Tag des Judentums: «Das Neue Testament stärker mit jüdischen Augen lesen»

Der Jesuit Christian Rutishauser ist promovierter Judaist. Zum heutigen Tag des Judentums wünscht er sich, die jüdischen Elemente im Gottesdienst bewusster zu feiern. Der Beginn der Gabenbereitung solle nicht mit Musik übertönt werden.

Raphael Rauch

Zum zehnten Mal ist heute der Tag des Judentums. Er fristet ein Schattendasein – andere thematische Sonntage wie der Mediensonntag oder der Tag der Kranken haben eine grössere Resonanz.

Nicht noch ein Gedenktag

«Der Tag des Judentums ist kein weiterer Gedenktag. Es ist ein Sonntag, bei dem wir Katholikinnen und Katholiken im Gottesdienst bewusst feiern, wie stark wir mit dem Judentum verbunden sind», sagt Christian Rutishauser im Podcast «Rauchzeichen».

Der Provinzial der Schweizer Jesuiten gehört seit 2014 zur Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum – und berät Papst Franziskus in jüdischen Fragen.

Die Evangelien erzählen von der jüdisch-messianischen Bewegung

Christian Rutishauser bedauert, dass nur das Alte Testament als Brücke zum Judentum in der Liturgie gesehen werde. «Dabei besteht das Neue Testament auch aus jüdischen Geschichten», sagt Rutishauser.

«Die einzelnen Evangelien erzählen von einer jüdisch-messianischen Bewegung und noch nicht vom Christentum. Wir müssen das Neue Testament stärker mit jüdischen Augen lesen.»

Abraham soll seinen einzigen Sohn opfern

Entsprechend wichtig seien am heutigen Tag des Judentums die Lesungen. Die erste Lesung widmet sich einer Geschichte, mit der viele Menschen Mühe haben: Abraham soll seinen einzigen Sohn Isaak opfern.

«Die Geschichte wird oft falsch verstanden», sagt Rutishauser. «Eigentlich geht es nicht um die Opferung, sondern um die Bindung Abrahams zu Gott. Es geht um Loyalität.»

Eine Frage der Loyalität

Zum einen erzähle die Geschichte einen humanistischen Imperativ: nicht mehr Menschen würden geopfert, sondern nur noch Tiere.

Zum anderen gehe es um Vertrauen. «Gott fordert radikales Vertrauen», sagt Rutishauser. Der Dialog zwischen Gott und Abraham handle von Loyalität. Als Gott sieht, dass er Abraham blind vertrauen kann, verzichtet er auf die Opferung Isaaks.

Die Opferung Isaaks verweist auf Jesu Tod

Es gebe auch eine intertextuelle Verbindung zwischen der Abraham-Geschichte und der Geschichte Jesu: Die Opferung Isaaks verweise auf die Opferung Jesu am Kreuz.

Der liberale Rabbiner von St. Gallen, Tovia Ben-Chorin, schätzt den Judaisten Christian Rutishauser sehr. «Er spricht wie ein Rabbiner», sagt Ben-Chorin. Der Jude kann die Interpretation des Jesuiten nachvollziehen. Ben-Chorin warnt vor einer blinden Loyalität gegenüber Gott: «Genau zu wissen und genau zu sagen, was Gott von mir verlangt – diese Sprache habe ich verloren.»

Unterscheidung der Geister

Jesuiten lieben die Methode der Unterscheidung der Geister. Rutishauser findet, Abraham höre verschiedene Stimmen – und müsse in einem Prozess herausfinden, was tatsächlich der Geist Gottes sei. «Dazu gehört auch die Erkenntnis, zu sagen: Ich habe mich getäuscht, der Geist Gottes meint etwas anderes», sagt Rutishauser.

Das Evangelium am heutigen Tag des Judentums erzählt von der Verklärung des Herrn. Jesus führt Petrus, Jakobus und Johannes auf einen hohen Berg. Im Markus-Evangelium steht, Jesus werde vor den drei Jüngern verwandelt: «Seine Kleider wurden strahlend weiss, so weiss, wie sie auf Erden kein Bleicher machen kann. Da erschien ihnen Elija und mit ihm Mose und sie redeten mit Jesus.»

Vorgezogene Ostergeschichte

Schliesslich kam eine Wolke, die alles überschattete und übertönte: «Dieser ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.» Beim Rückweg bat Jesus die Jünger, «niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei».

Entsprechend sei die Verklärung des Herrn als «vorgezogene Ostergeschichte» zu deuten, sagt Rutishauser. «Der Dialog mit Moses und mit dem Propheten Elija zeigt: Die Offenbarung beginnt nicht mit Christus, sondern mit Abraham.»

Moses steht für die Tora, Elija für den Monotheismus

Laut Rutishauser symbolisiert der Berg «die Nähe zum Himmel, zu Gott». Anders als in der heutigen Umgangssprache gehe es bei der Verklärung nicht um Nostalgie, sondern um «Klärung, Aufklärung».

Moses sei ein Garant der Tora, Elija gelte als Verfechter des Ein-Gott-Glaubens. Jesus wird also in der Kontinuität dieser wichtigen jüdischen Figuren gesehen.

Der Katholizismus vergisst das Jüdische

Rutishauser warnt davor, Liturgie mit Katechese zu verwechseln: «Wir dürfen den Gottesdienst nicht pädagogisch überfrachten.» Liturgie sei das «Feiern von Gott selbst und von seiner Heilsgeschichte».

Umso mehr bedauert Rutishauser, dass die jüdischen Elemente in der katholischen Liturgie in Vergessenheit gerieten. Konkret denkt er an zwei Segenssprüche während der Gabenbereitung, die musikalisch übertönt werden.

Gabenbereitung beginnt mit einem jüdischen Segen

Zu Beginn der Gabenbereitung spricht der Priester «einen jüdischen Segen», sagt Rutishauser – und verweist auf diese Stelle im Messbuch:

Ginge es nach Christian Rutishauser, dann würde er die Regieanweisung «leise» in «laut» ändern: «Ich finde es schade, dass dieses jüdische Gebet oft vom Gemeindegesang oder von einem Orgelspiel übertönt wird.»

Der Gemeinde mehr Stille zumuten

Er selbst verzichte an dieser Stelle auf Musik: «Wenn ich Gottesdienst feiere, erkläre ich dem Organisten, warum ich an dieser Stelle kein Lied wünsche.» Und: «Ich finde es schade, dass man es der Gemeinde nicht zutraut, Stille auszuhalten.»

Warum ist dem Judaisten dieser Segen so wichtig? Laut Rutishauser hat Liturgie einen genauen Aufbau mit der Wandlung als Höhepunkt. Die Grundlage dafür werde am Anfang der Gabenbereitung gelegt.

Jüdischer Beginn, christlicher Höhepunkt

«Wir bringen nicht einfach nur ein Naturprodukt vor Gott, sondern mit Brot und Wein ein Produkt, das Natur und Kultur ist, also auch Produkt menschlicher Arbeit ist», sagt Rutishauser. «Das wird in Brot und Wein vor Gott gebracht, der Tisch wird bereitet.»

Im Hochgebet gehe es dann nicht mehr um Natur und Kultur, sondern um «die Hingabe Jesu in Leib und Blut». Die Gabenbereitung beginnt also jüdisch – und hat mit der christlichen Wandlung dann ihren Höhepunkt.


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https://www.kath.ch/newsd/tag-des-judentums-das-neue-testament-staerker-mit-juedischen-augen-lesen/