«Zu zivilisiert, um das Spiel von Eros und Thanatos im Stierkampf zu ertragen.»

Nationales Heiligtum oder Tierquälerei? Am Stierkampf scheiden sich die Geister. Vermehrt wünschen Spanier das Ende dieser Tradition. Der Freiburger Kirchenhistoriker Mariano Delgado spricht von einem Ritual zur Todesbedrohung zwischen Tier und Mensch. Im Zug einer Humanisierung droht die Gesellschaft sich von diesem zu entfremden, sagt der gebürtige Spanier.

Georges Scherrer

Die Corrida ist kein Sport, sondern ein Ritual, schreibt der deutsch-amerikanische Literaturprofessor Hans Ulrich Gumbrecht in der «Neuen Zürcher Zeitung». Das Ritual vergegenwärtige die Verschiedenheit der wechselseitigen Todesbedrohungen zwischen Tier und Mensch als elementare Situation. Teilen Sie diese Ansicht?

Mariano Delgado: Die «Corrida», der Stierkampf, ist tatsächlich kein Sport, sondern ein Ritual mit religioiden Elementen: mit einem eigenen Heiligenkult, etwa wenn berühmte Toreros in der Arena sterben oder Stiere so brav kämpfen, dass sie am Ende von den Zuschauern begnadigt und zurück auf die Weide geschickt werden.

«Die Corrida ist vom Zusammenspiel zwischen Eros und Thanatos geprägt.»

Das Volk merkt sich die Namen dieser Toreros und Stiere im kollektiven Gedächtnis. Mit einer sorgsam inszenierten Liturgie, mit Einzug, Ritus, Musik und Auszug, wird alles von einem Präsidenten mit Assistenten, der dem Kampf vorsteht, überwacht.

Aber die Corrida ist meines Erachtens nicht geprägt von Tod, Todesmut oder Todesverachtung, sondern vom Zusammenspiel zwischen Eros und Thanatos (Lebens- beziehungsweise Liebens- und Todestrieb). Die Corrida in der heutigen Form ist, wenn wir von den modernen Empfindungen gegenüber dem zum Tode praktisch verurteilten Stier absehen, so etwas wie ein kommerzialisiertes Überbleibsel der alten Religion im Mittelmeerraum, etwa auf Kreta, wo wir im Knossos Bilder von Frauen sehen, die mit Stieren kämpfen beziehungsweise spielen.

In der heutigen Corrida sind es aber Männer, die dem Stier entgegentreten…

Delgado: Der Stier ist dabei natürlich das Männliche, während der Torero oder Matador, auch wenn er ein Mann ist, das Weibliche verkörpert, was man auch an seinem Auftreten sieht: Strümpfe und enge Kleidung, die runde Formen betonen, ein fast weiblicher Gang, wenn er den Stier zu sich zu lockern versucht; früher trugen die Stierkämpfer auch lange Haare zu einem Zopf zusammengeflochten, der beim Rücktritt symbolisch geschnitten und aufbewahrt wurde.

Wer sich für diese und andere religioiden Elemente interessiert genauso wie für die Bedeutung für Kunst und Kultur, kann die sogenannte Bibel der Tauromachie konsultieren, eine zwölfbändige Enzyklopädie, angefangen 1943 von José María Cossío.

Gumbrecht  ist der Ansicht, dass Massnahmen wie das Corrida-Verbots aus dem neuen Selbstbild einer Menschheit entsteht, «die Gefühle ihrer kosmischen Solidarität mit Tieren, Pflanzen und zunehmend auch Dingen entdeckt hat.» Hat diese neue, moderne Weltsicht das Ende des Stierkampfes herbeigeführt?

Delgado: Jede Epoche hat ihr Ethos oder ihren existenziellen «Sitz-im-Leben». Unsere Epoche ist von einer Humanisierung der aussermenschlichen Schöpfung gekennzeichnet, die gleichsam über analoge Menschenrechte für Pflanzen- und Tiere nachdenkt.

«Aber es kann auch übertrieben werden, wie mit dem Ruf nach einem Jagdverbot.»

Das hat gewiss viel Positives, etwa im Sinne der Bewahrung der Schöpfung und des Einschlusses aller Lebewesen in eine Kultur des Mitleids.

Aber es kann auch übertrieben werden, wenn etwa manchmal nach Jagdverbot oder etwas ähnlichem gerufen wird oder einige sogar gerne den Fleischkonsum generell unterbinden möchten.

Tickt die junge Generation von heute anders?

Delgado: Das Ende des Stierkampfes, wenn er denn wirklich kommt, hat gewiss auch damit zu tun, dass die neuen Generationen anders denken und sich für das Spektakel in der Arena schämen. Ich war – ich glaube als 20-Jähriger – ein einziges Mal in der Arena, und dies nur weil mein zehn Jahre älterer Bruder, ein begeisterter Anhänger, mich mitgenommen hat.

Aber in vielen Dörfern Spaniens ist es immer noch üblich, anlässlich des Patroziniumsfestes, zwei oder drei Tage lang junge Kampfstiere oder -kühe durch die Strassen laufen zu lassen und mit ihnen zu spielen, dies als Mutproben für die Jugend.

«Viele Spanier mögen weiterhin diese Volksfeste.»

So war und ist es noch in meinem kastilischen Dorf. Und ich habe diese Art des Stierkampfes, wo die Stiere, die man für das Fest gemietet hatte, am Ende im Schlachthaus ums Leben kamen oder zurück auf die Weide geschickt wurden, sehr gemocht.

Wie stehen die Spanier heute zu dieser Tradition?

