Die Forderungen der Siebten Schweizer Frauen*synode 2020/21

Wirtschaft ist Care

Die folgenden vier Forderungen sind das Resultat eines fast fünfjährigen Denkprozesses der Siebten Schweizer Frauen*synode. Sie wurden am 4. September 2021 anlässlich der pandemiebedingt redimenisonierten Schlussveranstaltung der Synode in Sursee per Akklamation verabschiedet und sind durch eine breite Email-Umfrage gestützt. Sie skizzieren notwendige Veränderungen in vier gesellschaftlichen Bereichen und erheben nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Jeder einzelne transformierende Schritt in die richtige Richtung ist wertvoll als Baustein für die in Gang befindliche gesamtgesellschaftliche Umorientierung hin zu einer Wirtschaft und Politik, die sich als Sorge füreinander und für den verletzlichen gemeinsamen Lebensraum Welt verstehen:

1. Das Sendegefäss «SRF Börse» soll durch ein Sendegefäss «SRF Zukunft» ersetzt werden.

Seit 2006 berichtet SRF, das öffentlich-rechtliche Fernsehen der deutschsprachigen Schweiz, jeden Werktag Abend zur besten Sendezeit – um 19.25h, vor der Hauptausgabe der Tagesschau – über das Geschehen an der Börse. Vergleichbare Sendegefässe für eine zukunftsweisende Care-zentrierte Ökonomie gibt es nicht. Zwar wird hin und wieder über Themen wie den Pflegenotstand, die Care-Migration oder unbezahlte Hausarbeit berichtet. Die Initiative für solche Sendungen liegt aber bei einzelnen Redakteur*innen, sie hat in der Programmsystematik keinen festen Ort.

Während «SRF Börse», was den Ort und die Gestalt des Sendgefässes angeht, mit «SRF Meteo» korreliert und damit nahelegt, es handle sich bei der Börse um eine Art Naturgeschehen, wird der grösste Sektor fast immer als «Frauenthema» und als lästiger «Kostenfaktor» präsentiert. Gleichzeitig erscheinen Frauen noch immer stereotyp als defizitäre Gruppe, die endlich «aufholen» und «in die Wirtschaft integriert» werden muss.

Wir wollen den Ersatz von «SRF Börse» durch eine allabendlich vor der Hauptausgabe der Tagesschau ausgestrahlte Sendung «SRF Zukunft». In dieser Sendung soll die ganze Breite des Wirtschaftsgeschehens in die Perspektive einer enkeltauglichen Weltgesellschaft gestellt und sollen dem Publikum best-practice-Beispiele zur Verbesserung des menschlichen Wohlergehens weltweit und zum sorgfältigen Umgang mit der menschlichen und nichtmenschlichen Natur nahegebracht werden. 

2. Es braucht Care-zentrierte Ökonomik in der universitären Forschung und Lehre.

Diese Forderung ist bereits an mehreren Orten unterwegs. Wir wollen die laufenden Vorstösse unterstützen und so der Forderung nach einer zukunftsfähigen Ökonomie und Ökonomik Nachdruck verleihen: Am 23. September 2020 hat die SP-Politikerin Tamara Funiciello im Nationalrat die Motion 20.4059 eingereicht. Die Motion hat den Titel «Blinden Fleck beseitigen. Lehrstuhl für feministische Ökonomie schaffen!»[1] Sie wurde von verschiedenen Organisationen unterstützt, zum Beispiel vom Schweizerischen Institut für feministische Rechtswissenschaft FRI[1] und der Gruppe «Rethinking Economics». Am 18. November 2020 wurde sie vom Bundesrat abgelehnt mit der Begründung, es gebe schon mehrere einschlägige Berichte, und die Hochschulen seien «im Rahmen der Vorgaben ihrer kantonalen Trägerschaften in der Definition von Lehre und Forschung autonom.» 

In St. Gallen ist seit 2019 eine Gruppe von Frauen im Gespräch mit der dortigen Universität. Sie fordert einen Lehrstuhl für Care-zentrierte Ökonomik und zeitnah die Aufnahme entsprechender Inhalte ins Pflichtfach Makroökonomie, ins Kontextstudium und ins Studium Generale. Auch an anderen Universitäten sind vergleichbare Initiativen im Gang.

