Jenseits von «Verirrung» und «Schande» – was das Neue Testament zu Homosexualität sagt

Verurteilt das Neue Testament homosexuelle Beziehungen scharf? Wer die Texte und das heutige Verständnis von Homosexualität ernst nimmt, kommt zu einem anderen Ergebnis. In der exegetischen Literatur ist davon seit Jahren zu lesen, schreibt Theologieprofessorin Hildegard Scherer in einem Gastbeitrag.

Hildegard Scherer*

Gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken – nicht: Beziehungen – sind Thema dreier Stellen aus den paulinischen Briefen. Im Römerbrief (Röm 1,26f.) heisst es nach der Einheitsübersetzung:

Kontext dieser Zeilen sind die Taten von Menschen, die Gottes Wirken nicht aufgrund seiner Schöpfung anerkennen wollen. Paulus zufolge «übergibt» Gott Menschen, die sich der Gotteserkenntnis verweigern, der Unreinheit, dem zwischenmenschlichen Fehlverhalten – und den genannten Praktiken. Damit ruft Paulus ein traditionelles Klischee auf, wie  Menschen an Gottes Rechtsordnungen scheitern.

Gleichgeschlechtliche sexuelle Praxis erscheint als charakteristisch für «Heiden». Sie ist Randthema in einer umfassenden Argumentation, der zufolge fremde Völker wie Gottes Volk nicht aufgrund ihrer eigenen – nie zu erreichenden – Gerechtigkeit von Gott angenommen sind, sondern allein aufgrund seiner Zuwendung.

«Affektiv gesteuerte Praktiken, nicht Orientierung»

Im Text wird vorausgesetzt, dass Frauen und Männer sich von einem «natürlichen» sexuellen «Gebrauch» (wörtlich) anderer abwenden: Die Frauen «vertauschen», die Männer «geben auf». Bei den Frauen ist nicht einmal klar, worin dieser «Gebrauch» besteht. Auch Normabweichendes zwischen Frauen und Männern ist denkbar. Bei den Männern dagegen führt brennende «Begierde» dazu, dass (wörtlich) «Männer unter Männern die Schandtat begehen». Dies gilt als «Verirrung» und zieht eine nicht definierte Folge nach sich.

Der Text bespricht also affektiv gesteuerte Praktiken, nicht sexuelle Orientierung. Denn Menschen  mit homosexueller Orientierung geben keinen «natürlichen Gebrauch» eines anderen Geschlechts auf. Sie entscheiden nicht, Liebe und Intimität so oder anders zu empfinden. Sie haben die hier vorausgesetzte Wahl schlichtweg nicht. Also können sie nicht gemeint sein. Paulus geht vielmehr von grundsätzlich heterosexuellen Beziehungen aus, die aus Begierde durchbrochen werden.

«Männer hatten in sexuellen Beziehungen den aktiven Part zu spielen, Frauen den passiven.»

Wenn Paulus dabei von Schande schreibt, entspricht dies antikem Verständnis: Männer hatten in sexuellen Beziehungen den aktiven Part zu spielen, Frauen den passiven. Wenn aber erwachsene Männer, in aller Regel vor der oder parallel zur gesellschaftlich erforderlichen Ehe, untereinander sexuellen Kontakt hatten, «schändete» dies die gegebenenfalls «passiven» Partner – Sklaven, Abhängige, Unterlegene –, die aus ihrer männlich-aktiven Rolle fielen.

Dies wirft auch Licht auf die Aufzählung in 1 Kor 6,9f., der zufolge «bei Männlichem Liegende» das Reich Gottes nicht erben (vgl. 1 Tim 1,10): Nach antiker Vorstellung demütigen sie einen «passiven» Partner schwer.

Wer in solchen kulturellen Mustern lebt, kann sich wohl eine liebevolle, stabile Partnerschaft zwischen Menschen gleichen Geschlechts nur schwer vorstellen. Das heutige Wissen um Homosexualität, die heutige Begrifflichkeit hatte Paulus nicht.

Gleiches gilt auch für seine Quellen der biblisch-jüdischen Tradition, welche die Beziehung zwischen Mann und Frau in der Schöpfung verankert sahen. Vielleicht hatte Paulus aufgrund seiner Menschenkenntnis eine Ahnung davon, dass einige anders empfinden als die übermächtige Mehrheit – auch solche mit grösster Selbstbeherrschung und tiefster Gottesliebe.

In Christus gibt es nicht «männlich und weiblich»

Die jungen christlichen Gemeinden mit ihrer Taufüberzeugung, in Christus gebe es nicht «männlich und weiblich» (Gal 3,28; vgl. Gen 1,27), hätten ihnen Raum bieten können. Vielleicht konnte Paulus auch nicht über seinen Schatten springen.

Homosexualität nach heutigem Verständnis hat er jedenfalls nicht im Blick – als eine natürliche Variante menschlicher Sexualität (Weltärztebund 2013), die Teil eines umfassenden Beziehungslebens ist.

* Hildegard Scherer ist Professorin für Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur.


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