiter. Wir waren nicht dort, um eine andere Kultur oder Ideologie aufzuzwingen, sondern um die besten Fähigkeiten und Talente der Einheimischen zur Geltung zu bringen und den Afghanen zu helfen, die gleiche Würde und die gleichen Talente von Frauen und Männern zu erkennen. Ausserdem haben wir uns während unserer Zeit dort stark für die Bildung von Mädchen eingesetzt.

Was hören Sie aktuell aus Afghanistan?

Vitillo: Ehemalige Mitarbeiter machen sich Sorgen, dass ihre frühere Tätigkeit für eine katholische Organisation sie in Gefahr bringen könnte. Wir hoffen und beten aufrichtig, dass sie Zugang zu einer sicheren Zukunft haben werden, wo immer diese auch sein mag. 

Wir schicken auch Experten in verschiedenen Zentren, um nach den Evakuierten in Südasien, im Nahen Osten und in Europa zu schauen. Und ich weiss, dass das nationale Mitglied der Bischofskonferenz des ICMC sehr aktiv ist, um ähnliche Dienste für die afghanischen Flüchtlinge zu leisten, die direkt in die Vereinigten Staaten gebracht wurden.

Es gibt Städte in der Schweiz, die sich gerne um Flüchtlinge aus Afghanistan kümmern würden – aber das Asylgesetz steht ihnen im Weg. Muss das Asylgesetz geändert und grosszügiger werden?

Ich hoffe aufrichtig, dass alle Länder, die die Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet haben, und auch diejenigen, die sie nicht unterzeichnet haben, die Grundsätze der Konvention respektieren, insbesondere den Zugang zu Asyl vor Verfolgung und die Nichtzurückweisung. Ich hoffe, dass viele Länder den Afghanen, die ausserhalb ihres Heimatlandes um Asyl nachsuchen, die Möglichkeit zur Neuansiedlung bieten werden, wie dies in der Vergangenheit bei vielen Flüchtlingsströmen der Fall war. In den USA, in Europa und anderswo gibt es zahlreiche Belege dafür, dass Flüchtlinge in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht einen positiven Beitrag zu diesen Aufnahmeländern leisten.

Was wünschen Sie sich für die Afghanistan-Konferenz, die am Montag in Genf beginnt?

Vitillo: Meine Hoffnung ist dieselbe, die Papst Franziskus am 29. August geäussert hat: «Ich bitte alle, weiterhin den Bedürftigen zu helfen und zu beten, dass Dialog und Solidarität zu einem friedlichen und brüderlichen Zusammenleben führen und Hoffnung für die Zukunft des Landes geben.»

* Monsignore Robert Vitillo ist US-Amerikaner und hat an vielen Orten in vielen Organisationen gearbeitet. Während der AIDS-Krise engagierte er sich ebenso wie später bei Caritas Internationalis. Seit 2005 ist er in Genf. Zunächst als Leiter der Delegation von Caritas Internationalis. Seit 2016 ist er Generalsekretär der International Catholic Migration Commission (ICMC). Am Montag tagt in Genf eine Afghanistan-Konferenz, an der auch Aussenminister Ignazio Cassis teilnehmen wird.

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/franziskus-mann-fuer-fluechtlinge-in-genf-war-am-9-11-in-washington/