Jesuiten-App mit Pilgerwegen: Christoph Albrecht wandert mit Flüchtlingen auf Canisius’ Spuren

Pilgern boomt. Die Jesuiten reagieren darauf mit einer Pilger-App. Der Jesuit Christoph Albrecht (55) wandert mit zwei Geflüchteten vom Lasalle-Haus nach Zürich. Der Weg über Felsen, Steine und Wiesen erinnert Hasan und Karim an eine harmlose Variante ihrer Flucht.

Vera Rüttimann

Christoph Albrecht wartet an diesem Morgen auf seine zwei Begleiter. Sie werden mit ihm vom Lassalle-Haus in Bad Schönbrunn bis in den Kanton Zürich wandern. Die ausgewählte Strecke ist Teil des Canisius-Weges. Das ist eine Pilgerreise, die durch die neu gegründete Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten führt.

Den Weg mit geflüchteten Menschen gehen

Seit Dienstag gibt es die Schweizer Provinz nicht mehr. Statt Provinzial Christian Rutishauser führt nun Bernhard Bürgler die Geschicke der Jesuiten. Und zwar von München aus für Zentraleuropa: Schweiz, Deutschland, Österreich, Litauen, Lettland und Schweden.

Der Jesuit Christoph Albrecht engagiert sich in der Flüchtlingsarbeit. «Ich wollte diesen Weg mit geflüchteten Menschen gehen», sagt er. Die Wahl fiel auf Hasan und Karim.

«Ich möchte in Frieden leben»

Fünf Stunden lang sind die drei Männer unterwegs. Sie gelangen nach Edlibach, Neuheim und Sihlbrugg. Der höchste Punkt ist das Albishorn. Auf der Karte sehen die Männer das Endziel: die Notunterkunft für abgewiesene Asylsuchende in Adliswil ZH. Zweimal pro Woche besucht Christoph Albrecht das Nothilfelager. So hat er auch Hasan und Karim kennen gelernt.

Die Wandergruppe streift vorbei an idyllisch gelegenen Bauernhöfen, sanften Hügeln und durchquert frühlingshafte Wiesen. Nach ein paar Stunden erreichen sie das Naturschutzgebiet Sihlwald. Hasan erzählt beim Gehen seine Lebensgeschichte. Der 23-jährige Afghane ist als Flüchtling im Iran geboren und aufgewachsen. Afghanen werden im Iran diskriminiert. «Ich möchte in Frieden leben», sagt Hasan auf die Frage, warum er die Flucht nach Europa auf sich nahm.

Mit dem Schiff nach Griechenland

Wenn er von seiner Flucht erzählt, bebt seine Stimme. Er kam vom Iran in die Türkei. Von dort ging es per Schiff nach Griechenland. Dann weiter nach Mazedonien. Von Serbien ging es nach Österreich. «Zu Fuss», wie er betont. Von Deutschland fuhr Hasan 2016 schliesslich mit dem Zug in die Schweiz.

Als er sich hier bei der Polizei meldete, schickte sie ihn in das Asylzentrum in Kreuzlingen. Es folgte eine lange Zeit des Wartens. Nach zwei Jahren kam der Negativbescheid der Migrationsbehörde. «Sie wollten mich für 4000 Franken zurück nach Afghanistan schicken. Ein Land, in dem ich nie gelebt habe.»

Die Eltern sind in der Türkei

Auf der Wanderung kommt die Frage auf: Was gibt ihm Kraft? «Ich muss kämpfen, immerzu kämpfen», sagt Hasan, während er durch den Sihlwald stapft. Kraft geben ihm seine Freunde. Anfangs hatte er keine Freunde in der Schweiz. Er konnte noch kein Wort Deutsch. Nach einem Jahr Sprachtraining in einem Deutschkurs änderte sich das. Sozialen Anschluss fand er im Sport. Er spielt seit drei Jahren mit anderen Männern zusammen in einem Fussballclub in Zürich: «Mein Hobby ist Fussball.»

Seine Eltern leben in der Türkei. Mit der Mutter skypt er regelmässig. Hasan möchte bei den Migrationsbehörden ein Härtefallgesuch einreichen. Er hofft, dass in den nächsten 24 Monaten eine positive Antwort kommt. Damit könnte er eine Ausbildung machen und Arbeit finden. Hasans Traum: «Ich möchte als Kleiderverkäufer arbeiten. Früher arbeitete ich in einem Laden in Teheran.»

Religion nicht so wichtig

Hasan ist Muslim. Die Religionszugehörigkeit ist ihm nicht so wichtig. Er sagt: «Viel wichtiger ist, dass man mit den Leuten offen und freundlich umgeht.»

Nun geht es auf einem schmalen Grat entlang Richtung Albishorn. Auch Karim erzählt von sich. Der Iraner lebt in der Notunterkunft in Adliswil. Bevor er dorthin kam, flüchtete er aus seiner Heimat in die Schweiz. Er sei im Iran politisch verfolgt worden, sagt er. Sein Bruder sei sogar umgebracht worden.

