Was ein Katholik aus Eritrea mit dem Flüchtlingsparlament erreichen will: «Die Politiker sollen mit uns sprechen»

Es ist eine Schweizer Premiere: Am Sonntag kommen in Bern 75 Flüchtlinge zusammen und debattieren über Themen, die ihr Leben in der Schweiz tangieren – wie in einem Parlament. Mit dabei ist Shishai Haile (30). Der Katholik stammt aus Eritrea.

Barbara Ludwig

Sie gehören zu den rund 75 geflüchteten Menschen, die sich seit Ende April auf die erste Flüchtlingssession vorbereiten. Warum machen Sie beim ersten Flüchtlingsparlament der Schweiz mit?

Shishai Haile: Die Idee für das Flüchtlingsparlament entstand letztes Jahr im Rahmen einer Weiterbildung beim National Coalition Building Institute Schweiz Wir unterhielten uns über die Jugendsession, die in der Schweiz Tradition hat, und die Frauensession, die diesen Herbst zum zweiten Mal seit 1991 stattfindet. Wir stellten fest: Es gibt keine Flüchtlingssession. Niemand hört unsere Stimme: Die Politikerinnen und Politiker sprechen über uns. Sie fällen Entscheide, die uns betreffen. Aber sie sprechen nicht mit uns. Das soll sich mit dem Flüchtlingsparlament ändern. Es wäre schön, wenn die Entscheidungsträger zuerst mit uns sprechen würden – und erst danach entscheiden. Das ist unser Ziel.

Im Flüchtlingsparlament gibt es neun Kommissionen zu unterschiedlichen Themen. Sie sind Vorsitzender der Kommission Bildung und der Kommission Gesundheit. Warum engagieren Sie sich in diesen Bereichen?

Haile: In der Schweiz leben so viele junge Geflüchtete und unbegleitete Minderjährige. Wenn sie die Chance bekommen, eine Ausbildung zu absolvieren, haben sie gute Perspektiven. Die Flüchtlinge profitieren, aber auch die Schweizer Gesellschaft. Aus diesem Grund wollte ich mich in der Kommission Bildung engagieren.

«Lange Zeit konnte ich mit niemandem über den Tod meiner Freunde auf der Flucht sprechen.»

Was das Thema Gesundheit betrifft: Zahlreiche geflüchtete Menschen sind krank oder haben psychische Probleme. Ich begleite solche Menschen im Rahmen eines Projektes. Oft haben Flüchtlinge Mühe, über seelische Krankheiten zu sprechen. In der Kultur meines Heimatlandes zum Beispiel sind psychische Probleme tabu. Ausserdem kenne ich das Leben auf der Flucht. Ich habe so vieles erlebt unterwegs.

Waren Sie persönlich von Krankheit betroffen?

Haile: Auf der Flucht sind zwei meiner Freunde ums Leben gekommen. Als ich in der Schweiz ankam, war ich traumatisiert. Lange Zeit konnte ich mit niemandem über die Erlebnisse auf der Flucht und den Tod meiner Freunde sprechen. Was mir schliesslich sehr geholfen hat, waren die Gespräche mit meinem spirituellen Begleiter, einem katholischen Priester. Die Vorschläge der Kommission Gesundheit zielen darauf ab, den Zugang geflüchteter Menschen zur Beratung durch Psychologen und Psychotherapeuten zu verbessern.

Was haben Sie gelernt durch das Mitmachen beim Flüchtlingsparlament?

Haile: Jede Kommission hat sich insgesamt vier Mal zu Zoom-Konferenzen getroffen. An diesen Sitzungen habe ich viel von anderen Geflüchteten erfahren: Sie haben von ihren Problemen erzählt und ihre Wünsche und Anliegen formuliert. Ich habe auch ihre Motivation gespürt, ihre Lust und den Mut, etwas zu verändern.

Wir haben uns intensiv über das Leben in der Schweiz ausgetauscht, zum Beispiel über das Ausbildungssystem und das Gesundheitssystem. Am Schluss hat jede Kommission drei Empfehlungen oder Forderungen formuliert. Diese werden an der kommenden Session des Flüchtlingsparlaments diskutiert.

«Hoffnung geben uns die Frauen.»

An den Kommissionssitzungen haben auch Fachleute und Politiker teilgenommen.

Haile: In der Gesundheitskommission haben wir zwei Fachfrauen vom Roten Kreuz empfangen, die uns mit ihren Ideen unterstützten. Bei der Kommission Bildung hatten wir zwei Fachpersonen, eine Spezialistin für Integration und einen Juristen der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht. Politiker kamen nicht zu uns, aber es haben welche an Sitzungen anderer Kommissionen teilgenommen. Dann gab es Journalisten, die sich für uns interessierten.

Was erhoffen Sie sich vom Flüchtlingsparlament?

Haile: Ob die Schweizer Parlamentarier eine oder mehrere unserer Forderungen aufgreifen, weiss ich nicht. Hoffnung geben uns die Frauen. Sie sind mit ihrer Frauensession seit 1991 dran und haben nicht aufgegeben. Die Frauen sind unser Vorbild.

«Ich glaube an die Zukunft – auch weil ich Christ bin.»

Glauben Sie, dass sich dank des Flüchtlingsparlaments die Situation geflüchteter Menschen in der Schweiz tatsächlich verbessern kann?

Haile: Ja. Denn ich glaube an die Zukunft – auch weil ich Christ bin und an Gott glaube. Wenn wir die Heilige Schrift lesen, sehen wir: Viele wichtige Figuren der Bibel waren auf der Flucht – Abraham, Moses, die Heilige Familie. Alle waren auf der Flucht.

Warum gibt Ihnen das so viel Hoffnung?

Haile: Die Fluchtgeschichten in der Bibel geben mir die Hoffnung, selber eine neue Heimat zu finden. Es waren zielstrebige Menschen mit einer Mission. Das motiviert mich und gibt mir Mut, mein Ziel weiterzuverfolgen. Sie sind für mich ein Vorbild.


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