Clean durch Glauben – Teil 2

Bei der Selbsthilfegruppe «Narcotics Anonymous» (NA) unterstützen sich Drogenanhängige gegenseitig. Die «zwölf Schritte» zur Genesung eröffnen vielen Betroffenen den Zugang zum Glauben und einem spirituellen Leben.

Alice Küng

Bevor die junge Frau mit Brille die Leitung wieder an Manuel* übergibt, liest sie: «Dies alles hört sich wie eine riesige Aufgabe an, und wir können diese sicherlich nicht auf einmal bewältigen.» Dann erwidern alle Anwesenden synchron: «Hab Geduld!»

Für viele NA-Teilnehmer seien die zwölf Schritte der Weg zu einem «spirituellen Leben». «Sie führen zum Glauben an eine höhere Macht», sagt Stefan*. Einige entdecken ihre christlichen Wurzeln neu. Andere beginnen mit Yoga oder Meditation.

«Durch das Erarbeiten der zwölf Schritte von NA haben wir ein spirituelles Erwachen», sagt Stefan. Das war auch bei Ben* der Fall. «Seit ich regelmässig an den Meetings teilnehme, hat Spiritualität in meinem Leben einen Platz gewonnen.»

Neuorientierung durch NA

Die Vergangenheit mit jahrelanger Drogensucht ist den Teilnehmenden nicht anzusehen. Sie machen einen gesunden und gepflegten Eindruck. Das Alter ist gemischt. Die Gruppe würde auch als Philosophierunde durchgehen.

«Seit ich bei NA bin, habe ich einen gesunden Lifestyle.»

Die Abhängigen verändern sich in der Abstinenzphase stark. Stefan erklärt: «Die meisten orientieren sich durch NA neu.» Sie brechen mit ihrem alten Leben, setzen neue Prioritäten. «In der Sucht steht das eigene Ego im Vordergrund.»

Beim Clean-Sein gehe es um Spiritualität. «Die Menschen werden gelassener, liebevoller und einfühlsamer.» So war es auch bei Ben. «Seit ich bei NA bin, habe ich einen gesunden Lifestyle.» Wenn er versucht sei, zu konsumieren, bete er.

Und was glauben die Atheisten?

Neben den Wasserflaschen auf dem Tisch steht ein kleiner Holzständer mit farbigen Plaketten. «Wer ist clean seit 24 Stunden?», fragt Manuel in die Runde. «30 Tage? 60 Tage?»

Bei sechs Monaten erhebt ein Mann mit Millimeterhaarschnitt die Hand. Alle beginnen zu klatschen. «Gratulation», sagt Manuel und fragt, ob er schon einen Chip habe – eine Art interne Auszeichnung. «Ja», sagt der Angesprochene und strahlt.

Für einen Atheisten wäre es laut Stefan wohl schwieriger, die zwölf Schritte zu erarbeiten und zu einem Glauben zu kommen. «Diesen Menschen empfehlen wir, an irgendetwas zu glauben, das nicht sie selbst sind.» Er nennt zum Beispiel Liebe, Demut oder Vertrauen. «Das sind ethische Prinzipien, mit denen sich auch ein Humanist identifizieren kann.»

Nicht religiös, aber spirituell

Nach der Vergabe der Plaketten, mit denen die Clean-Geburtstage gefeiert werden, folgt der Tagestext. Die Frau mit den kurzen Haaren liest einen Text zur Selbstannahme. Dann folgt eine dreiminütige Schweigemeditation. Es ist still. Nur ein Automotor ist zu hören.

«Ich muss die Wahrheit in mir selbst entdecken.»

Während im NA-Programm viel von Spiritualität gesprochen wird, distanziert sich die Selbsthilfegruppe klar vom Stempel «religiös». Laut Stefan sei NA spirituell, aber nicht religiös in einem dogmatischen Sinne. Es werde den Teilnehmer*innen die Wahl überlassen, das Gefäss der höheren Macht selbst zu definieren. Das werde nicht von aussen diktiert. «Ich muss die Wahrheit in mir selbst entdecken», pflichtet Ben bei.

Alkohol, Medikamente und Methadon

Manuel sagt: «Auch Alkohol ist eine Droge.» «Punkt», antworten die andern gemeinsam. Die vorgelesenen Texte erinnern an die Auswirkungen von Drogen.

Ärztlich verschriebene Medikamente zählt NA nicht zu den Drogen. «Methadon ist für uns aber eine Droge», sagt Stefan. Wer mit Methadon substituiert, ist aber genauso willkommen bei NA. «Wir sind offen für alle.»

Irgendwann würden die meisten aber auch mit Methadon aufhören. Oder sie kämen nicht mehr. NA zwinge aber niemanden zu irgendetwas. «Bei uns ist alles freiwillig. Wir haben keine Erwartungen.»

Drei Minuten zum Teilen

Seit der Eröffnung des Meetings sind bereits etwa 20 Minuten verstrichen. Jetzt beginnt die Selbsthilfegruppe mit dem «Teilen». «Jeder, der etwas sagen möchte, hat drei Minuten Zeit», sagt Manuel. Es werde weder gewertet noch kommentiert.

«Ich habe meinen Willen an Gott abgegeben.»

Das Geburtstagskind ergreift als erstes das Wort. «Ich bin Fabio* und bin süchtig», stellt er sich vor. «Hallo Fabio», erwidern die andern. Er erzählt, wie er es geschafft hat, die vergangenen Monate ohne Drogen durchzuhalten.

«Ich habe meinen Willen an Gott abgegeben.» Dann hebt Manuel das Blatt mit seinen Notizen und gibt dem Sprechenden so ein Zeichen, dass seine Zeit abgelaufen ist. «Danke, ich habe geschlossen», endet Fabio.

«Ich bin süchtig»

Weitere Anwesende und virtuelle Teilnehmer melden sich zu Wort. Jeder stellt sich mit Namen vor und fügt hinzu: «Ich bin süchtig.» Die junge Frau mit der Brille erzählt von ihrer Angst, rückfällig zu werden. «Ohne höhere Macht wäre ich nie so lange clean geblieben.» Seit ihrem letzten Konsum sind sieben Monate verstrichen.

Nach einer halben Stunde schliesst Manuel die Runde. «Wer etwas für die Raumkosten und den Unterhalt der Meetings spenden möchte, kann das nachher tun.» Einige Teilnehmer beginnen in ihren Taschen nach Bargeld zu wühlen.

Gott, gib mir Gelassenheit

Es ist halb acht. Das Meeting neigt sich dem Ende zu. «Wer ist clean nur für heute?», fragt Manuel. «Nur für heute», sagen alle im Chor. Zuletzt liest er das Gelassenheitsgebet: «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

«Kommst du auch noch was trinken?»

Applaus. Dann stehen die anonymen Drogensüchtigen auf. Sie versammeln sich draussen vor dem Quartierzentrum. Die Sonne scheint. «Kommst du auch noch was trinken?», fragt ein Mann mit grauen Haaren. Ben nickt. «Alkoholfrei natürlich», sagt er und grinst.

*alle Namen geändert


Clean durch Glauben

Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

https://www.kath.ch/newsd/clean-durch-glauben-teil-2/