«Ich habe Freunde am Strang sterben sehen»

«Ich konnte dort nicht bleiben», sagt der 43-Jährige. Als Sunnit sei er aufgrund seiner Religionsangehörigkeit ständig bedroht. «Ich musste alles zurücklassen: Meine Kinder, meine Frau und mein Haus», sagt er. Auch sein Lastwagen, der ihm in seiner Heimatstadt im Iran den Lebensunterhalt sicherte. «Wenn ich im Iran geblieben wäre, wäre ich jetzt tot», sagt Karim. «Ich habe Freunde und Kollegen am Strang sterben sehen.»

Mit dem Thema Religion hat Karim abgeschlossen. Er sagt: «Ich habe keine Religion mehr.» 2015 machte er sich auf die Flucht, die ihn per Flugzeug, Schiff und zu Fuss über mehrere Länder in die Schweiz brachte.

Erst Willkommenskultur – dann Ausschaffung?

Einer der Orte, wo Karim als Sans-Papier hingebracht wurde, war das Asylzentrum in der Juchstrasse in Altstetten. Schon nach wenigen Monaten in der Schweiz erhielt er vom Staatssekretariat für Migration (SEM) einen Negativentscheid.

«Wie kann es sein, dass ein Land Flüchtlinge erst willkommen heisst – und uns dann doch wieder so rasch wie möglich ausschaffen will?», fragt sich Karim. Die meisten Leute hier hätten keine Vorstellung, wie die Situation im Iran sei. Mittlerweile ist er von seiner Frau, die im Iran lebt, geschieden. Wie Hasan klammert Karim sich an das Härtefallgesuch.

Pilgern ohne Gebet

Die Wanderung geniesst er, obwohl ihn das Gehen über Felsen, Steine und Wiesen schmerzhaft an seine Flucht erinnern. An Tage, an denen er mit Fremden in Zelten im Wald geschlafen hat. An Abende und Nächte, wo er mit Geflüchteten in der freien Natur gekocht und gegessen, oft aber auch gehungert hat – und mit ihnen die Angst vor Entdeckung aushalten musste.

Auf dem ganzen Weg wird kein Gebet gesprochen. Christoph Albrecht ist bewusst zurückhaltend, sagt er. Er spreche aus «Rücksicht auf die religiösen Gefühle» von Geflüchteten keine Gebete. Es sei denn, er werde zum Gebet eingeladen.

An der Befreiung arbeiten

Trotzdem hat für den Jesuiten diese Wanderwege viele spirituelle Momente. Einerseits gehen er und die beiden Männer bestimmte Wegstrecken bewusst im Schweigen. Andererseits kommt es zu tiefgründigen Gesprächen. «Wenn Karim mir erzählt, dass der Glaube als Kriegsgrund missbraucht werde, und er sich nun nicht mehr als Muslim fühle, dann kann ich ihm nicht einfach meinen lieben Gott vorführen», sagt Christoph Albrecht.

Der 55-Jährige möchte den Geflüchteten auf Augenhöhe begegnen. Er orientiert sich am Wort eines Aborigines aus Australien, der sagte: «Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen, dann verschwendest du deine Zeit. Doch wenn du gekommen bist, weil deine Befreiung verbunden ist mit meiner, dann lass uns zusammenarbeiten.»

Wandern ist keine Flucht

Christoph Albrecht sagt: «Mir war wichtig, bewusst zu werden, was Geflüchtete für Wege zurücklegen. Und unter welchen Bedingungen sie unterwegs sind.» Der heutige Spaziergang sei allerdings mit keiner Flucht vergleichbar. «Wir sind hier keiner der Gefahren ausgesetzt, die Geflüchteten oft drohen.»

Vor der Notunterkunft Adliswil werden Christoph Albrecht, Karim und Hasan von Freunden erwartet. Klappstühle, Bänke, Tee und Süssfrüchte werden vor dem Eingang platziert. Es besteht ein Besuchsverbot. Die Gespräche am Eingang der Notunterkunft dauern noch lange. Irgendwann wird Christoph Albrecht herzlich verabschiedet. Auf der Zugfahrt nach Zürich resümiert er: «Das gemeinsame Unterwegs-Sein habe ich heute sehr geschätzt.»

Der Weg zum Heiligen Boden

Der Jesuit fühlt sich an Moses’ Weg auf den Horeb erinnert: «Wenn wir uns an diese Orte am Rande der Gesellschaft begeben, ist es gut, gerade dort den heiligen Boden zu erkennen und offen zu sein für das Wort der Befreiung.» Der erste Schritt sei immer, die Not zu sehen und die stummen Schreie zu hören, sagt Christoph Albrecht. Und der zweite Schritt? Das sei die Hoffnung auf die Verheissung Gottes – und der gemeinsame Weg in eine menschenwürdige Zukunft.


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