Auch der Verein WiC (Wirtschaft ist Care) war in Sachen Wirtschaftswissenschaft bereits aktiv: In den Jahren 2016 bis 2019 hat er zwei Umfragen auf den Leitungsebenen der Deutschschweizer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereiche zum Stand der Care-Forschung durchgeführt mit dem Ergebnis, dass bisher nirgends schwerpunktmässig zum Thema geforscht und gelehrt wird.[2]

Die Frauen*synode fordert eine Stärkung von Forschung und Lehre zum grössten Wirtschaftssektor der un- und unterbezahlten Care-Arbeit an allen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereichen der Schweiz. Sinnvoll wären die Gründung von einschlägigen Instituten und/oder Lehrstühlen und die Einrichtung einer interuniversitären Dokumentations- und Koordinationsstelle zur Care-zentrierten Ökonomie. 

3. Es braucht eine gesicherte Existenz für alle Menschen, die unbezahlte Care-Arbeit leisten.

Die Ökonomin Mascha Madörin hat errechnet, dass man den Frauen in der  Schweiz jedes Jahr rund 100 Milliarden Franken vorenthält. Etwa ein Viertel davon entfällt auf die übliche Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern, der Rest auf die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Die Folgen sind prekäre Lebensverhältnisse für Frauen und oft auch für Kinder, mangelnde Spielräume und Armut, besonders im Alter. In der Schweiz wird jährlich unbezahlte Care-Arbeit im Umfang von mindestens 405 Milliarden Franken geleistet (gemäss BFS für das Jahr 2016). Diese Arbeit wird grösstenteils von Frauen erbracht, die dadurch in der Erwerbsphase, aber auch im Alter massive finanzielle Nachteile erleiden. Der sozialversicherungsrechtliche Schutz ist ungenügend. Einzig in der AHV wird die Betreuungsarbeit angerechnet, allerdings zu einem zu tiefen Ansatz. In der beruflichen Vorsorge sind Frauen deswegen sehr schlecht abgesichert. Die Betreuung sowohl von Kindern wie auch von pflegebedürftigen Menschen ist eine wichtige, wertvolle und unverzichtbare gesellschaftliche Aufgabe. Denn ohne die unbezahlte Care-Arbeit könnte unser gesamtes Wirtschafts- und Sozialsystem nicht überleben. Dies ist so wahr, dass allein die Erwähnung irgendeiner Entschädigung für diese Arbeit (direkt oder indirekt durch Anerkennung durch die Sozialversicherung) heftige Reaktionen in der politischen Welt hervorruft: es wäre zu teuer!

Die Frauen*synode fordert deshalb: Unbezahlte Care-Arbeit muss in den Sozialversicherungen abgebildet und in der Altersvorsorge abgegolten werden, im Sinne von «Wirtschaft ist Care».

4. Die Schweiz soll der Wellbeing Economy Governments Partnership beitreten.

Seit 2019 existiert mit der Wellbeing Economy Governments Partnership (WEGo) ein Zusammenschluss von Staaten, die sich verpflichtet haben, das Wohlergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich ins Zentrum ihrer Politiken zu stellen. Bisher haben sich Finnland, Island, Neuseeland, Schottland und Wales dem Bündnis angeschlossen, das seinerseits mit der globalen zivilgesellschaftlichen Initiative Wellbeing Economy Alliance kooperiert. Der Zweck des Bündnisses, dessen Sekretariat sich derzeit in Edinburgh befindet, besteht darin, sich über praktikable Instrumente zur Messung des Wohlbefindens auszutauschen und Massnahmen zu diskutieren, wie die vereinbarten Ziele, etwa verbesserte Gesundheit, menschengerechte Raumplanung oder Verkehrssicherheit erreicht werden können. Ein wichtiger Massstab sind dabei auch die von der UNO am 1. Januar 2016 in Kraft gesetzten siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung.

Wir wünschen uns, dass die Schweiz der Wellbeing Economy Governments Partnership beitritt. Wünschenswert wäre, dass alle Länder den Weg in eine Zukunft einschlagen, in der sich Wohlstand nicht mehr einseitig am BIP (Bruttoinlandsprodukt), sondern am Wohlbefinden aller Bewohner*innen misst.

Sursee, 04. September 2021


[1] https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204059

[2] http://www.genderlaw.ch/deutsch/gender-law-info/rechtspolitik/blinder-fleck-beseitigen.-lehrstuhl-fuer-feministische-oekonomie-schaffen.html

[3] https://wirtschaftistcaredotorg.files.wordpress.com/2017/11/wic-umfrage-2017-8-thesen.pdf

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