Delgado: Viele Spanier mögen weiterhin diese Volksfeste, übrigens auch in Katalonien, wo man sonst den Stierkampf in der Arena verboten hat; eigentlich nicht aus «Liebe» zu den Tieren, sondern weil die Corrida als spanisches Nationalfest gilt, und es dort ja darum geht, alles, was spanisch ist, radikal zu unterbinden.

Also ein politisches Signal?

Delgado: Die Volksfeste mit Stieren in Südkatalonien, in den Dörfern am Ebro-Delta, haben sie nicht verboten, weil sie als traditionell katalanisch gelten, auch wenn sie letztlich genauso so spanisch sind.

Das Ende des Stierkampfes könnte darum mit einem Kulturwandel im Zuge der genannten Humanisierung zu tun haben, das Weiterbestehen aber mit dem antispanischen Affekt der Hälfte der Bevölkerung in Katalonien, die für ihr eigenes Nation-Building den Antagonismus zu Spanien konstruieren muss, und schliesslich auch mit dem Rentabilitätsverlust der Corrida, wenn viele Zuschauer fern bleiben.

Der Maler Goya hat in seiner Bilderserie «La Tauromaquia» den Stierkampf von seiner schönen und eleganten Seite her gezeigt. Urteilen die Menschen heute zu streng, wenn sie den Stierkampf als eine Abschlachtung von Tieren bezeichnen?

Delgado: Der Kulturwandel führt auch im Falle des Stierkampfes nicht nur zu Gewinnen, sondern auch zu Verlusten. Im Falle eines Verschwindens des Stierkampfes, sei es durch dessen Verbot im Schatten der bereits erwähnten Humanisierung oder durch dessen Einstellung mangels Zuschauer, wären die Verluste unter anderem diese: paradoxerweise und zuallererst der Verlust der Kampfstierrasse.

Die Kampfstiere waren ursprünglich im Mittelmeerraum verbreitet. Die heutige Form ist das Ergebnis eines langen Züchtungsprozesses, der, morphologisch gesehen, eines der schönsten Tiere auf Erden geschaffen hat.

«Es wäre ein Verlust für Kunst und Literatur.»

Für die Fleischproduktion oder die Milchproduktion sind andere Rassen ertragreicher – also würde diese schöne Rasse absterben. Das heisst, dass die Gegner des Stierkampfes nicht mit der Rettung des Stieres argumentieren können, denn das Gegenteil wäre die Folge vom Ende des Spektakels.

Hätte das Verschwinden dieser Rasse weitere Konsequenzen?

Delgado: Es wäre auch ein Verlust für das Ökosystem der Dehesas, der weitläufigen Kork-, Steineichenwälder und Wiesen mit allerlei Fauna und Flora, in denen die Kampfstiere leben. Man wäre vermutlich versucht, noch mehr Bäume zu fällen, um daraus Agrarland zu machen.

Es wäre ein kultureller Verlust für Kunst und Literatur, weil viele Maler, Musiker und Schriftsteller ausgehend vom Stierkampf grandiose Werke geschaffen haben – abgesehen davon, dass die spanische Alltagssprache von vielen Redewendungen geprägt ist, die auf die Corrida anspielen und die nun für die neuen Generationen nicht mehr verständlich wären. Und es wäre natürlich ein ökonomischer Verlust, weil tausende von Arbeitsplätzen damit zusammenhängen.

«Wir verdrängen den Tod oder verbannen ihn aus der Öffentlichkeit.»

Und wie stehen Sie persönlich zum Stierkampf?

Delgado: Ich bin weder ein Anhänger noch ein Gegner des Stierkampfes, kenne aber die Argumente von beiden Seiten. Während die einen mit diesen Verlusten argumentieren und darauf hinweisen, dass die Stiere auf der Dehesa vier Jahre lang unvergleichlich viel besser leben und gepflegt werden als alle anderen Rinder, von der Massentierhaltung ganz zu schweigen, und dass sie dafür nur die letzten zwanzig Minuten ihres Lebens in der Arena einem dramatischen Kampf mit Todesstress ausgesetzt werden… argumentieren die anderen im Wesentlichen im Geiste der erwähnten Humanisierung, ohne die Verluste zu bedenken.

Georges Bizet hat mit seiner weltberühmten Oper «Carmen» dem Stierkampf auch ein Denkmal gesetzt. In der Schlussszene ersticht Don José unter dem berauschenden Gesang der Menge, die dem Stierkampf in der Arena beiwohnt, die Zigeunerin Carmen. Hat der Stierkampf auch einen zwischenmenschlichen, sozialgesellschaftlichen Aspekt?

Delgado: Ich habe bereits von Eros und Thanatos gesprochen. Auch die Beziehung zwischen Don José und Carmen ist davon geprägt, wie übrigens allgemein die menschlichen Beziehungen, der Kampf der Geschlechter.

«Der Tod durch waghalsige Sportarten wird nicht hinterfragt.»

Wir sind heute vielleicht «zu zivilisiert», um das vordergründige Zusammenspiel von Eros und Thanatos im Stierkampf zu ertragen, nicht nur, wie Gumbrecht sagt, weil wir uns daran gewöhnt haben, den Tod zu verdrängen oder aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Auch weil wir in unserer Zeit andere Ersatzformen für dieses Zusammenspiel haben, bei denen das geflossene Blut oder der Todeskampf nicht zu sehen ist.

Diese «Ersatzformen» werden nicht immer so kritisch hinterfragt wie der Stierkampf: etwa das Töten auf Knopfdruck aus dem Boden oder der Luft, waghalsige Sportarten, manche Veranstaltungen der Unterhaltungsindustrie.


Kirche Schweiz – katholisch, aktuell, relevant

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