Polen: Fast 300 Geistliche seit 2018 wegen sexueller Gewalt angezeigt

Wegen des Missbrauchsskandals in Polens katholischer Kirche äussert deren Primas Erzbischof Wojciech Polak «grosse Scham, ungeheuren Schmerz und Mitgefühl» für die Betroffenen. Lange mied die Bischofskonferenz das Thema. Doch nun legte Polak bereits zum zweiten Mal nach 2019 Zahlen zum Ausmass der sexuellen Gewalt von Geistlichen gegen Kinder und Jugendliche vor.

Oliver Hinz

Gegen 292 Priester und Ordensleute gingen demnach zwischen Juli 2018 und Ende 2020 Missbrauchsanzeigen bei der Kirche ein. «Die statistischen Daten drücken nicht die ganze Tragödie des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen aus», betonte Polak.

Man müsse sich bewusst machen, dass nicht jeder Geschädigte die Tat melde, so der Erzbischof von Gnesen (Gniezno). Umso mehr drückte Polak seinen Respekt für jene aus, die über das ihnen zugefügte Leid sprächen. Fast die Hälfte der 368 Anzeigen zu Taten aus den Jahren 1958 bis 2020 stammten laut Kirchenangaben von Betroffenen, 19 Prozent von Geistlichen.

Happige Beträge

Janusz Szymik geht noch weiter. Er verklagt das Bistum Bielsko-Zywiec in Südpolen auf umgerechnet etwa 670’000 Euro Schmerzensgeld. Als er in den 80er Jahren Ministrant war, habe ihn ein Priester hundertfach sexuell missbraucht. 1993 und 2007 informierte Szymik den damaligen Ortsbischof Tadeusz Rakoczy darüber. Doch dieser habe nichts gegen den Geistlichen unternommen, sondern ihn im Gegenteil befördert. Erst 2015 unter dem neuen Ortsbischof Roman Pindel, Rakoczys Nachfolger, bestrafte die Kirche den Täter.

Polens Gerichte haben bereits über mehrere Schmerzensgeldforderungen gegen Bistümer und Ordensgemeinschaften entscheiden müssen. So verfügten sie etwa eine Zahlung von 230’000 Euro an eine Frau, die als Kind mehrfach von einem Ordensmann vergewaltigt wurde. Zu den Zivilprozessen kommt es auch deshalb, weil die Kirche in Polen im Gegensatz zu den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz bisher «Schadenersatzzahlungen» an Missbrauchsopfer ablehnt, die über eine Übernahme von Therapiekosten hinausgehen.

Bischöfe in der Pflicht

Sie sieht hierbei die Missbrauchstäter in der Verantwortung, nicht Bistümer und Orden. Doch allein seit März verhängte der Vatikan Disziplinarstrafen gegen fünf polnische Bischöfe wegen Versäumnissen im Umgang mit Missbrauchsfällen. Darunter sind neben dem emeritierten Bischof Rakoczy (83) auch der Danziger Alterzbischof Slawoj Leszek Glodz (75) und der 2020 zurückgetretene Bischof von Kalisch (Kalisz), Edward Janiak (68).

Zuletzt wurden die emeritierten Bischöfe von Grünberg (Zielona Gora) und Landsberg (Gorzow) gemassregelt, Stefan Regmunt (70) und Stanislaw Napierala (84). Alle fünf dürfen entweder in ihren ehemaligen Diözesen oder überhaupt an keinen öffentlichen Gottesdiensten mehr teilnehmen. Der Vatikan verpflichtete die Bischöfe zudem zur Zahlung eines «angemessenen» Geldbetrags an eine Kirchenstiftung, die Präventionsmassnahmen gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen unterstützt.

Vertuschungsvorwurf

In all diesen Fällen führten polnische Bischöfe die Untersuchungen gegen ihre Mitbrüder selbst durch. Mit der Prüfung des Vorwurfs der Vertuschung gegen einen der prominentesten Kirchenmänner Polens, Kardinal Stanislaw Dziwisz, beauftragte der Vatikan nun jedoch den Vorsitzenden des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und emeritierten Erzbischof von Genua, Kardinal Angelo Bagnasco.

Dziwisz galt für viele Polen bislang als unantastbar. Der 82-Jährige war Privatsekretär des heiligen Papstes Johannes Paul II. (1978-2005) und anschliessend bis 2016 Erzbischof von Krakau. Bagnasco besuchte Polen vom 17. bis 26. Juni, sah Dokumente ein und führte Gespräche, wie die Vatikanbotschaft in Warschau am Wochenende mitteilte. Seine Aufgabe war demnach «die Überprüfung der auch öffentlich signalisierten Vernachlässigung durch Kardinal Stanislaw Dziwisz während seiner Amtsführung als Metropolitan-Erzbischof von Krakau (2005-2016)».

Vertrauen erschüttert

Der italienische Kardinal werde nun dem Heiligen Stuhl über die Ergebnisse seiner Visite berichten. Dziwisz selbst hatte mehrfach eine unabhängige Untersuchung der Vorwürfe gegen ihn vorgeschlagen, die Anschuldigungen aber stets zurückgewiesen. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Stanislaw Gadecki, hatte sich bereits im November dafür ausgesprochen, dass der Vatikan die in einer polnischen TV-Reportage erhobenen Vorwürfe gegen Dziwisz prüft. Zugleich betonte er, «dass die Kirche in Polen dem Kardinal für seinen langjährigen Dienst an der Seite des heiligen Johannes Paul II. dankbar» sei.

Egal welches Urteil der Vatikan im Fall Dziwisz sprechen wird – die Missbrauchsskandale haben das Vertrauen der Polen in die Kirche massiv erschüttert. Die staatliche Aufarbeitungskommission für sexuellen Kindesmissbrauch erhöht jetzt den Druck auf die Kirche weiter. Sie verlangt die Herausgabe von Akten – wozu die Bischöfe bislang nicht bereit sind. (kna)


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